Aktuelle Nachrichten https://www.rosalux.de/ Hier finden Sie unsere aktuellen Nachrichten. de Copyright Fri, 28 Mar 2025 17:24:57 +0100 Fri, 28 Mar 2025 17:24:57 +0100 TYPO3 Aktuelle Nachrichten https://www.rosalux.de/fileadmin/sys/resources/images/dist/logos/logo_rss.jpg https://www.rosalux.de/ 144 109 Hier finden Sie unsere aktuellen Nachrichten. news-53263 Wed, 26 Mar 2025 16:27:58 +0100 Libanon: Auferstanden aus Ruinen? https://www.rosalux.de/news/id/53263 Die libanesische Gesellschaft hofft auf einen politischen Aufbruch Seit Jahren gilt der Libanon als «failed state», als gescheiterter Staat. Und die von Kriegen und Krisen, Korruption und Katastrophen geprägte Realität scheint diese Annahme zu bestätigen.

Zuletzt keimt in der krisenmüden Gesellschaft jedoch Hoffnung auf, seit Ende November ein Waffenstillstandsabkommen den Krieg mit Israel beendete und nach Jahren der Lähmung ein neuer Präsident und Premierminister gewählt wurden. Steht das kleine, multikonfessionelle Land also vor dem Abgrund oder vor einem Aufbruch?

Von der Unabhängigkeit zum konfessionellen Proporz

Seine Unabhängigkeit erlangte der unter französischer Kolonialherrschaft entstandene libanesische Staat 1943. Einflussreiche Vertreter der von Frankreich privilegierten christlichen Maroniten sicherten ihrer Konfession in einem «Nationalpakt» mit Vertretern muslimischer Konfessionen die politische Vorherrschaft. Dabei wurde politische Repräsentation und Macht entlang konfessioneller Linien vergeben, proportional zu den tendenziösen Ergebnissen des einzigen je durchgeführten Zensus, der der christlichen Bevölkerung eine Mehrheit im Parlament sicherte. Die Maroniten stellten den Präsidenten, die Sunniten den Premierminister und die Schiiten den Parlamentspräsidenten. Dieses konfessionelle Proporzsystem charakterisiert das Land bis heute.

Corinna Bender ist Leiterin des Auslandsbüros der Stiftung in Beirut.

Jan Altaner ist Doktorand an der Universität Cambridge und Doctoral Fellow am Orient-Institut Beirut. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Libanons und Westasiens im 20. Jahrhundert.

Nach Erlangung der Unabhängigkeit verfolgte Libanon eine ultraliberale Wirtschaftspolitik, Beirut zog Milliarden Petrodollars an und expandierte zum führenden Banken-, Handels- und Dienstleistungszentrum der Region. Zugleich blieben die quasifeudalen Verhältnisse in der Politik bestehen; eine kleine Oligarchie eng verbundener Familien dominierte nahezu alle Wirtschaftsbereiche. Der Wohlstand beschränkte sich auf die Ober- und Mittelschicht in Beirut und den angrenzenden, christlich dominierten Bergregionen, während die schiitische Bevölkerung, rund ein Drittel aller Staatsbürger*innen, überwiegend arm und marginalisiert blieb. Diese Ungleichheiten kulminierten, verknüpft mit Konflikten um die geopolitische Ausrichtung des Landes, 1958 in einen dreimonatigen Bürgerkrieg, der – nach der ersten US-Militärintervention im arabischen Raum – mit der Ernennung des Armeegenerals Fuad Shihab zum Präsidenten endete.

Shihab veranlasste die Stärkung staatlicher Institutionen und umfassende Reformen für einen sozioökonomischen Ausgleich, besonders durch Infrastrukturmaßnahmen in den Peripherien. Doch diese Reformbestrebungen scheiterten am Widerstand der etablierten Eliten, die ihre Pfründen und das nepotistische System erfolgreich verteidigten.

Zusätzlich politisierte und radikalisierte die arabische Niederlage im Sechstagekrieg 1967 die Öffentlichkeit – gerade in Beirut, dem damaligen Zentrum politischer Bewegungen, Dissident*innen und Künstler*innen der arabischen Welt. Die progressiven Kräfte solidarisierten sich mit dem Freiheitskampf der Palästinenser*innen, von denen Hunderttausende in libanesischen Flüchtlingslagern lebten. Konservative christliche Gruppen hingegen sahen in deren Anwesenheit – und in den palästinensischen Guerillas, deren bewaffnete Operationen gegen Israel das staatlichen Gewaltmonopol unterliefen – eine Gefahr für das (sie selbst bevorzugende) politische System.

Bürgerkrieg und Nachkriegsordnung

Die wachsende politische Polarisierung mündete 1975 erneut in einen Bürgerkrieg. Dabei gelang alten Eliten wie neuen Warlords eine Konfessionalisierung des Konflikts, nicht zuletzt durch Massaker an andersgläubigen Zivilist*innen. Syrien und Israel begannen in dieser Zeit weite Landesteile für Jahrzehnte zu besetzen.

Erst das 1990 von Saudi-Arabien vermittelte Taif-Abkommen beendete den fünfzehnjährigen Bürgerkrieg, der rund 100.000 Tote und 900.000 Vertriebene hinterließ. Das Abkommen vereinbarte eine parlamentarische Parität christlicher und muslimischer Abgeordneter, die vage Absicht, den politischen Konfessionalismus schrittweise abzuschaffen, und die Entwaffnung aller Milizen mit Ausnahme der gegen Israels anhaltende Besatzung Südlibanons kämpfenden Hisbollah.

In der Parlamentswahl 2026 könnte der Schlüssel für den herbeigesehnten Wandel liegen. Denn die Bevölkerung ist der innenpolitischen Blockaden ebenso überdrüssig wie der andauernden Interventionen von außen. Und sie ist zugleich in hohem Maße politisiert und mobilisierbar.

Doch die politische Elite, der durch ein Amnestiegesetz der straflose Übergang in die Nachkriegszeit gelang, hatte nie vor, den Konfessionalismus tatsächlich abzuschaffen. Im Gegenteil: Sie nutzte die vom milliardenschweren Unternehmer und späteren Premierminister Rafiq al-Hariri angestoßene neoliberale Agenda, um den Staat gemeinsam auszuplündern und das konfessionalistische und neofeudale System zu festigen.

Hisbollahs militärischer Widerstand zwang Israel im Jahr 2000, die Besetzung des Südlibanon zu beenden, was der mit Syrien und Iran verbündeten schiitischen Partei und Miliz einen großen Zuwachs an Popularität und Einfluss verschaffte.

2005 löste die Ermordung Rafiq al-Hariris Massenproteste aus, die zum Ende der syrischen Besatzung des Landes führten. Diese «Zedernrevolution» zog aber auch die Spaltung der politischen Klasse in ein pro-westliches und ein pro-iranisches Lager («Achse des Widerstands») nach sich, was zur Paralyse des auf Konsensfindung beruhenden politischen Systems führte. Im Ergebnis wurde die korrupte Selbstbereicherung zum kleinsten gemeinsamen Nenner der Eliten, während die Bevölkerung immer stärker unter der Misswirtschaft litt.

Massenproteste und Staatszerfall

2019 flammten erneut konfessionsübergreifende Massenproteste gegen das Regime auf. Doch den Eliten gelang es auch diesmal, Reformen zu verschleppen und das Momentum der Proteste zu brechen. Zeitgleich verursachten ihre korrupten Finanzpraktiken eine massive Wirtschafts- und Finanzkrise, in deren Verlauf die Inflation die Mittelschicht pulverisierte und der bankrotte Staat selbst die Grundversorgung nicht mehr gewährleisten konnte. Drei Viertel der Bevölkerung rutschten unter die Armutsgrenze. Die Explosion im Beiruter Hafen 2020 verheerte die Hauptstadt zusätzlich.

Der jüngste Krieg zwischen Hisbollah und Israel spitzte die Situation weiter zu. Kurz nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 eröffnete die schiitische Miliz durch begrenzten Beschuss des israelischen Nordens eine zweite Front. Der Konflikt blieb überwiegend auf die Grenzregion beschränkt, bis im September 2024 Israels «Pager-Angriffe» sowie die folgenden Luftangriffe und der erneute Einmarsch der israelischen Streitkräfte den Krieg im gesamten Land eskalierten. Dabei wurde ein Großteil der Führungsriege der Hisbollah, darunter ihr Generalsekretär Hassan Nasrallah, sowie hunderte Zivilist*innen getötet. Massiv geschwächt, stimmte die Miliz im November 2024 einem Waffenstillstand zu.

Das Abkommen fußt auf UN-Resolution 1701 und umfasst die Einrichtung einer Pufferzone, aus der die Hisbollah-Miliz sich zurückziehen muss, sowie den Abzug der israelischen Streitkräfte. Die libanesische Armee und die Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon (UNIFIL) sollen die Waffenruhe gewährleisten, ein internationales Komitee soll deren Umsetzung überwachen. Dringend benötigte internationale Finanzhilfen sind dabei an die Wiederherstellung des libanesischen Gewaltmonopols und damit die Entwaffnung der Hisbollah geknüpft.

Trotz des Abkommens greift Israel weiterhin jeden Tag Ziele im Libanon an. Auch ein vollständiges Ende der Besatzung Südlibanons lehnt die Netanjahu-Regierung ab.

Abbruch oder Aufbruch?

Dennoch befinden sich seit dem Abkommen weite Teile der libanesischen Gesellschaft in Aufbruchsstimmung. Diese wurde dadurch beflügelt, dass sich die Parlamentarier*innen nach Jahren politischer Blockaden auf die Wahl des ehemaligen Armeechefs Joseph Aoun zum neuen Präsidenten und des ehemaligen Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs Nawaf Salam zum neuen Premierminister einigten.

Die neue Regierung muss nun möglichst viele Kräfte hinter sich versammeln, um grundlegende Reformen durchzusetzen. Die USA und Saudi-Arabien, deren Druck die Präsidentenwahl erst ermöglichte und von deren Unterstützung Libanon finanziell abhängig ist, drängen – wie auch Israel – darauf, Iran und Hisbollah zu marginalisieren. Doch als größte Vertreter der schiitischen Bevölkerung sind Hisbollah und die mit ihr verbündete Amal-Bewegung politisch zu bedeutsam, als dass sie einfach isoliert oder ignoriert werden könnten. Mittlerweile wird indes ihre Rolle und Verantwortung viel offener diskutiert – auch innerhalb der Hisbollah selbst, die sich nach ihrer militärischen Niederlage neu erfinden muss.

Die Zivilgesellschaft fordert derweil ein Ende der israelischen Besatzung, den landesweiten Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur, eine gerechtere Verteilung der Lasten der Finanzkrise, die juristische Aufarbeitung der Hafenexplosion und eine Reform des politischen Konfessionalismus. Letztere umfasst ein säkulares Modell, das auf gleichen Bürger- und Stimmrechten, einer unabhängigen Justiz und der Bekämpfung des Klientelismus beruht. Diese Forderungen umzusetzen, dürfte Salams Regierung angesichts der zunehmenden globalen Missachtung des Völkerrechts, der Kürzung von Entwicklungsgeldern und des Widerstands lokaler Eliten nicht leichtfallen.

