Publikation International / Transnational - Geschichte - Europa - Erinnerungspolitik / Antifaschismus Tragik der politischen Ungeduld.

Zum 65. Jahrestag des Ausbruchs des Warschauer Aufstands. Von Holger Politt, RLS-Büro Warschau.

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Holger Politt,

Erschienen

August 2009

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Vor fünf Jahren, genau am 1. August 2004, sagte Gerhard Schröder, der damalige Bundeskanzler, in Warschau ohne Umschweife, dieser Tag sei ein Tag der deutschen Schande. Deutsche Bundeskanzler sagen so etwas höchst selten. Der junge Gerhard Zwerenz hatte es bereits damals, im August 1944 gewusst, denn als er von der italienischen Front nach Warschau umgesetzt wurde, um den Aufstand niederzuschlagen, desertierte er. Er flüchtet vom rechten Weichselufer aus in Richtung Osten, von wo die Rote Armee unaufhaltsam auf die östliche Stadtgrenze der polnischen Hauptstadt vorrückte. Von den komplizierten politischen Umständen dieses Aufstands konnte der junge deutsche Soldat nichts wissen. Er hatte auch keine Vorstellung davon, dass die Stadt 14 Monate zuvor im Ghetto schon einmal von einem Inferno heimgesucht wurde. Aber er hatte ein Gefühl für das sich anbahnende Verbrechen, welches einen deutschen Bundeskanzler 60 Jahre später veranlasste, von einer Schandtat zu sprechen.

In der Wahrnehmung der meisten Polen ist der Warschauer Aufstand eines der zentralen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs. Wer an einem 1. August die Gelegenheit hat, in der Stadt zu sein, wird auf Schritt und Tritt die große emotionale Verbundenheit spüren, die den Aufständischen entgegengebracht wird. Die hohe Ehrerweisung gilt den Landsleuten, die ihren waghalsigen Kampf zumeist mit dem Leben bezahlen mussten. In den vielen Jahrzehnten, die seit dem Aufstand ins Land gegangen sind, stiegen sie im öffentlichen Bild in den Rang untadeliger Nationalhelden auf, die in der besten Tradition polnischer Unabhängigkeitskämpfe des 18. und 19. Jahrhundert stehen. Staatspräsident Lech Kaczyński knüpft an dieses Bild an, wenn er meint, der Aufstand sei Polens größter Beitrag im Zweiten Weltkrieg gewesen. Die Aufständischen, so sein knappes Fazit, hätten an entscheidender Front für ein freies Polen gekämpft. Dass aber zu keiner Zeit eine realistische Aussicht auf einen militärischen oder politischen Erfolg bestanden hatte, wird dabei nicht erwähnt. Es zählt vor allem das moralische Beispiel, der aufopfernde Heldenmut der vielen jungen Aufständischen, die sich dem brutalsten Okkupanten, den die Stadt jemals in ihrer Geschichte gesehen hat, mit tausendfach unterlegenen militärischen Mitteln offen entgegenstellten. Ihr legitimes Ziel war die Befreiung der Stadt von der deutschen Besetzung.

Die USA und Großbritannien, die nach der Konferenz in Teheran mit der UdSSR im Bunde bereits eine europäische Nachkriegsordnung zu zimmern begannen, ließen Polens Exilregierung in London vorher über diplomatische Kanäle wissen, dass sie einem Aufstand dieser Größenordnung wegen der ins Auge fallenden militärischen Unterlegenheit keinen politischen Nutzen abringen könnten. Die Westalliierten hegten im Sommer 1944 die stille Hoffnung, dass Warschau aus- und stillhalten würde. Ein in vieler Hinsicht aussichtsloser Waffengang gegen die Deutschen lag nicht in ihrem Interesse. Sie wollten das widerständige Warschau, den treuen Verbündeten, der seine politischen Sympathien fest auf die Westalliierten ausrichtete, nicht in letzter Stunde geopfert sehen.

In Warschau wurde in den Julitagen des Jahres 1944 jedoch anders entschieden. Die Führungsspitze der Armia Krajowa (AK), die im Untergrund über ein dichtes und verzweigtes Netzwerk des Widerstands verfügte, empfahl der Londoner Exilregierung, den Aufstand in der besetzten Hauptstadt zu wagen, auch wenn um das hohe Risiko gewusst wurde, welches sich aus dem eklatanten Missverhältnis zwischen dem nominellen Mannschaftsbestand – die AK verfügte im Aufstandsgebiet über mehrere zehntausend Soldaten, und der höchst unzureichenden Bewaffnung ergab. Die Führung des Aufstands rechnete vor allem mit dem menschlichen Faktor, mit dem persönlichen Mut der Menschen, die seit Jahren auf den Moment der Abrechnung mit den Okkupanten warteten. Diese vage Hoffnung gab den Ausschlag für eine Entscheidung, die zu den tragischen in der Geschichte des Landes gezählt werden muss.

