Publikation Geschichte - Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - Krieg / Frieden - Westeuropa Lange Linien der Gewalt

Ursachen, Deutungen und Folgen des Ersten Weltkrieges (1914 - 1918). Von der Arbeitsgruppe Zeitgeschichte und Geschichtspolitik (Hrsg.).

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September 2014

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Mehrere markante Jahrestage prägen die geschichtspolitischen Debatten in der Bundesrepublik und in Europa im Jahr 2014. Vor allem der Erste Weltkrieg erfährt unter den diversen Erinnerungsdaten ein außerordentliches Interesse in der politischen, akademischen und medialen Öffentlichkeit.

Der Beginn des Krieges vor 100 Jahren, im August 1914, bedeutete eine Zäsur der neueren Geschichte. Binnen der folgenden vier Jahre brachte der «Große Krieg», wie er etwa in Frankreich und Großbritannien heute noch genannt wird, ungeahnte Grausamkeit, Vernichtung und brutale Ausbeutung von Mensch und Umwelt hervor. Die gesamte Gesellschaft, auch die Frauen, wurden in das Kriegsgeschehen hineingezogen. Erstmals setzten die Kriegsparteien zudem Massenvernichtungsmittel ein. Mit dem Kriegsende 1918 zerfiel dann das «alte Europa» – die politische, soziale, geostrategische und ökonomische Landschaft der Welt veränderte sich grundlegend. Die gesellschaftliche Szenerie war künftig von einer deutlichen Instabilität geprägt.

Zu einem Jahrestag wie «100 Jahre Erster Weltkrieg» kann es linker Geschichtspolitik nicht um einfache Nacherzählung gehen. Vielmehr muss die Deutung der Vergangenheit in den Mittelpunkt rücken und die Frage, welche Rolle der Krieg etwa in sozialistischen, bürgerlichen und faschistischen Narrativen der Zwischenkriegszeit spielte und welche Folgen die Ereignisse für die Gesellschaft bis heute haben. Dazu bedarf es Interventionen in die neu entfachte Debatte über die Kriegsschuld Deutschlands im Jahr 1914. Vor allem seit Christopher Clarks Untersuchung «Die Schlafwandler» aus dem Jahr 2012 zur Juli-Krise und zum Kriegsausbruch ist die Frage nach den Kriegsursachen einer hoch problematischen Neubewertung unterzogen. Die Verantwortlichkeiten für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wirken dabei wie ein Zusammenspiel unglücklicher Umstände und somnambuler Akteure im Strudel unkalkulierbarer Ereignisse am Rande der Machtzentren des alten Mitteleuropa. Ebenso erforderlich sind Auseinandersetzungen mit den Spätfolgen des industrialisierten Tötens, mit Kriegsbegeisterung und Widerstand.

Darüber hinaus geht es um den Bezug zur Gegenwart. Deutschland strebt wieder nach größerem Gewicht in der Weltpolitik – erinnert zu werden an die Konsequenzen vergangener Großmachtambitionen oder ein Beharren auf antimilitaristischen Positionen scheinen dabei nur zu stören. Bei der Beurteilung aktueller Konflikte wie in der Ukraine werden zudem Stimmen laut, die auf das Handeln der europäischen Großmächte am Vorabend des Ersten Weltkrieges verweisen und die Frage stellen, ob Europa womöglich erneut in einen Weltkrieg «hineinschlittere». Geschichtspolitische Interpretationen und Standortbestimmungen – ob zur Juli-Krise von 1914, zur «Kriegsschuld» oder zu einem europäischen Friedensbewusstsein – sind daher von brennender Aktualität. Denn die zentrale Frage internationaler Politik ist berührt: Die Frage von Krieg und Frieden. Damit stellt sich zugleich mit Nachdruck die Frage nach den Anforderungen an eine zeitgemäße linke Friedenspolitik.