So befindet sich Libanon wieder einmal am Scheideweg. In der Vergangenheit scheiterte die Durchsetzung einer gerechteren Gesellschaftsordnung immer wieder an vier strukturellen Kontinuitäten: der hartnäckigen Verteidigung der Interessen der Eliten, der Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung, der ausländischen Einflussnahme und der Aufrechterhaltung des konfessionalistischen politischen Systems. Inwiefern es der neuen Regierung und der Zivilgesellschaft gelingen wird, den Gordischen Knoten dieser Herausforderungen zu lösen, ist ebenso offen wie der Ausgang der für Mai 2026 angesetzten Parlamentswahl.

In dieser Wahl aber könnte der Schlüssel für den herbeigesehnten Wandel liegen. Denn die Bevölkerung ist der innenpolitischen Blockaden ebenso überdrüssig wie der andauernden Interventionen von außen. Und sie ist zugleich in hohem Maße politisiert und mobilisierbar – nun gilt es, dieses Momentum für glaubhafte Reformen und den Abbau des konfessionellen Systems zu nutzen.

Eine erfolgreiche Umsetzung dieser Schritte hat zwei Voraussetzungen: Zum einen muss die internationale Gemeinschaft äußere Einmischungen in die libanesische Politik endlich unterbinden und glaubhaft die territoriale Integrität Libanons gewährleisten. Und zum anderen muss die libanesische Regierung ein realistisches Reformprogramm entwickeln, das von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Nur dann kann ein Politikwechsel im Libanon gelingen.

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news-53243 Tue, 25 Mar 2025 10:07:20 +0100 Monitoring: Ein wichtiges Instrument des antifaschistischen Widerstands https://www.rosalux.de/news/id/53243 Björn Ihler erklärt, warum und wie das Sammeln von Daten über die extreme Rechte von entscheidender Bedeutung ist, um deren Aufstieg zu bekämpfen.

Das Sammeln von Beweisen ist entscheidend: Es gilt, ihre Organisationen, Projekte, sozialen Medien, Websites, Printmedien, Sitzungen und Veranstaltungen zu dokumentieren. Gute Notizen sind wichtig, ebenso wie Screenshots von allem, denn es lässt sich nie vorhersagen, was sich später als nützlich erweisen wird.


—Spencer Sunshine, 40 Ways to Fight Fascists

Wissen ist Macht. Um eine Bedrohung zu bekämpfen und zu unterminieren, muss zunächst ihr Wesen verstanden werden, d. h. ihr Ursprung und ihr Weg. Dies gilt insbesondere, wenn es darum geht, gesellschaftlichen Kräften entgegenzutreten, die versuchen, eine autoritäre Herrschaft durchzusetzen, Grundrechte zu verweigern oder zur Faschisierung beitragen.

Bjørn Ihler ist geschäftsführender Direktor und Mitbegründer des Khalifa-Ihler-Instituts. Er ist ein international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Prävention einer Radikalisierung hin zu einem gewalttätigen Extremismus. Grundlage seiner Arbeit sind Maßnahmen zur Förderung gesünderer Gemeinschaften im Internet und darüber hinaus.

Forschungen zu flächendeckenden Beobachtungen von rechtsextremen Gruppen waren schon immer Schlüsselelemente des antifaschistischen Aktivismus. Umfangreiches und möglichst lückenloses Monitoring hat zu wirksamen Widerstandsstrategien gegen vor allem lokale rechtsextreme Organisationen geführt. Forschung und Monitoring haben zu kreativen Kampagnen beigetragen, um die Organisation von faschistischen und neonazistischen Veranstaltungen und Aufmärschen zu untergraben. Zudem haben sie auch Gegenaktionen angeregt, die verschiedene Gemeinschaften in ihrem Widerstand gegen faschistische Aktivitäten zusammenbringen.

Meine Arbeit zur Vorbeugung und Bekämpfung des Rechtsextremismus beruht zu einem großen Teil auf Beobachtungsmaßnahmen. Dazu gehören unsere von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützte Initiative Antifascist Europe und die Bemühungen des Khalifa-Ihler-Instituts im Rahmen der Global Hate Map, die in diesem Frühjahr neu aufgelegt wird.

Kartierungen und Untersuchungen rechtsextremer Netzwerke, die von meiner Spionageabwehrfirma Revontulet durchgeführt wurden, haben auch zu bedeutenden Maßnahmen seitens des privaten Sektors, der Strafverfolgungsbehörden und zivilgesellschaftlicher Organisationen beigetragen. Unsere Arbeit hat mitgeholfen, Terroranschläge zu verhindern, die Verbreitung faschistischer, neonazistischer und rechtsextremer Propaganda einzuschränken und Online-Gruppen und Netzwerke zu zerschlagen, die neue Mitglieder für rechtsextreme Gruppen rekrutieren.

Monitoring hat viele Formen und dient unterschiedlichen Zwecken. Jede diesbezügliche Strategie hängt unweigerlich von dem gewünschten Ergebnis und den spezifischen Details der Zielgruppe ab. Bei der Durchführung solcher Arbeiten ist es wichtig, die örtlichen Datenschutzgesetze, die ethischen Erwägungen der beteiligten Organisationen (z.B. akademische Einrichtungen und Stiftungen), sowie die operative Sicherheit für alle Beteiligten, Kolleg:innen und Verbündete zu berücksichtigen.

Warum Monitoring?

Ursprünglich habe ich mit meiner Monitoringarbeit begonnen, um die internationalen Verbindungen von rechtsextremen Terroristen besser zu verstehen. Bei der Betrachtung von Fällen aus der ganzen Welt wurde deutlich, dass diese Terroristen — weiße Täter mit Ideologien, die im klassischen Faschismus, Neonazismus, weißer Vorherrschaft und Islamophobie verwurzelt sind — in Europa, Nordamerika und Ozeanien größtenteils nicht wegen Terrorismus belangt wurden. Dagegen wurden Täter, die in Europa Anschläge verübten und deren ideologische Wurzeln im islamistischen Extremismus oder in familiären Beziehungen in Nordafrika oder im Nahen Osten lagen (die oft über Generationen zurückreichen), routinemäßig als Terroristen bezeichnet und verfolgt. Als Verfechter der Maxime, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind empfand ich die Tatsache, dass einige ideologisch motivierte Täter als Terroristen verfolgt wurden, andere hingegen nicht als große Ungerechtigkeit.

Die Strategien für jede Monitoringmaßnahme müssen sich an den Zielen und dem Umfang des Monitorings sowie an den zur Verfügung stehenden Ressourcen orientieren.

Nach Rücksprache mit Rechtsexperten wurde deutlich, dass der Grund für die Ungleichheit bei der Strafverfolgung darin lag, dass die Terrorismusgesetze in vielen Ländern den Inlandsterrorismus nicht berücksichtigten. Um Taten als Terrorismus zu verfolgen, mussten sich die Staatsanwälte daher auf die Fähigkeit der Ermittler stützen, «internationale Verbindungen» nachzuweisen und zu belegen, dass die Täter auf sinnvolle Weise Teil globaler Netzwerke waren. Bei Anschlägen, zu denen sich der so genannte Islamische Staat oder Al-Qaida bekannte, war dies einfach, bei Anschlägen, die von Einzelpersonen verübt wurden, die häufig (und in der Regel fälschlicherweise) als «einsame Wölfe» bezeichnet wurden, jedoch schwieriger.

So begab ich mich auf die Suche nach jenen internationalen Netzwerken, deren Teil diese «einsamen Wölfe» in Wirklichkeit Teil waren; ich begann Informationen darüber zu sammeln, wie sie sich gegenseitig zu ihren Aktionen inspirierten und ihre Aktivitäten koordinierten. Mein Ziel war es, sowohl die Strafverfolgung zu unterstützen als auch die öffentliche Wahrnehmung dieser Täter weg von der individualisierenden «einsamer Wolf»-Theorie hin zu den Mitgliedern umfassender Netzwerke, die sie tatsächlich sind, zu verändern. Dieses Ziel bildete die Grundlage für unsere Bemühungen, mithilfe der Global Hate Map und Antifascist Europe die transnationalen rechtsextremen Netzwerke auf dem gesamten europäischen Kontinent zu verstehen.

Antifascist Europe

Dieses Ziel lag auch von Beginn an der Konzeption von Antifascist Europe zugrunde, das eine gesamteuropäische Perspektive einnimmt und versucht, nationale rechtsextreme und faschistische Akteure in der internationalen, insbesondere europäischen politischen Landschaft einzuordnen.

Es gibt viele Formen der Beobachtung, und die Ziele sind unterschiedlich. Die Konzeption einer guten Beobachtungsmaßnahme hängt von den allgemeinen Zielen und Vorgaben ab. Wenn das Ziel darin besteht, die Aktivitäten lokaler Neonazi-Kundgebungen zu dokumentieren, um Gegenproteste durchzuführen, erfordert dies einen anderen Ansatz als das, was wir bei unseren Bemühungen um ein Verständnis transnationaler Netzwerke verfolgt haben.

Da wir versuchen, transnationale Netzwerke zu beobachten, lag der Schwerpunkt unserer Bemühungen im Rahmen von Antifascist Europe auf der Dokumentation größerer Veranstaltungen und Treffen, die internationale Unterstützer anziehen. Dies hat es uns ermöglicht, die engen Beziehungen zwischen verschiedenen Akteuren der europäischen extremen Rechten besser zu verstehen, wie sie trotz ihrer nationalistischen Ziele als transnationale Akteure agieren.

Lokale Sprach- und Kulturkenntnisse stellen eine große Herausforderung für internationale Monitoringmaßnahmen dar. Für die Durchführung unseres transnationalen Monitorings sind wir daher auf ein breites Netzwerk von Personen mit lokalem Fachwissen angewiesen. Bei der Konzeption unseres Projekts haben wir uns daher weitgehend auf die Koordinierung von Monitoring auf nationaler und regionaler Ebene und die Standardisierung der Informationserfassung konzentriert, um eine effektive Kommunikation der Ergebnisse, Datenvisualisierungen usw. zu ermöglichen.

Über die Strafverfolgung hinaus ist unsere Beobachtung zu einem zentralen Element für das Verständnis der Wahlpolitik, der internationalen Einflussnahme und der Intrigen der parlamentarischen Versammlungen auf nationaler und europäischer Ebene geworden. So hat sich auch das Ziel unseres Monitorings seit Beginn des Projekts weiterentwickelt.

Beim Monitoring ist es daher wichtig zu wissen, welche Ziele verfolgt werden sollen. Das Schlüsselelement ist ein gemeinsames Verständnis darüber, wofür und von wem die gesammelten Informationen verwendet werden sollen. Dies ist wichtig für die Gestaltung des Ansatzes, des Schwerpunkts und der Nachweise, auf die sich die Aufmerksamkeit richten sollte.

Wichtig ist auch eine gewisse Anpassungsfähigkeit, die intellektuelle Bereitschaft, sich von den Informationen leiten zu lassen, den teilweise dynamischen Entwicklungen der spezifischen politischen Landschaft nachzuspüren damit bestenfalls auch neue, zu Beginn möglicher Weise unbekannte Interessengruppen Nutzen aus der Dokumentation ziehen können.