Auf polnischer Seite wurden nach dem Ende der Kämpfe im Oktober 1944 über 200 000 Todesopfer gezählt. Wird die hohe Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung berücksichtigt – alleine über 180 000, kann gut ermessen werden, mit welchen brutalen Mitteln die Niederwerfung des Aufstands durch die deutsche Seite erfolgte. Im Ergebnis ihres Sieges zerstörten die Okkupanten ab Oktober 1944 Warschaus Innenstadt, versuchten, Polens Hauptstadt endgültig von der Landkarte zu tilgen. Die überlebenden Warschauer, etwa eine halbe Million Menschen, mussten die Stadt verlassen und wurden an verschiedenen Orten interniert. Als die Rote Armee im Januar 1945 die deutschen Soldaten aus Warschau vertrieb, fand sie auf der linken Weichselseite eine menschenleere Stadt und ein schier endloses Trümmerfeld vor. In Kapitulationsverhandlungen gelang es der AK-Führung, für die am Leben gebliebenen Aufständischen den Status von Soldaten einer regulären Armee auszuhandeln, so dass sie in die Kriegsgefangenschaft kamen. An die Abmachung, die am Leben gebliebenen Zivilisten in der Stadt zu belassen, hielten die Deutschen sich nicht.

Wenn Historiker heute auf dieses Ereignis zurückschauen, kommen sie nicht umhin, die Tatsache festzuhalten, dass der Warschauer Aufstand den Krieg in Europa um keinen einzigen Tag verkürzt, der deutschen Seite vergleichsweise nur geringfügigen materiellen und zahlenmäßigen Schaden zugefügt hat. Es trat im Ergebnis das ein, was die westlichen Alliierten insgeheim befürchteten. Die Niederlage des Aufstands besiegelte das faktische Ende der AK als einer wichtigen politischen Kraft, das Ende einer Untergrundstruktur, die im besetzten Europa ihres gleichen zu suchen hatte. Sie besiegelte das Ende aller Träume des Londoner Lagers, nach dem Krieg in territorialer, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht an das Vorkriegspolen anknüpfen zu können. Der heimliche Sieger hieß Stalin, der von nun an kaum noch übertriebene Rücksicht auf das bürgerliche, das westliche Polen zu nehmen brauchte. Für ihn zählten in Polen von nun an immer mehr die Kommunisten, die in den dreißiger Jahren seinem die Kommunistische Partei Polens eiskalt vernichtenden Terror entkamen waren und nun zu den Gründungsvätern der Volksrepublik Polen werden mussten und schließlich wurden.

Oberflächlich betrachtet könnte der Opfergang der Warschauer als bloße Fortsetzung der Aufstandstradition des 19. Jahrhunderts verstanden werden, in deren Kontext Polens beste Köpfe ihrem Volk in tiefer Verzweiflung über die empfindlichen und deprimierenden Niederlagen die Rolle eines Christus der Nationen zuschrieben, welcher, sich opfernd, die anderen rettete. Berühmt wurde die Losung „Für unsere und eure Freiheit“. Näher betrachtet wird aber der Anfang des Zweiten Weltkriegs zum besseren Schlüssel für das Verständnis.

Im September 1939 wurde das Land nach Beschlusslage eines teuflischen Paktes zwischen Hitler und Stalin aufgeteilt. Zu Grabe getragen wurde das Versailler System und Polen als dessen Symbol. Die damaligen und späteren sowjetischen Erklärungen, wonach der Westen sein eigenes Nachkriegssystem bereits mit dem Münchener Abkommen von 1938 abgerissen habe, im September 1939 im Osten Polens somit lediglich den eigenen legitimen Schutzbedürfnisse nachgekommen worden sei, sprachen immer nur einen Teil der historischen Wahrheit aus. Bei den Siegesfeiern an der zwischen den beiden Diktatoren vereinbarten Demarkationslinie, die mitten durch das damalige Polen verlief, wurde gemeinsam das Ende des Bastards von Versailles begrüßt. Stalin übersah sträflich, dass es Hitler bereits um viel weiter gefasste Ziele ging. Sein blindmachender Hass auf die westlichen Demokratien und auf das bürgerliche Polen brach ihm und seinem Land fast das Genick, da er sich zum Partner einen Bluthund auserkor, der es auf Europas Osten in ganz besonderer, brutaler Weise abgesehen hatte.