In Forschung und Bildungsarbeit wird der Erste Weltkrieg schon länger nicht mehr nur als «Urkatastrophe» (George F. Kennan) des vergangenen Jahrhunderts verstanden. Wenn es um die Eskalationen und Entgrenzungen politischer Gewalt im 20. Jahrhundert geht, rücken vermehrt Fragen nach den Zusammenhängen langer Linien in den Mittelpunkt – nach Kontinuitäten, Entwicklungen, Brüchen und Verschiebungen. Der Erste Weltkrieg gilt mehr und mehr als beispielloser Impulsgeber für die Einleitung weitere Entwicklung radikal nationalistischer, militaristischer und revanchistischer Überzeugungen und als Handlungsrahmen rechter Antidemokratinnen und Antidemokraten. Mentalitäten und Aktionskulturen wurden stärker als bisher von Radikalität, Gewaltbereitschaft und Nationalismen bestimmt. Im untergehenden Deutschen Reich und in der Weimarer Republik bildeten sich Kräfte mit immenser politischer Sprengkraft heraus. Die völkerrechtlichen Konsequenzen aus der Niederlage (Versailler Vertrag) und die kollektiv-emotionalen Verwerfungen («Dolchstoßlegende») sorgten in Deutschland dafür, dass sich revanchistische, chauvinistische, rassistische und antisemitische Haltungen in Teilen des deutschen Konservatismus wie im rechten Spektrum deutlich radikalisierten. Der verlorene Krieg war ein Katalysator bestehender Ideologien und Netzwerke – aber auch Wurzel neuer Zusammenhänge wie der paramilitärischen Veteranenverbände. Die republikanische Regierung bot diesen Entwicklungen zudem Raum zur Entfaltung (Kapp-Lüttwitz-Putsch, Instrumentalisierung des «Ruhrkampfes», «Schwarze Reichswehr» und Hitler-Ludendorff-Putsch). Die «Krisenjahre der klassischen Moderne» (Detlev Peukert) bildeten in der frühen Weimarer Republik den fruchtbaren Boden für faschistisches Denken und Handeln. Das «Zeitalter der Extreme» (Eric Hobsbawm) begann sich vollends zu entfalten.

Zu fragen ist auch nach den Auswirkungen des Krieges und den Entwicklungen der unmittelbaren Nachkriegszeit auf die Arbeiterbewegung und den Internationalismus. Dazu gehören Krise, Neuformulierung und Ausdifferenzierung des Fortschrittsoptimismus einerseits, die Spaltung und Reorganisation der ältesten internationalen politischen Solidaritätsgemeinschaft andererseits. Welche Politikangebote und Gesellschaftsutopien konnte sie noch formulieren, nachdem der Kampf für eine sozialistische Emanzipation auf den Altären des Patriotismus geopfert wurde? Welche Entwicklungsperspektiven und Handlungsspielräume boten sich, und wie wirkten sich die «proletarischen» Kriegserlebnisse aus? Gilt Hobsbawms Einschätzung zum Ersten Weltkrieg als «Maschine zur Brutalisierung der Welt» am Ende auch für die Arbeiterbewegung? Die gespaltene politische Linke in der Weimarer Republik beschritt mögliche Wege zu konzertierten Aktionen auf nationaler Ebene jedenfalls nicht.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat aus Anlass der 100. Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges – aber auch zu weiteren Jahrestagen wie dem Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren oder dem Umbruch in der DDR im Jahr 1989 – ein umfrangreiches geschichtspolitisches Bildungsprogramm aufgelegt: In Zusammenarbeit mit den Landesstiftungen im Bundesgebiet sowie KooperationspartnerInnen im In- und Ausland veranstaltet oder unterstützt sie Konferenzen, Seminare und Workshops, Vortragsreihen und Exkursionen sowie die Herausgabe von Publikationen. Bei der Wissensvermittlung wird auch auf unkonventionelle Formate wie die Ausstellung von Graphic Novels oder szenische Lesungen zurückgegriffen. Sichtweisen aus ganz Europa und darüber hinaus fließen dabei auch auf diesem Themenfeld in die Arbeit der Stiftung ein – deren Hauptziel es ist, Schlussfolgerungen aus der Geschichte für das Leitbild eines modernen, demokratischen Sozialismus zu ziehen.

Bernd Hüttner, Detlef Nakath, Salvador Oberhaus
Berlin, im September 2014