Strategisch denken, umsichtig handeln

Die Strategien für jede Monitoringmaßnahme müssen sich an den Zielen und dem Umfang des Monitorings sowie an den zur Verfügung stehenden Ressourcen orientieren. Bei der Hate Map liegt unser Schwerpunkt auf Offline-Veranstaltungen. Das erfordert eine andere Herangehensweise als die Arbeit von Antifascist Europe, die sich auf die Dokumentation transnationaler Netzwerke in Europa konzentriert, hauptsächlich durch die Linse klassischer Versammlungen und -Veranstaltungen. Unsere Arbeit bei Revontulet konzentriert sich hingegen weitgehend auf die Beobachtung von Online-Netzwerken und deren Beziehung zu Online-Aktivitäten und -Netzwerken. Jede dieser Bemühungen ist mit unterschiedlichen Ressourcen, Netzwerken, Freiwilligen, Ermittler:innen und Organisationen verbunden, was zu unterschiedlichen Ansätzen und Ergebnissen führt.

Die Beobachtung der Aktivitäten einer lokalen Neonazi-Gruppe, die Dokumentation ihrer Aktivitäten, ihres Vandalismus, ihrer Gewalt und ihrer Einschüchterungsversuche erfordert physische Präsenz. In den organisierten antifaschistischen Netzwerken gibt es eine lange Tradition der Dokumentation von Neonazi-Kundgebungen, Graffitis und Aufklebern sowie deren Beseitigung. Solche Bemühungen sind von entscheidender Bedeutung wenn es darum geht, Menschen für die Verbreitung rechtsextremer Hetze zur Rechenschaft zu ziehen und zu zeigen, dass Faschist:innen und Neonazis in unserer Gesellschaft unerwünscht sind.

Während langfristige Ziele und eine strategische Positionierung hilfreich sind, um Proteste und Kundgebungen auf der Straße zu dokumentieren, kann auch die Dokumentation von Provokationen und Gewalt, die mit Handys gefilmt wurden, in einigen Fällen sehr wertvoll sein, da sie «näher am Geschehen»genutzt werden können, um Ton- und Filmaufnahmen zu machen die später als Beweismaterialien in der Medienberichterstattung oder bei Gerichtsverfahren gegen Nazi-Schläger verwendet werden können.

Die Ergreifung geeigneter Maßnahmen zum eigenen Schutz ist bei allen Monitoringmaßnahmen oberste Priorität.

Bei der Dokumentation von Offline-Veranstaltungen für die Hate Map stützen wir uns häufig auf die lokale Medienberichterstattung oder fotografische Belege, die von lokalen Antifaschist:innen und Aktivistengemeinschaften zur Verfügung gestellt werden. Bei der Dokumentation internationaler Zusammenarbeiten, Treffen und Netzwerke für Antifascist Europe sind unsere Informationsquellen zudem häufig bestehende Social-Media-Profile rechtsextremer Organisationen. Bei der jüngsten Berichterstattung über die Beziehungen zwischen der britischen Homeland Party und der Alternative für Deutschland (AfD) stützten wir uns zum Beispiel teilweise auf Beiträge, die von der Homeland Party auf ihren offiziellen Social-Media-Profilen veröffentlicht wurden. In ähnlicher Weise wurde die jüngste Berichterstattung über die Beziehung zwischen amerikanischen Konservativen und russischen Ideologen durch Aktivitäten auf deren eigenen Social-Media-Kanälen unterstützt.

Wenn auf Aussagen zurückgegriffen wird, die direkt von rechtsextremen Akteuren veröffentlicht werden, müssen zwei Dinge im Auge behalten werden. Erstens sollte vermieden werden, zum Sprachrohr der Gegner zu werden — es gilt, nicht die Aufmerksamkeit auf deren Plattformen zu lenken oder unbeabsichtigt zur algorithmischen Förderung ihrer Botschaften beizutragen indem direkt auf Inhalte verlinkt wird. Zweitens ist eine gehörige Portion Skepsis angebracht, denn wir haben es zumeist mit eher unzuverlässigen Erzähler:innen zu tun. Kritisches Denken und ein Verständnis für die Absicht und die Ziele von Nachrichten (die wahrheitsgetreu oder nicht wahrheitsgetreu sein können) sind wertvolle Hilfsmittel bei der Beurteilung des Wertes und der strategischen Gestaltung von Materialien, die diese Akteure über sich selbst verbreiten.

Online-Monitoring kann viele Formen annehmen, von der Nutzung öffentlicher Inhalte über die Aktivitäten und Treffen von Akteuren, die wir für unsere Berichterstattung über Antifascist Europe verwenden, bis hin zur Infiltration extremistischer Netzwerke über verschlüsselte Kanäle. Das Erlernen der Grundsätze von Open-Source-Intelligenz, z. B. aus dem Buch Deep Dive von Rae Baker, ist ungemein wertvoll. Es ist auch wertvoll, sich mit dem «Berkeley Protocol on Digital Open Source Investigations» (erhältlich in allen UN-Sprachen) vertraut zu machen. Dieses Protokoll legt die Standards für die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen fest, bietet aber auch nützliche Richtlinien für die Bewahrung digitaler Beweise für antifaschistische Monitoringmaßnahmen im Internet an.

Die Ergreifung geeigneter Maßnahmen zum eigenen Schutz ist bei allen Monitoringmaßnahmen oberste Priorität. Beim Online-Monitoring ist es unumgänglich, sich über die digitale Betriebssicherheit zu informieren und gegebenenfalls virtuelle private Netzwerke, virtuelle Maschinen und andere Tools zu nutzen. Organisationen wie die «Electronic Frontier Foundation» haben Ressourcen zur Selbstverteidigung gegen Monitoring herausgegeben, die nützliche Tipps enthalten, wie man sich sowohl vor den Gruppen, die überwacht werden, als auch vor anderen schützen kann, die möglicherweise auf Daten und die zur Kommunikation verwendeten Tools und Dienste zugreifen.

Monitoring ist für den Widerstand gegen die extreme Rechte und die schleichende Faschisierung unerlässlich. Ohne Wissen ist es unmöglich, sich zu wehren und die Aktivitäten derjenigen zu untergraben, die versuchen, eine faschistische Agenda zu fördern. Es gibt kein Patentrezept für die Durchführung eines wirksamen Monitorings, aber Kenntnisse über Ziele und die zur Verfügung stehenden Ressourcen sind von unschätzbarem Wert für die Festlegung des Ansatzes.

Übersetzung von Franziska Albrecht.

 
 

 

 

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news-52669 Wed, 19 Mar 2025 16:37:00 +0100 Im Verhältnis https://www.rosalux.de/news/id/52669 Eine Ausstellung von Linnéa Meiners mit Christof Zwiener | Berlin, 21.11. 2024 bis 20.3.2025 Ein rotes Licht breitet sich in den kalten und dunklen Wintermonaten im Forum der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus, dringt bis nach draußen. Durchsetzt wird es von einem bläulichen, gläsernen Flackern. Sand fließt, Zeit rinnt, Blumen welken.
 
Zwei Installationen zeigt die Ausstellung «Im Verhältnis» von Linnéa Meiners und Christof Zwiener. Ihnen zugrunde liegen konkrete Objekte aus dem direkten geografischen und thematischen Umfeld der Stiftung: Rosa Luxemburgs Herbarium, das sie während ihrer Inhaftierung in Wrocław trotz der hohen Mauern, die sie umgaben, pflegte sowie eine zum Glasbaustein umfunktionierte quaderförmige Flasche, die bei den benachbarten Renovierungsarbeiten des ehemaligen Postbahnhofs am Ostbahnhof der Fassade entnommen wurde.

Die Ausstellung wird wegen einer geänderten Veranstaltungsplanung nur noch bis zum 20.3.2025 gezeigt.

Welche Verhältnisse entfalten sich zwischen diesen zwei Objekten? Mit großer Sorgfalt und Genauigkeit erforschen und gestalten Meiners und Zwiener die scheinbare Unendlichkeit zwischen ihren eigens gesetzten Ausgangspunkten. Dabei widmen sie sich Fragestellungen zur kapitalistischen Verwertung von Zeit und Arbeitskraft, zur zunehmenden Entfernung des Menschen von der ihn umgebenden Vegetation, zur vermeintlichen Unendlichkeit natürlicher Ressourcen sowie zur Erosion gemeinschaftlicher Erinnerung durch (Un)Sichtbarmachung.

Immer neue Verbindungen von Zeit, Material und Raum gießen die beiden Künstler*innen in komplexe Zusammenhänge. Zeitweise scheint es zu gelingen, sie als Ganzes zu fassen, während sie im nächsten Moment wieder in viele kleine Einzelteile zerspringen.

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news-53226 Wed, 19 Mar 2025 16:05:35 +0100 Trumps Frontalangriff auf USAID https://www.rosalux.de/news/id/53226 Die Antwort auf die Kürzungen der US-Entwicklungsgelder muss mehr globale Gerechtigkeit lauten Die USA ziehen sich nahezu vollständig aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zurück. Im Eiltempo hat US-Präsident Donald Trump nur wenige Wochen nach seinem Wiedereinzug ins Weiße Haus eines seiner wichtigsten Wahlkampfversprechen umgesetzt. Außenminister Marco Rubio zufolge sei die «Überprüfung» der US-Entwicklungsgelder bereits endgültig abgeschlossen. Nach einer sechswöchigen Schockoffensive in Abstimmung mit dem rechtsradikalen Tech-Milliardär Elon Musk und dessen Staatsabbau-Truppe DOGE (Department of Government Efficiency) feiern die Republikaner die «überfällige und historische Reform» als großen Erfolg.

Cornelia Möhring, MdB (Die Linke), ist Mitglied im Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Bundestags.

In seiner Rede vor dem Kongress Anfang März attackierte Trump die Auslandsgelder wiederholt. «Betrug in Höhe von Hunderten Milliarden Dollar» habe man angeblich aufgedeckt, die «entsetzliche Verschwendung» werde ein Ende haben. Der Präsident spottete über Stipendienprogramme für Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion (DEI) in Birma, über LGBTQ-Rechte in Lesotho, «eine afrikanische Nation, von der niemand jemals gehört hat», über wirtschaftliche Förderprogramme für «sesshafte Migranten», wobei «niemand weiß, was das ist». All dies wurde von den Republikanern mit höhnischem Lachen quittiert.

Hauptziel dieses Angriffs auf die US-Außenhilfe ist ein innenpolitischer Geländegewinn: Trump serviert seiner Wählerschaft das Zusammenstreichen der Mittel für die Ärmsten der Armen im Ausland als Sieg im (Kultur-)Kampf gegen die «Verschwendung» amerikanischer Steuergelder. Und so raunen die Republikaner im klassischen Verschwörungsduktus, die Auslandsgelder seien ein korruptes Netzwerk der «liberal-globalistischen Agenda», des «Deep State» oder fauler, «woker» Staatsbediensteter.

Für das internationale System bedeutet der Ausstieg des weltweit größten Geldgebers der Entwicklungszusammenarbeit eine massive Schwächung demokratischer Akteure sowie von Minderheiten und Notleidenden, während Oligarchen, autokratische Regime und Gewaltakteure in Afrika, Asien und Lateinamerika zunehmend fester im Sattel sitzen.