Polen war im September 1939 im Unterschied zu heute territorial eher ein Land Osteuropas. Die Landesgrenzen verliefen im Schnitt 300 Kilometer weiter östlich. Nur wenige Polen begriffen nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941, dass von nun an im Kampf gegen Hitler eine neue Zeitrechnung begann. In den Augen vieler überfiel einfach der eine Okkupant den anderen. Den meisten fiel es ganz einfach schwer, in der Roten Armee nun eine Kraft zu sehen, die zu einem ganz entscheidenden Element im Befreiungskampf Europas vom faschistischen Joch aufsteigen wird. Einer der noch wenigen war der im US-amerikanischen Exil weilende Wirtschaftswissenschaftler und Sozialist Oskar Lange, der als Mitglied der PPS seinen in London weilenden Parteifreunden im Winter 1941/42 mitteilte, dass die Hoffnungen auf eine Befreiung Polens von nun an im großen Maße an einen Sieg der Sowjetunion im Krieg gegen Deutschland gebunden seien. Welche komplizierten Konsequenzen für das Land damit eingeschlossen sein werden, war ihm bewusst. Kein zweites Land auf Seiten der späteren Sieger erlebte im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg eine derartig einschneidende Verschiebung des eigenen Territoriums, die bereits als solche für mehrere Millionen Menschen eine totale und damit schmerzhafte Umstülpung aller bisherigen Lebensverhältnisse bedeutete.

Das Londoner Lager der Polen, welches an der Themse über die Exilregierung und an der Weichsel über einen sehr gut organisierten, kampferfahrenen und verlässlichen Untergrund verfügte, entschied anders, entschied gegen die sich nach den Teheran-Gesprächen allmählich abzeichnende neue geopolitische Situation im östlichen Teil Europas. Insofern war der Warschauer Aufstand, auch wenn er sich militärisch ausschließlich gegen die deutsche Besatzung richtete, eine nicht zu übersehende Aufwallung gegen die drohende Aufteilung Europas in unterschiedliche Einflusssphären, die später nach Jalta konkrete Gestalt anzunehmen begann, ein letzter Aufschrei jener Republik, die im September 1939 unterging und deren übriggebliebenen Vertreter nun auf das Recht pochten, diese nach dem Krieg wiedererrichten zu können. Das sich befreiende und befreite Europa begann seine Nachkriegskonstruktion allerdings nicht mehr nach dem im Zweiten Weltkrieg endgültig versunkenen Versailler System auszurichten, sondern einigte sich entsprechend neuer Kräfteverhältnisse unter den Siegermächten auf andere Koordinaten. Das Londoner Lager der Polen verlor in dieser Hinsicht im Sommer und Herbst 1944 an der Weichsel den politischen und diplomatischen Anschluss.

Kritiker des Warschauer Aufstands, wie es sie unter polnischen Historikern nicht wenige gibt, verweisen immer wieder auf diese Aspekte. Eine wichtige gesellschaftliche und politische Kraft des Landes stellte sich mit dem riskanten Unternehmen des Aufstands ins Abseits, spielte danach, wenn es um die Geschicke des Landes ging, eine immer geringer werdende Rolle. Im Laufe der kommenden Jahre wurden die Reste des Londoner Lagers immer mehr an den Rand gedrückt, wichen der neuen gesellschaftlichen und politischen Ordnung, die sich im Namen Volksrepublik Polen symbolisierte.

In geopolitischer Hinsicht war die Volksrepublik, deren offizielle Geburtsstunde später auf den 22. Juli 1944, also vor den Aufstand zurückdatiert wurde, ein Kind des in Jalta zwischen den drei entscheidenden Großmächten allgemein akzeptierten Nachkriegssystems, damit also der Gegenentwurf zum Vorkriegspolen. Auf die Welt kam dieses Kind aber bereits vorher, im Moment der Niederlage des Warschauer Aufstands, weshalb bis heute von entsprechender politischer Seite immer wieder versucht wird, die Volksrepublik vor allem als moralisch fragwürdigen Nutznießer der Niederlage der Aufständischen hinzustellen. Eingeschlossen darin ist die Behauptung, die Rote Armee, die Mitte August 1944 das rechte Weichselufer der polnischen Hauptstadt erreicht hatte, wäre in der Lage gewesen, den Aufständischen militärisch beizustehen und den Aufstand zu retten. Stattdessen habe sie tatenlos zugesehen und eine politische Situation geerntet, die den Nachkriegspläne Moskaus sehr entgegengekommen sei. In der Tat, der Ausgang des Aufstands war auch ein politischer Sieg Stalins. Vergessen wird dabei nur, dass die Entscheidung, auf eigene Faust gegen den zu diesem Zeitpunkt zwar angeschlagenen, militärisch aber immer noch mächtigen und kreuzgefährlichen Feind loszuschlagen, alleine in Warschau gefällt wurde. Niemand aus Moskau drängte dazu. Wie gefährlich der Gegner noch war, zeigte sich vom Januar bis Mai 1945, als die Rote Armee und die mit ihr verbündete Polnische Volksarmee auf dem Weg von der Weichsel bis an die Spree Hunderttausende Soldaten verlor.

 

Der Autor Holger Politt ist Leiter des Warschauer Büros der RLS.

 

Veranstaltungshinweis:
»65. Jahrestag des Warschauer Aufstandes«. Eröffnung der Ausstellung und Veranstaltungsreihe interner Link folgtmehr