Ergebnis des Frontalangriffs auf die internationale Kooperation ist ein politischer, wirtschaftlicher und humanitärer GAU. 5.200 der insgesamt 6.200 Programme der US-Entwicklungshilfebehörde USAID seien gestrichen worden, verkündete Rubio. Für die verbliebenen 18 Prozent der ursprünglichen Mittel werde künftig sein Ministerium zuständig sein. Die Eingliederung der Entwicklungsbehörde in das Außenministerium deutet zudem auf einen weiteren Abbau der Entwicklungsgelder, aber auch auf die politische Instrumentalisierung der US-Entwicklungszusammenarbeit hin.

Religiös verbrämter Egoismus

Die Meldung aus dem State Department, man habe dem Globalen Süden den Geldhahn zugedreht, folgte im Anschluss an einen denkwürdigen Auftritt des bekennenden Katholiken Rubio. Bei einem Live-Interview auf «Fox News» trug der Republikaner am Aschermittwoch ein schwarzes Aschenkreuz auf seiner Stirn. Es symbolisiert für Christ*innen die Vergänglichkeit des Menschen, die Bereitschaft zu Umkehr und Buße und die Hoffnung auf Auferstehung. «Kehre um und glaube an das Evangelium» oder «Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst», lauten die Segenssprüche der Priester. Wir erleben hier eine politische Elite, die das faktische Ende der Solidarität mit Millionen von benachteiligten Menschen in den Ländern des Südens religiös verbrämt. Der nationalistische Egoismus einer Weltmacht, die ihre Interessen allem Augenschein nach nur noch mit offener Erpressung und Gewalt durchsetzen will, wird mit der Bibel in der Hand und dem Aschenkreuz auf der Stirn gerechtfertigt.

Ungewiss bleibt, ob der Kahlschlag der Auslandshilfe rechtlich Bestand haben wird. Per Dekret hatte Trump am Tag seines Amtsantritts das Einfrieren der US-Auslandshilfen und deren Überprüfung angeordnet. In den kommenden Wochen und Monaten wird sich klären, wie der gewichtige Einwand der Demokraten, dass die vom Kongress bewilligten USAID-Programme auch nur vom Kongress beendet werden können und die Kürzungen per Präsidialdekret somit illegal seien, von den Gerichten beurteilt wird. Immerhin hat der Oberste Gerichtshof bereits Anfang März ein Gesuch der Regierung zurückgewiesen, die Anordnung eines Richters zu stoppen, der die Freigabe der eingefrorenen Auslandsgelder angeordnet und der Trump-Regierung dazu ein Ultimatum gestellt hatte.

Geopolitischer Frontalangriff

Wie auch immer es mit den US-Auslandsgeldern weitergeht, der isolationistisch-geopolitische Frontalangriff der Trumpisten wird sich fortsetzen. Was wir heute in Realtime erleben, ist nicht weniger als der Express-Rückzug des größten Geberlandes der Welt aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Zwar war die US-Außenhilfe immer auch Teil des geopolitischen Hegemoniestrebens einer Weltmacht, die seit Ende des Kalten Krieges die Pax Americana mittels militärischer Dominanz, liberal-demokratischer Grundausrichtung und neoliberalem Washington Consensus herstellte. Unter Trump jedoch werden wir Zeug*innen einer disruptiven Rückkehr zum Isolationismus, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg die vorherrschende Außendoktrin der USA war. Heute hat der kriselnde Hegemon auf der internationalen Bühne ein neues, brutalisiertes Kapitel aufgeschlagen und sich grundlegend gewandelt: vom Hegemon mit Soft Power und freiwilliger Gefolgschaft seiner Verbündeten hin zum eisernen Imperium auf Egotrip.

«Make America Great Again»: Das bedeutet für Millionen Menschen von Afghanistan bis Simbabwe den Sturz in die Misere. Denn bei aller Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit ehemaliger Kolonialmächte ist die internationale Entwicklungsfinanzierung der Industriestaaten für die Ärmsten der Armen immer noch so etwas wie das, was auf nationaler Ebene der Sozialstaat ist. An beide – ohnehin nicht hinreichenden – Umverteilungsmechanismen legen Trump und Konsorten nun die Axt. Angesichts des Frontalangriffs der rechten Multimilliardäre auf Demokratie, Kooperation und Umverteilung ist klar: Die internationale Entwicklungszusammenarbeit gilt es genauso zu verteidigen wie den nationalen Sozialstaat.

Die Auswirkungen vor Ort

Denn die Folgen des Kahlschlags greifen tief und treffen die Schwächsten. Partner der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tansania berichten beispielsweise, dass für 2025 eingeplante US-Gelder in Höhe von 400 Millionen US-Dollar nun wegfallen. Betroffen sind unter anderem Arbeitsmarktförderprogramme; Tausende subventionierte Jobs werden gestrichen. Auch Gesundheitsprogramme werden eingestellt und vermeidbare Krankheiten infolge der Streichung kostenloser Impfungen wieder ausbrechen.

In den meisten afrikanischen Ländern ist fast die gesamte Familienplanung von ausländischen Geldern abhängig. So werden Verhütungsmittel umsonst verteilt, weil arme Bevölkerungsschichten sich Kondome, Pille und Spirale schlicht nicht leisten können. Gesundheits- und Aufklärungsprogramme für die besonders vulnerable Queer-Gemeinschaft entfallen ebenfalls. Mühsam aufgebaute Schutzräume für queere Menschen und für von Gewalt betroffene Frauen verschwinden. Auch Organisationen, die Bildungsprogramme und Radiosendungen zur Aufklärung gegen die Genitalverstümmelung junger Frauen betreiben, direkt mit den Communities arbeiten und Safe Spaces anbieten, müssen ihre Arbeit einstellen. Hunderte Arbeitskräfte verloren auf diese Weise von einem Tag auf den anderen ihr Einkommen.

Bereits ihre Türen geschlossen haben in Tansania auch die beiden großen US-Politikinstitute National Democratic Institute (NDI) und International Republican Institute (IRI), die einen großen Anteil an der Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hatten und sich für Frauenrechte, Gleichberechtigung und unabhängige Medien starkmachten. Man kann die Arbeit dieser Akteure bewerten, wie man will: Autoritäre Staaten wie China, Russland und arabische Länder werden den amerikanischen Rückzug für sich zu nutzen wissen.

Im größten Flüchtlingslager Bangladeschs, Cox’s Bazar, wo über eine Million in Myanmar verfolgte Rohingya-Muslim*innen in Zeltstädten ums Überleben kämpfen, bringen die USAID-Kürzungen Hunger und Krankheit. Mit 300 Millionen US-Dollar in 2024 waren die USA der größte Geldgeber für die vor dem Völkermord geflohene Minderheit. Zwar sei die Verteilung von Nahrungsmitteln von der Finanzierungssperre bisher ausgenommen, aber die UN-Welternährungsorganisation (WFP) beklagt einen historischen Mittelrückgang, der auch auf US-Kürzungen zurückgeht. Schon jetzt müssten, so das WFP, die Nahrungsmittelgutscheine im Lager von 12,50 US-Dollar auf 6 US-Dollar im Monat gesenkt werden. Den vielen kleinen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in dem riesigen Lagerkomplex – die mit Ärzten direkt zu den geflüchteten Familien gehen, sich um Wasser und Toiletten kümmern, Abfall entsorgen, Schulunterricht anbieten – wurde der Geldhahn komplett zugedreht.

Betroffen ist auch die internationale Klimafinanzierung. Zwar stellen die USA als weltweit größter Klimazerstörer und stärkste Volkswirtschaft viel zu wenig öffentliche Gelder für den weltweiten Ausstieg aus Öl, Kohle und Gas und für die Klimaanpassung zur Verfügung. Dennoch kommen bisher von einhundert internationalen Klima-Dollar acht aus den USA. Ein Drittel dieser Gelder läuft über USAID und wurde nun gestoppt. Mit dem Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen und dem Einstampfen der Klimafinanzierung fällt somit eines der Schwergewichte im Kampf gegen die Klimakrise aus. Angesichts der Rekordtemperaturen werden es auch hier die Schwächsten sein, die am stärksten unter den Folgen der Trump-Politik leiden werden.

Armutsbekämpfung statt Rüstungsspirale

Die deutsche Politik sollte jetzt versuchen, die aufgerissenen Lücken so gut wie möglich zu schließen. Das gilt insbesondere für Projekte, die Menschen in Not unmittelbar vor Ort unterstützen, bei Armutsbekämpfung, Gesundheit, Ernährung, Humanitärem, Minderheitenrechten, Umwelt.

Doch die Aussichten dafür stehen schlecht. Denn auch Deutschland hat sich in den globalen Trend der Kürzungen bei der globalen Solidarität eingereiht. Die letzte Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP hat die Entwicklungszusammenarbeit gekürzt, wie keine vor ihr, und dabei die Zuwendungen für die Menschen im globalen Süden besonders stark zusammengestrichen. Gegenüber dem letzten Haushalt der Vorgängerregierung sanken die Mittel für das Entwicklungsministerium in vier Haushaltsjahren um 23 Prozent. Die Mittel für humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amts schrumpften gar um 29,9 Prozent.

Diese Haushaltskürzungen waren auch ein Ergebnis der Schuldenbremse im Grundgesetz. Doch leider hält auch die künftige Bundesregierung an diesem historischen Fehler fest; bei der Grundgesetzänderung im März wurden lediglich die Ausgaben für Verteidigung weitgehend von der Schuldenbremse ausgenommen.

Fest steht jedoch: Die Bekämpfung von Armut und sozialer Not ist ein besserer Weg zum Frieden als Hunderte Milliarden für die Rüstungsspirale. Deshalb müssen wir für öffentliche Einnahmeerhöhungen ebenso streiten wir für nationale und globale Umverteilung. Denn wollen wir den Durchmarsch der autoritären Internationale aus Trump, Putin & Co stoppen, brauchen wir mehr, nicht weniger, soziale Gerechtigkeit.

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news-53223 Tue, 18 Mar 2025 14:25:55 +0100 Ein EU-Paket für eine saubere Industrie? https://www.rosalux.de/news/id/53223 Die EU-Kommission legt den «Clean Industrial Deal» vor – seinem Namen wird er nicht gerecht Der neue «Clean Industrieal Deal» der EU-Kommission soll die Zukunft des verarbeitenden Gewerbes in Europa sichern und die Dekarbonisierung vorantreiben. Begleitet wird er jedoch von einer Abrissbirne für nachhaltige Lieferketten. Zudem steht die Finanzierung des Pakets in den Sternen.

Uwe Witt ist Referent für Klimaschutz und Strukturwandel bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Wie glaubhaft ist eine Strategie für eine klimafreundliche Industrie in Europa, wenn sie kaum finanziert ist und gleichzeitig ohnehin schwache Nachhaltigkeitsregeln für Importgüter geschliffen werden? Diese Frage muss sich die EU-Kommission stellen lassen, die am 26. Februar 2025 das lang angekündigte Maßnahmenpaket für eine klimafreundlichere Industrie vorstellte, den Clean Industrial Deal (CID). Denn nicht nur Gelder für den Umbau fehlen dem Paket. Neben der eigentlichen EU-Mitteilung zur Industrie und dem dazugehörigen Aktionsplan (beide kündigen konkrete Rechtsakte und Finanzierungsmechanismen an) legte die Kommission auch ein weiteres, so genanntes «Omnibus-Paket» mit bereits ausformulierten Gesetzesänderungen vor. Entwicklungspolitische NGOs kritisieren, dass dieses unter dem Deckmantel «Bürokratieabbau» weitere Zugeständnisse an Konzerne macht, etwa beim Lieferketten-Gesetz, während Menschenrechte unter die Räder kommen.

Doch der Reihe nach.

Industrie-Deal nach dem Klimapaket

Hatte Brüssel in der letzten Legislaturperiode mit dem «Fit-for-55-Paket» ein ambitioniertes Maßnahmenbündel für eine deutliche Reduktion der Treibhausgasemissionen innerhalb des Green Deal verabschiedet, steht mit dem CID nun die Industrie im Fokus. Bei Fit-for-55 ging es vereinfacht darum, die neuen Klimaschutz-Gesamtziele der EU – eine Minderung um 55 Prozent der Emissionen bis 2030 und um 100 Prozent bis 2050 gegenüber 1990 – in allen Sektoren der Wirtschaft gesetzlich zu verankern und mit Instrumenten auszustatten, die sie erreichbar machen. Ein Teil der dafür notwendigen (und teils auch wirkmächtigen) Werkzeuge war schon vorhanden, sie waren lediglich klimapolitisch anzuschärfen, Schlupflöchern waren zu schließen. So zum Beispiel der Europäische Emissionshandel für Energiewirtschaft und Industrie, das System der Aufteilung der Minderungsverpflichtungen auf die Mitgliedsstaaten in den Sektoren Gebäude und Verkehr, die Richtlinien für Erneuerbaren Energien und Energieeffizienz oder die CO2-Regulierung von Pkws und kleinen Nutzfahrzeugen. Andere Instrumente wurden vollkommen neu geschaffen, wie die EU-CO2-Bepreisung von Importgütern (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) oder das umstrittene zweite Emissionshandelssystem der EU, das ab 2027 die Bereiche Gebäudewärme und Mobilität umfassen soll. Mit dem Klimasozialfonds wurden auch Ansätze eines sozialen Ausgleichs installiert, wenngleich unzureichend. Also ebenso nicht adäquat zu den Herausforderungen, wie es die EU-Klimaziele selbst angesichts des galoppierenden Klimawandels sind.

Nun geht die EU-Kommission einen Umsetzungsschritt weiter – sicherlich auch unter dem Druck krisenbedingt höherer Energiepreise als in den Konkurrenz-Regionen Asiens und der USA. Hohen Energiekosten wird der Einbruch der Industrieproduktion in der energieintensiven Industrie, etwa in Deutschland, zu wesentlichen Teilen zugeschrieben. Hinzu kommen Handelskonflikte, hausgemachte Fehlentscheidungen (etwa der deutschen Automobilindustrie) und insbesondere chinesische Überkapazitäten, beispielsweise bei der Stahlproduktion.

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news-53217 Fri, 14 Mar 2025 13:07:44 +0100 «Im Juni 1914 war es auch sehr ruhig» https://www.rosalux.de/news/id/53217 Gáspár Miklós Tamás über Faschismus in einer Welt ohne Linke Haben wir in Mittel- und Osteuropa eine besondere Neigung zum Faschismus?

Gáspár Miklós Tamás (1948–2023) war ein ungarischer Philosoph und Intellektueller. Geboren in Cluj, Rumänien, lebte er seit 1978 in Budapest. In der Ungarischen Volksrepublik war er Dissident. Von 1986 bis 1988 lehrte er in den USA, Großbritannien und Frankreich und setzte sein Studium in Oxford fort. Nach 1989 war er Mitbegründer des Bunds Freier Demokrat*innen (Szabad Demokraták Szövetsége, SZDSZ) und Abgeordneter im Parlament. Von 2010 bis 2011 war er Vorsitzender der außerparlamentarischen Grünen Linken (Zöld Baloldal, ZB). Er war ein prominenter Gegner von Viktor Orbán und der Fidesz-Regierung – und ein erbitterter Kritiker des Kapitalismus und Neoliberalismus.

Ich würde das nicht essenzialisieren. Um zu erklären, warum Osteuropa eine besonders brutale Version des Kapitalismus hervorbringt, müssen wir uns von der Vorstellung lösen, dass es irgendetwas mit «totalitären» Denkgewohnheiten oder «reaktionären» Tendenzen zu tun hätte, die in einem angeblich «typisch» östlichen Autoritarismus oder einem historischen Untertanengeist wurzeln. Abgesehen von ökonomischer Unzufriedenheit, sozialen und regionalen Ungleichheiten oder dem desolaten Zustand der öffentlichen Daseinsvorsorge liegen die Ursachen vielmehr in ganz konkreten Faktoren.

Warum sind «starke», charismatische Führungsfiguren so beliebt? Warum so viel Rassismus? Tschechien, Polen und Ungarn stehen zum Beispiel in europäischen Rankings zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit an der Spitze.

Egal, was Liberale oder Linke sich gern einreden: Die dominante politische Identität in Mitteleuropa ist der weiße, «arische», heterosexuelle Mann. Die Klassenidentität als verbindendes Element wurde aufgehoben. Das Einzige, was die Menschen noch mit dem Westen verbindet, ist die «Rasse». Aktuell erleben wir die letzte entscheidende Schlacht – den Kampf zwischen universalistischen versus partikularistischen Beweggründen für eine Rebellion. Der einzige große historische Gegenspieler von Nationalismus und Rassismus war die Klasse, gewissermaßen als historische Nachfolgerin des Christentums. Ihre Existenz und Bedeutung zu verschleiern, kam schon immer der Ideologie der Herrschenden zugute. Bis vor kurzem gelang dies durch das Konzept der bürgerlichen Nation. Sie sollte über Klassenunterschiede hinausgehen und die Loyalität zum König und zu den staatlichen Institutionen kräftigen, vor allem zu Armee und Kirche. Heute hat sich das verschoben – hin zu ethnischen, «rassischen» und sprachlichen Zugehörigkeiten. Das Betonen dieser Unterschiede ist eine der ältesten Strategien des Bürgertums. In den USA spricht die Rechte von «Arbeitslosen», meint aber «Schwarze». Sozialhilfeempfänger*innen sind «Kriminelle» oder «Migrant*innen». «Alleinerziehende Mütter» sind «Schlampen». Heute aber akzeptieren selbst die unteren Schichten den Abbau sozialer Sicherungssysteme, solange es «die Anderen» trifft, auch wenn diese sie tatsächlich unterstützten.

Hat damit die Idee der «Rasse» gesiegt? Stehen wir also vor einem neuen Faschismus?

Ganz so einfach ist es nicht. Warschau, Prag und Budapest sind voller reicher «Nichtweißer». Tourist*innen und Geschäftsleute können sich hier problemlos aufhalten. Sie werden nicht als «rassisch minderwertig» betrachtet. Auf die Reichen wird das Konzept des «Anderen» nicht angewendet – sondern auf Muslim*innen, Schwarze, Migrant*innen. Die Armen erleben Geflüchtete als Konkurrent*innen auf dem Arbeitsmarkt. Sie werden als «soziale Rival*innen» wahrgenommen – das führt zu sozialer und moralischer Panik. Diese Hysterie ist nicht völlig unbegründet. Die betroffenen Länder sind arm. Ein massenhafter Zuzug würde das ohnehin schwache Sozialsystem sehr stark belasten. Die Menschen wissen genau, dass ihr Land in einem schlechten Zustand ist. Wenn der Staat schon die eigene Bevölkerung nicht mehr versorgen kann – wie soll das mit neu Hinzukommenden funktionieren? Dazu kommt der Wettbewerb auf europäischer Ebene: Für die Staaten der Region ist es überlebenswichtig, Geflüchtete aus der EU fernzuhalten. Denn ohne die Emigration zahlreicher Arbeitskräfte in den Westen, die vor Ort keine geeignete Stellung finden, wären die osteuropäischen Länder wirtschaftlich am Ende. Millionen sind weggezogen – vor allem junge, gut ausgebildete Fachleute wie etwa Ärzt*innen und Pflegekräfte. Würden Geflüchtete im Westen um dieselben Jobs konkurrieren, hätte das für Osteuropa katastrophale Folgen. Ohne die Rücküberweisungen der migrierten osteuropäischen Arbeitskräfte an ihre Familien würden die ohnehin maroden Renten- und Gesundheitssysteme endgültig kollabieren. Die Wirtschaft hier ist ein Witz. Wie soll sich in einem System, das auf reinem Eigennutz basiert, so etwas wie Solidarität entwickeln?

Diese Realität wird aber nicht thematisiert. Wem geben die Leute die Schuld?

Das eigentliche Problem ist der schwache Sozialstaat, das Fehlen gesellschaftlicher Solidarität und eine brutale, menschenfeindliche Klassenpolitik. Doch die konservativen Intellektuellen erklären die Welt lieber in Kategorien, die sich auf Kulturen oder offen rassistische Zuschreibungen berufen. Angst reicht als Mittel völlig aus. Die Gefahr lauert überall. Von «unten» drohen die «farbigen» Minderheiten. Von «oben» das internationale Finanzkapital und das amerikanische Imperium. Von «außen» die Migrant*innen. Von «innen» die LGBTQ-Community. Und dann ist da noch der muslimische Dschihadismus, der Europa angeblich über die «Achse des Terrors New York–Tel Aviv» schwächen und versklaven will. Also sollen sich alle zusammentun – Arme und Reiche –, um das «christliche Erbe» zu bewahren und «Europa zu retten» vor dem «kulturellen Suizid». Und leider glauben das viele. Selbst jene, die dabei finanziell das Nachsehen haben.

Warum haben wir nur diese Option?

«Hinter jedem Faschismus steht eine gescheiterte Revolution.» Viele europäische Politiker*innen, vor allem die extrem rechten, versprechen heute einen Sozialstaat, der «hart arbeitenden», einheimischen, «respektablen» Weißen vorbehalten sein soll. Die klassische Arbeiter*innenklasse hat sich verändert. 90 Prozent der österreichischen Industriearbeiter*innen haben für Norbert Hofer gestimmt. Sie sind eine relativ privilegierte Gruppe, die ihre Stellung gegen die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verteidigt – gegen Geflüchtete, Arbeitslose, Migrant*innen und Frauen, die geringere Löhne akzeptieren würden. Anstatt für höhere Löhne für alle zu kämpfen, beschuldigen sie diese Gruppen. Zudem hofiert der Staat sie mit kleinen Transferzahlungen und Sportveranstaltungen. Sie sind vielerorts zu einer reaktionären Kraft geworden, die den Interessen der Unterdrücker*innen dient. Das ist eine Rolle, die das Proletariat schon in der späten römischen Republik und im frühen römischen Kaiserreich spielte. Das könnte die Zustände in unserer Gesellschaft noch weiter verschlimmern. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus und Homophobie mobilisieren die unterschiedlichsten Gruppen – und machen sie zu den Säulen eines repressiven Staats. Die Mächtigen in Osteuropa stellen jedes emanzipatorische Projekt als Bedrohung dar. Sie erzählen den Menschen, dass die «Eliten» – die Überbleibsel der Linken und der Liberalen – die Bedürfnisse der «einfachen Leute» ignorieren. So wird «Gleichheit» zum ersten Mal in der Geschichte als ein «elitäres» Konzept dargestellt.

Wie konnte es dazu kommen?

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Idee des Kommunismus – und vielleicht sogar die des Universalismus – verdrängt. Friedrich August von Hayek mag vieles gewesen sein, aber eines war er sicher nicht: ein Nazi. Er musste vor dem Faschismus fliehen. Er war konservativ, reaktionär – ja. Aber kein Faschist. Ich habe eine gewisse Achtung vor ihm, weil er ehrlich war. Er hat sinngemäß gesagt: Wir in den westlichen Gesellschaften haben Adolf Hitler einiges zu verdanken. Er hat Europa vor dem Kommunismus gerettet. Deutschland war schon immer das entscheidende Schlachtfeld Europas. Das dachten Lenin, Trotzki, Luxemburg, der Kaiser und Ludendorff. Und so war es auch. Und so ist es noch immer. Wir sprechen hier allgemein über Mitteleuropa, im Besonderen aber über Deutschland. Heidegger sagte in seinem berühmten Brief an Marcuse im Grunde dasselbe. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Marcuse sein Schüler und Freund gewesen. Nach dem Krieg schrieb er Heidegger sinngemäß: «Was zur Hölle? Sind Sie wahnsinnig geworden? Warum? Ich will mich nicht mit Ihnen streiten, ich habe nur eine höfliche Bitte. Können sie mir erklären, was mit Ihnen passiert ist?» Er rechnete nicht mit einer Antwort. Doch erstaunlicherweise schrieb Heidegger zurück, in etwa: «Ich verstehe, dass Sie überrascht sind, das wären alle. Aber mir ging es damals um eine Frage: Wer kann uns vor dem Kommunismus retten?» Und es stellte sich heraus, dass nur Hitler dazu in der Lage war. Bemerkenswert ist, dass zwei so unterschiedliche Menschen wie Hayek und Heidegger – die sich gegenseitig zutiefst verachteten: Hayek Heideggers leeres Gerede, Heidegger das liberale, mechanistische, seelenlose System, das Hayek predigte – am Ende dasselbe sagten. Und es ist richtig: Der westliche Kommunismus war besiegt worden. Das war selbst Stalin klar. Der Westen hat viel von Hitler gelernt. Die Brit*innen und später die Amerikaner*innen ließen es nicht zu, dass Kommunist*innen bis zur Seine vorrückten.

Befinden wir uns also wieder in einer Situation, in der das Kapital den Faschismus einem universalistischen Projekt vorzieht?

Ein kleines Detail. Nach den Kommunalwahlen  in der Steiermark, einem österreichischen Bundesland, habe ich die Wiener Zeitung Der Standard gelesen. Bisher gab es dort zwei kommunistische Abgeordnete. Nach der Wahl waren es drei. Dabei geht es nur um eine einzige Stadt in Österreich, bei einer kleinen Provinzwahl in Graz. Drei statt zwei – während die Konservativen Hunderte Sitze haben. Und trotzdem spotteten die österreichischen Zeitungen über die Kommunist*innen, die sie sonst nicht einmal erwähnen.

Meinst du, dass die Liberalen irgendwann erkennen werden, dass sie Faschist*innen den Weg bereiten, wenn sie jede linke Option zerstören?

Du kennst Ferenc Gyurcsány. Seine Sozialistische Partei, die MSZP, ist momentan die stärkste oppositionelle Kraft in Ungarn. Sie kommt auf etwa 13, 14 Prozent, während die Opposition insgesamt etwa 40 Prozent ausmacht. Die MSZP hat gegen die Resolution zur Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer gestimmt. Genau wie Orbáns Anhänger*innen – und gegen die eigene sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament. Die rechten Zeitungen haben dazu natürlich geschwiegen. Sie wollten Gyurcsány nicht für ihre Wähler*innen attraktiv machen. Und natürlich haben sich linke Intellektuelle darüber empört. Gyurcsány ist ein sehr effizienter Politiker. Er hat gar nicht erst darauf reagiert. Für ihn war es kostenlose Wahlwerbung. So läuft es ständig. Das ist nicht bloß eine Allianz zwischen Faschist*innen und Liberalen. Die obere Mittelschicht und einige Intellektuelle sind sich darüber im Klaren – manchmal bewusst, manchmal unbewusst –, dass der Kommunismus die größte Bedrohung ist. Besonders deutlich wird das in der EU-Peripherie, wo die Wirtschaft auf knallharter Ausbeutung beruht. Jede linke Idee untergräbt die ohnehin fragile, dünne Schicht des lokalen Bürgertums. Schon ein kleiner Riss könnte ein gefährliches Exempel statuieren. Welche Regierungen in Europa sind denn besonders antikommunistisch oder antilinks? Polen. Ungarn. Rumänien.

Ist das in Westeuropa anders?

Das System steckt heute in vielen Widersprüchen. Die liberale Demokratie wird wahrscheinlich nicht überleben. Paradoxerweise fehlt ihr heute der Sozialismus. Es gibt keine ausgleichende Kraft mehr. Die Arbeiter*innenbewegung war eine notwendige Voraussetzung für die liberale Demokratie, die einen Kompromiss bot: Im Austausch für inneren Frieden und Stabilität gab die Sozialdemokratie ihre revolutionären Forderungen auf und wurde Teil des bürgerlichen Staates. Heute werden die herrschenden Klassen nicht mehr von innen bedroht. Also können sie machen, was sich nicht einmal die Faschist*innen getraut hätten. Sie senken die Löhne, zerstören die Renten- und Sozialsysteme und zerschlagen das öffentliche Bildungswesen, die Gesundheitsversorgung, den öffentlichen Nahverkehr sowie den sozialen Wohnungsbau.

Aber es gibt im Westen keine so ausgeprägt autoritären Tendenzen wie im Osten.

Im Westen ist der Kapitalismus organisch gewachsen. Er hat das Dorfleben nicht völlig zerstört. Aristokratische und christliche Vorstellungen von Ehre und Nächstenliebe sind erhalten geblieben, wie auch ein gewisser Respekt vor Institutionen. Einige alte moralische Standards haben überdauert. In westlichen Ländern – und England kenne ich am besten – gibt es bis heute Spuren christlich-sozialistischer Denktraditionen. Ich meine nicht Religion im engeren Sinne. Es geht mir um das soziale Erbe des Christentums, insbesondere des protestantischen Christentums. Schauen wir uns Corbyn an. Ich erkenne diesen Typus sofort. Ich komme aus Siebenbürgen, einer protestantischen Region. Corbyn ist Vegetarier, er hat seinen eigenen Garten. Er ist zutiefst puritanisch – Armut und Großzügigkeit sind für ihn Tugenden. Wichtig ist Selbstdisziplin, nicht Genuss. Dazu kommen die Traditionen der Arbeiter*innenbewegung. Interessanterweise gelten Sanders und Corbyn heute als linksextrem. 1910 wären sie innerhalb der Linken als «rechte Abweichung» verschrien gewesen – wenn sie überhaupt als links gegolten hätten! Wahrscheinlich eher als liberal, und zwar nicht einmal im Vergleich zu Lenin oder Luxemburg, sondern zum Idealisten Bebel. Keine Planwirtschaft? Keine Verstaatlichung der Banken? Was wäre das für eine Sozialdemokratie? Damals forderte man, dem Staat die Kontrolle über Banken, Energie und Infrastruktur zu übertragen. Das war die absolute Minimalforderung. Heute ist so etwas im Mainstreamradikalismus undenkbar. Die klassischen Merkmale des Faschismus – totalitäre Schreckensherrschaft und massenhafte Gewalt – sind in Europa weitgehend verschwunden. Aber Faschist*innen wussten schon immer, dass ihre zentrale Aufgabe darin bestand, den europäischen Sozialismus – besonders in Deutschland und Italien – zu verhindern. Letztlich haben sie gewonnen, obwohl sie den Krieg verloren haben.

Heißt das, dass die linken Ideen von Emanzipation und Gleichheit bereits tot sind? Dass der aktuelle Rechtsruck ein Zeichen dafür ist, dass wir schrittweise eine hierarchische Gesellschaft rekonstruieren und zu feudalen Rangordnungen zurückgekehrt sind?

Unsere Gesellschaft altert. Wir brauchen Migrant*innen und heißen sie willkommen. Gleichzeitig halten wir aber am Neoliberalismus fest und wollen den Sozialstaat nicht ausbauen. Aber wohin führt das? Zum Rassismus der Staatsbürger*innen. Die sind nicht von hier. Die haben keinen Anspruch auf Arbeiter*innenrechte, Renten, Sozialleistungen oder Gesundheitsversorgung. Wir grenzen sie aus, und sie ziehen sich in Religiosität und Ethnizität zurück – selbst wenn sie genau davor geflohen sind. Bürgerschaft wird zum Privileg. Eine Gnade des Staates, die den einen zuteilwird, den anderen nicht. Unter Boris Johnson mussten Emigrant*innen ihre beruflichen Qualifikationen nachweisen und einen Kontoauszug vorlegen. Je spezialisierter und wohlhabender die antragstellende Person war, desto leichter kam sie ins Land. Das ist eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert, als das Wahlrecht ans Eigentum gekoppelt war.

Wie lässt sich dieser Rückschritt erklären?

Die gefährliche Unterscheidung zwischen Bürger*innen und Nicht-Bürger*innen ist keine faschistische Erfindung. «We the People», bereits das schloss versklavte Schwarze und indigene Amerikaner*innen aus. Ethnische, regionale, soziale und religiöse Definitionen von «Nation» haben zu Genoziden geführt – in den Kolonien, in Europa und Asien. Dabei war die Idee der universellen Bürgerschaft das Fundament eines Fortschrittsbegriffs, der Liberalen, Sozialdemokrat*innen und alle Erb*innen der Aufklärung gemeinsam war. Als diese Bürgerschaft mit Menschenwürde gleichgesetzt wurde, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie auf alle Klassen, Berufe, Geschlechter, Ethnien, Religionen und geografischen Regionen ausgeweitet wurde. 1914 kehrte sich dieser Prozess durch die Ausnutzung seines inneren Widerspruchs um: Bürgerschaft meinte einerseits die universelle Bürgerschaft und war andererseits auf den Nationalstaat beschränkt. So ergibt sich der heutige Doppelstandard: Ein Rechtsstaat für die Bevölkerungen der kapitalistischen Zentren einerseits und ein System willkürlicher Verordnungen für alle anderen, die Nicht-Bürger*innen, andererseits. Das Problem ist also nicht, dass Staaten immer autoritärer werden, sondern dass sie Demokratien für kleine, klar abgesteckte Gruppen sind. Und das führt ganz ohne Konzentrationslager klar in Richtung Faschismus, mit Inhaftierungen, Abschiebungen, Lagern, Stacheldraht.

Was ist das dann, wenn nicht Faschismus?

Faschismus war nie konservativ – auch wenn er konterrevolutionär war. Trotz seines romantisch-reaktionären Anstrichs stellte er weder die Erbmonarchie noch die Aristokratie wieder her. In meinen Augen ist das zentrale Merkmal des Faschismus die Feindschaft gegenüber der universellen Bürgerschaft. Und diesen Universalismus verwerfen wir heute ebenso in demokratischen Verhältnissen. Ich habe den Begriff Postfaschismus geprägt, um das Phänomen zu beschreiben, das wir heute fast überall sehen: Der Postfaschismus ist nicht totalitär oder revolutionär. Er beruht nicht auf einer Massenbewegung oder irrationalen Ideologien. Er ist auch nicht antikapitalistisch, nicht einmal zum Schein. Ich behaupte keineswegs, dass die SS wieder ihr Unwesen in Europa treibt! Sondern dass es sein könnte, dass die Ziele der rechtsextremen totalitären Maschine vor dem Zweiten Weltkrieg – nennen wir sie Faschismus – heute durch parlamentarische und demokratische Mittel erreicht werden sollen. Postfaschismus braucht keine SA und keinen Diktator. Er fügt sich bestens in den Rahmen des Neoliberalismus ein. Denn er definiert Bürgerschaft nicht mehr als universelles Menschenrecht, sondern als die Gunst eines souveränen Herrschers.

Wie ist es dazu gekommen?

Dutzende Millionen hungriger Menschen stehen vor den Toren der EU. Doch die reichen Länder erfinden immer neue, immer raffiniertere Hürden. Der Widerwille gegen Immigration wächst. Und so kann immer großzügiger in die ideologische «Schatzkiste» nazistischer und faschistischer Ideologien gegriffen werden.

Können sie nicht einfach «zu Hause bleiben», wie es die extreme Rechte fordert?

Klassenkämpfe – ob gewaltsam oder friedlich – sind in ihren Heimatländern nicht mehr möglich. Niemand beutet sie aus. Es gibt keinen zusätzlichen Profit, keinen Mehrwert, den man ihnen noch abpressen könnte. Sie werden nicht ausgebeutet, sondern wurden aufgegeben. Die Ärmsten haben keine Wahl: Sie müssen diesen unmenschlichen Bedingungen entkommen. Das sogenannte kapitalistische Zentrum reagiert darauf mit hermetisch abgeriegelten Grenzen. Die «humanitären Kriege» dienen nur einem Zweck: zu verhindern, dass Massen von Geflüchteten in die ohnehin überlasteten Sozialsysteme der EU strömen. In der modernen Welt ist eine Staatsbürgerschaft in der Eurozone der einzige verlässliche Schutz. Doch sie bleibt das Privileg einer kleinen Gruppe. Bewegungsfreiheit gilt nur beschränkt: Kapital darf sich frei bewegen, Arbeitskräfte hingegen nicht; vor allem nicht ungelernte Arbeitskräfte aus armen Peripheriestaaten. Wer nicht ins Zentrum gelangt, ist zur Arbeit in lokalen Sweatshops verurteilt. Der Postfaschismus hat es nicht nötig, die Fremden in Deportationszüge zu drängen und zu töten. Den Menschen muss nur der Zugang verwehrt werden – zu den Zügen, die sie in eine schöne neue Welt bringen könnten. Postfaschistische Bewegungen sind, besonders in Europa, Anti-Immigrationsbewegungen. Ihr Ziel ist nicht nur der Schutz von ethnischen und Klassenprivilegien innerhalb des Nationalstaats, sondern der Schutz der Bürgerschaft des reichen Nationalstaats gegen die faktisch universelle Bürgerschaft für alle, unabhängig von Herkunft, Sprache, Religion oder Kultur.

Doch selbst im Zentrum gibt es Gruppen, die systematisch ausgeschlossen werden – wie die Rom*nja.

Ja. Die Rom*nja sind der homo sacer Europas. Ihre Geschichte ist eine einzige Folge von Inhaftierung, Abschiebung und Passportisierung. Viele von ihnen sind noch heute in allen Hinsichten davon betroffen. Sie werden von Polizei und Nachbar*innen verfolgt, also versuchen sie, in den «freien Westen» zu fliehen. Als Reaktion werden Visabeschränkungen über ihre Herkunftsländer verhängt, um ihre Zuwanderung zu stoppen, während man gleichzeitig diese osteuropäischen Länder über Menschenrechte belehrt. So entsteht ein System, das Rassismus unsichtbar macht. In manchen Regionen gibt es öffentliche Schulen, in denen ausschließlich «Farbige» sitzen. Staatlich geförderte Kirchenschulen dürfen Kinder aus der Gegend ablehnen und selbst entscheiden, wen sie aufnehmen. In manchen Gegenden liegt der Anteil der Rom*nja-Kinder bei über 50 Prozent, während die katholischen Schulen in diesen Regionen komplett «weiß» sind. Dieser Rassismus ist nicht offiziell, aber das Ergebnis ist dasselbe. Oder aber die Rom*nja werden einfach ignoriert. Es gibt Dörfer, in denen nur Rom*nja leben. Anstatt diesen Sozialleistungen zu gewähren, werden verpflichtende Arbeitsprogramme für Hungerlöhne geschaffen, die kaum zum Überleben reichen. Die Rom*nja können nicht weg, weil diese «Sozialleistungen» von vielleicht 100 oder 120 Euro im Monat ihre einzige Sicherheit darstellen. Und so sind sie für immer in diesem Zustand gefangen. Das ist nichts anderes als moderner Feudalismus.

Wer gehört sonst noch zu den Ausgestoßenen des Postfaschismus?

Alle, deren Anerkennung eine moralische Anstrengung erfordert und nicht selbstverständlich gewährt wird; alle, deren Inklusion die Anerkennung ihrer Gleichheit voraussetzt. Von Ungarn bis in die USA werden Minderheiten zu Feind*innen erklärt und sollen die Aufhebung ihrer Bürger- und Menschenrechte hinnehmen. Die einst selbstverständliche Verbindung zwischen Bürgerschaft, Gleichheit und Territorium bröckelt.

Was können wir dagegen tun? Den Kommunismus einführen?

Davon träumt heute niemand mehr. Geschweige denn von einem sozialistischen Programm, das mehr will als nur Gleichheit. In zivilisierteren – und heute fast vergessenen – Zeiten gab es Reaktionäre, die den Sozialismus verstanden und sich nicht hauptsächlich an Scheinproblemen abarbeiteten. Bertrand de Jouvenel war einer von ihnen. Ein brillanter Konservativer und charmanter Dandy, der sich später dem Faschismus verschrieb und sein Leben nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Art innerem Exil verbrachte. Heute wird Kommunismus völlig missverstanden. Er bedeutet drei sehr unterschiedliche Dinge. Erstens eine Umverteilung in der Landwirtschaft – eine archaische, vormoderne Idee. In antiken Gesellschaften galt Land nicht als Privateigentum. Es wurde in jeder Generation neu zugeteilt. Doch dieses Prinzip verschwand im 17. Jahrhundert mit der Kommerzialisierung des Bodens. Zweitens die sozialdemokratische Idee, das Einkommen über Steuern und Sozialleistungen zugunsten der Armen umzuverteilen. Das Privateigentum bleibt hiervon unberührt. Drittens ein höheres Ziel als bloße Gerechtigkeit: Kommunismus als Streben nach einer neuen Ordnung der brüderlichen Liebe. Und tatsächlich gibt es, wie Jouvenel schreibt, funktionierende Beispiele für Kommunismus: nämlich in Klöstern. Warum? Weil Mönche nicht nur für eine faire Verteilung von Reichtum oder Vergnügen kämpfen. Ihnen ist beides nicht wichtig. Ihr Ziel ist eine Gemeinschaft unter Brüdern, in der es weder Egoismus noch Privateigentum gibt. Die Umverteilung dient hier nicht der Gerechtigkeit, sondern soll die Selbstsucht schwächen. Sie soll Hass, Neid und Gewalt verhindern, die alle darauf beruhen, dass eine*r mehr hat als andere. Sie sind nicht deshalb eine Gemeinschaft, weil sie eine soziale, sondern eine mystische Gruppe bilden. Der Kommunismus will genau diese Einheit wiederherstellen.

Aber das ist ein Beispiel für eine geschlossene, abgeschottete Gemeinschaft auf religiöser Basis. Was hat das mit tatsächlichen politischen Bewegungen zu tun?

Jouvenel sprach nicht von Religion, sondern von monastischem Kommunismus. Und genau das war die Denkweise der wahren Rebell*innen, die von dem Heroismus und der Grausamkeit der Revolutionär*innen überdeckt wird. Der Gedanke hinter ihrem Kult der Aufopferung, des Martyriums und der Selbstverleugnung.

Bislang bringt das globale Kleinbürgertum aber keine umverteilenden kommunistischen Ordnungen hervor, sondern eben typisch Kleinbürgerliches: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und so weiter.

Und doch bricht Religiosität oft an völlig unerwarteten Stellen auf. Zum Beispiel in der heutigen Umweltbewegung. Hier steht Moral an erster Stelle – nicht Toleranz, nicht Bequemlichkeit, nicht der freie Austausch von Meinungen. Dafür bleibt keine Zeit – wegen der Klimakatastrophe, aber auch aus sozialen und ethischen Gründen. Keine Zeit für Spott oder Verachtung gegenüber der Gegenseite, keine Zeit für Entschuldigungen für Jahrhunderte der Unterdrückung. Es gilt jetzt, perfekt zu sein. Das ist religiöser Atheismus – und der kann nicht tolerant sein. Ist er auch nicht. Von außen betrachtet ist es zum Beispiel schwer zu verstehen, wie sich die Sexualmoral dieser neuen Askese entwickelt. Einerseits ist sie sanft, weil sie egalitär ist und keine Praktiken ausschließt – außer jenen, die demütigend oder sadistisch sind. Andererseits geht es um das Verbot jeder Form von Zwang, sei er wirtschaftlich, kulturell oder psychologisch. Selbst das Ausnutzen sexueller Attraktivität, um Macht oder Einfluss zu gewinnen, ist untersagt. Es ist kein Zufall, dass Greta Thunberg, die Jungfrau des kühlen, nüchternen Worts, zum Symbol der Klimaschutzbewegung wurde. Das ist ein uraltes Bild. «Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Du wirst vor dem Herrn hergehen, dass du seinen Weg bereitest.» So heißt es im Lukasevangelium. Jungfräulichkeit, Reinheit, Unschuld als Quelle von Autorität – das ist zutiefst christlich.

Die Idee der moralisch reinen Kinder überzeugt mich nicht.

Mich auch nicht. Aber das ist das Konzept. Es gibt ja auch Tierrechtsaktivist*innen, die auf die Frage, ob es nicht ebenso wichtig sei, die Rechte von Menschen zu schützen, antworten, dass sie Menschen nicht besonders mögen. Sie sagen offen und immer wieder, dass Tiere besser seien. Das zieht sich durch die ganze Mittelschicht. Viele kümmern sich um das Leid von Hunden, Katzen und Wildtieren. Aber das Leid der Menschen weit weg im Süden oder Osten berührt sie hingegen nicht. Und auch das ist zutiefst religiös.

Vielleicht ist das alles doch eher Psychologie? Wir stehen an der Spitze der globalen Produktionskette und beuten alle aus – also wollen wir das Leid verdrängen und uns distanzieren.

Da bin ich mir nicht sicher. Nehmen wir die neuen Feminist*innen. Sie sehen sexuelle Lust skeptisch – zumindest in einem traditionellen Verständnis. Was passiert, wenn man Lust, ökonomischen Gewinn und materielle Absicherung ausklammert und sagt: Das interessiert mich nicht? Dann entsteht eine völlig neue Welt. Vielleicht eine schreckliche, vielleicht eine wunderbare. Aber das Bewusstsein dieser rebellischen Jugend hat sich unübersehbar verändert. Schauen wir nach Hongkong – dieser Opfergeist. Dasselbe bei den Gelbwesten. Menschen werden verletzt und sterben. Oder Extinction Rebellion, deren Happenings oft darin bestehen, sich tot zu stellen. Auch das ist sehr revolutionär. Diese Menschen sind Held*innen. Sie stellen sich nicht dem Tod, weil sie wissen, dass sie sowieso sterben werden. Sie sind nicht zynisch. Im Gegenteil. Sie sind fanatisch. Was beweist laut Katechismus, dass die Kirche die Wahrheit vertritt? Offenbarung, Tradition und Martyrium. Es sind die Märtyrer*innen, die den Glauben erhalten. Wie du weißt, stamme ich aus einer alten kommunistischen Familie. Ich kenne mich mit Märtyrertum und Opfern aus. Das waren zentrale Erfahrungen der revolutionären Linken, und zugleich sehr christliche. Einmal habe ich meinen Vater gefragt: Wie kannst du dich Kommunist nennen, wenn du doch das Regime hasst? Du beschwerst dich ständig – dies ist Mist, jenes ist Mist. Warum? Er zeigte mir ein Fotoalbum seiner ermordeten Kamerad*innen aus dem Jahr 1944 und sagte: Weil ich es ihnen nicht erklären könnte.

Dann schauen wir uns die Kehrseite der Medaille an. Einerseits Extinction Rebellion, Hongkong, Chile. Andererseits ist das Märtyrertum aber auch für Neonazi-Terrorist*innen eine zentrale Motivation. Sie sind ebenfalls überzeugt, die Welt zu retten und eine neue, bessere aufzubauen.

Aber viel weniger. Kommunismus ist utopisch. Faschismus nicht. Biologie ist keine Utopie. Abschottung ist keine Utopie. Öffnung – das wäre eine Utopie. Sie nehmen an, dass sie heldenhaft seien. Sie fantasieren vom Krieg. Natürlich haben sie eine Art Todeskult, aber nicht den der Märtyrer*innen. Ihr Kult ist der des Mutes, des Kampfgeists, des Kshatriya. Risiko und Kampf. Es ist eine feudale Tradition, eine Adelslogik. Eine Tradition der Raubritter, die tapfer ihr Leben für den Sieg aufs Spiel setzen. Beim Märtyrertum geht es nicht um den Sieg. Es geht darum, vollkommen und heilig zu sein. Was war die religiöse Idee im Kommunismus, die am offensichtlichsten auftrat? Die Selbstaufopferung, um die Zukunft vollkommen zu machen. Aber das ist kein Ideal für Krieger*innen. Krieger*innen müssen siegen. Das war schon immer so, von Shakespeare bis Conan.

Zurück zum Thema: Die Linke schwächt sich selbst. Sie wird Teil des liberalen Lagers, zu einem schlechten Gewissen, das nur noch wiederholt, dass wir besser sein sollten. Ich würde es keinen politischen Standpunkt mehr nennen, sondern eine religiöse, moralische Haltung.

So eine Situation gab es schon einmal bei der Narodnaja Wolja im Russland des 19. Jahrhunderts. Die Versuchung, sich als moralische Instanz zu inszenieren, begleitet die Linke schon immer. Das deutsche Wort dafür gab es schon damals: Gutmensch. Man will sich als etwas Besseres fühlen als diese abstoßende Welt. Ich muss zugeben: Wo wäre ich, wenn es nicht diese kleinen Enklaven gäbe – Bars, Clubs, Buchläden? Ich brauche das Gefühl, von Menschen umgeben zu sein, die vielleicht manchmal unzuverlässig sind, aber mit Sicherheit keine Faschist*innen.

Aber das ist doch wie ein Zoo oder ein Reservat. Das würde ich nicht gerade einen Weg zum Erfolg nennen.

Es ist eine Schwäche, und ja, wir sind schwach.

Am Ende sehe ich in Europa heute nur zwei politische Gruppen, die sich kompromisslos mit dem System anlegen: Anarchist*innen und Faschist*innen. Alle anderen sind, mit mehr oder weniger höflichen Umgangsformen, Teil des Systems.

Dieses System duldet keinen Nonkonformismus. Und ja, in den 1920ern saßen auch Nazis im Gefängnis, sie waren auch in einem gewissen Sinn rebellisch. Solange sie rebellierten, wurden sie weggesperrt. Als sie sich mit der Realität arrangierten, warfen sie wiederum andere ins Gefängnis. Anarchist*innen hingegen bleiben immer Rebell*innen. Sonst wären sie keine Anarchist*innen mehr. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Im Augenblick stehen beide Seiten noch außerhalb des Systems. Die AfD zum Beispiel sagt den Leuten schon lange, dass sie sich von Extremist*innen und politischen Spinnern distanziere. Dabei tut sie es nicht. Sie weiß genau, dass sie die Radikalen braucht, um weiter zu wachsen. Selbst wenn sie kurzfristig Stimmen verliert, verliert sie nicht viel und wächst trotzdem stetig weiter. Und in ihren Reihen hat sie Leute, die für ihren Aktivismus verfolgt wurden, die im Gefängnis gesessen haben, die von der Polizei verprügelt wurden. Auch sie haben eine Geschichte des Kampfs. Heute sitzen diese Menschen in den Parlamenten. Aufgrund ihrer Erfahrung wissen sie, wie man kämpft. Die Abgrenzung von Radikalen ist einer der Gründe, warum die Sozialdemokratie zwischen den Kriegen eine so widersprüchliche Rolle gespielt hat – vor allem in Deutschland. Das lag daran, dass die Kommunist*innen die Sozialdemokrat*innen von ihren kämpfenden Strömungen abgetrennt haben, die sie wiederum übernommen haben. So mussten die Sozialdemokrat*innen gegen ihren Willen nach rechts rücken. Sie hatten ihre Wurzeln verloren – vor allem die Arbeitslosen. Bei der letzten freien Wahl in Deutschland wurde die KPD zur Partei dieser Bevölkerungsgruppe: Ihre Wähler*innen waren im Schnitt 20 Jahre alt – und zu 70 Prozent arbeitslos. Natürlich war diese Partei radikal. Wäre sie es nicht gewesen, hätte sie diese Stimmen nicht bekommen. Diese jungen Leute waren zudem extrem kämpferisch. Sie lieferten sich Straßenschlachten mit den Nazis. Die Rotfront war am Anfang ein Zusammenschluss ehemaliger Mitglieder des Roten Frontkämpferbunds. Junge Menschen schlossen sich an, um auf der Straße zu kämpfen und Polizist*innen zu töten. Die Sozialdemokrat*innen konnten sich das nicht leisten. Sie wollten nicht die Stimmen der Arbeiter*innen, der Hausfrauen und der Rentner*innen verlieren. Also mussten sie sich scharf davon abgrenzen. Das war nicht allein eine Folge ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Sowjetunion. Es ging auch um Wahltaktik. Und um zwei Gruppen, die sich gegenseitig hassten. Dieser Konflikt tritt in der Literatur dieser Zeit sehr deutlich hervor. Die Kommunist*innen waren verzweifelt, jung, hungrig. Für sie gab es keinen Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Bourgeoisie. Denn das waren für sie alles satte, angepasste Typen in Anzug und Hut.

Und am Ende haben beide verloren – die Sozialdemokrat*innen und die Kommunist*innen.

Ja, viele ihrer Wähler*innen stimmten 1933 für die Nazis. Einige traten der NSDAP bei. Aber das heißt nicht, dass sie vergessen hatten, wer sie waren. Thüringen, Sachsen und später Ostdeutschland – das waren allesamt industriell geprägte, kommunistische Regionen. 1945 sagten dieselben Menschen, die zwölf Jahre lang geschwiegen hatten, den Rechten plötzlich: «Fickt euch. Fickt euch – das ist jetzt unser Land.» Das war die späte Rache der besiegten ostdeutschen Arbeiter*innenklasse, der Leute, die in der Krise aus den großen Fabriken geflogen waren und die deshalb früher Kommunist*innen oder Sozialdemokrat*innen gewesen waren. Das Dritte Reich hatte nur zwölf Jahre lang Bestand. In Ungarn stand die Kommunistische Partei 1945 völlig unter Schock. Plötzlich tauchten die ehemaligen Aktivist*innen der Ungarischen Räterepublik von 1919 wieder auf. Nach 23 Jahren! Sie lebten noch. Die Partei plante ein Mehrparteiensystem, eine Volksdemokratie, doch dann kamen diese Leute und sagten: «Fickt euch.» So verhielt es sich in vielen Teilen des Landes. Sie gründeten kleine Räterepubliken, die schließlich von der kommunistischen Miliz zerschlagen wurden. Sie kamen ins Gefängnis, weil die Parteilinie Volksfront war – Koalitionsregierung. Dasselbe in Polen: Wer eine echte Basisdemokratie wollte, landete im Knast.

Und was ist mit einer Synthese? Ist linker Nationalismus eventuell die einzige Linke, die im Hier und Jetzt möglich ist?

Ich habe eine Theorie. Sie ist vielleicht ein bisschen dumm. Aber ich glaube, sie stimmt. Wir haben nur noch dort eine echte Linke, wo der Antifaschismus zu einem Teil der nationalen Identität geworden ist. In Griechenland. In Italien. In einigen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Dort kann niemand sagen, dass Titos Partisan*innen einfach nur Verräter*innen und Schweine waren. Selbst in Kroatien nicht. Oder Spanien und Portugal. Dort war Antifaschismus ebenfalls eine nationale Widerstandsbewegung. Selbst in Frankreich. Wir müssen uns also das Modell von Wallerstein genauer ansehen. Denn in der EU-Peripherie läuft es immer gleich ab. In Polen waren es Piłsudski und faschistoide Oberste; nach dem Zweiten Weltkrieg Mieczysław Moczar und seine Antisemit*innen. Selbst Jaruzelski stand vor dem ewigen Dilemma: nationaler Sozialismus oder Bündnis mit den Liberalen? Dasselbe mit Andrzej Lepper. Immer wieder dieselbe Idee: Lasst uns Patriot*innen sein, unsere Nation ist groß, Religion ist okay, vielleicht sind mir die Priester*innen nicht besonders sympathisch – doch es braucht eine Form von organisierter Spiritualität, und vor allem Umverteilung, wenn auch «in Maßen», damit sie die Produktivität der Wirtschaft nicht zerstört.

Wäre das also einen Versuch wert?

Die Rechte wirft der Linken heute vor, den Kontakt zu den Massen verloren zu haben. Zu jenen Massen, die sie selbst früher so verachtet hat. Wenn Linke heute sagen, dass wir nicht elitär sein dürfen, dann meinen sie oft, dass wir jetzt fremdenfeindlich und rassistisch sein müssen. Genau wie die extreme Rechte, weil sie annehmen, dass das der wirklichen Meinung der arbeitenden Bevölkerung entspricht. Diese Strategie ist erstaunlich weit verbreitet, obwohl sie nicht sehr effektiv zu sein scheint. Sahra Wagenknecht hat es in Deutschland versucht: «Schluss mit Einwanderung, Schluss mit Flüchtlingen!» Aber als kommunistische Anführerin mit romantischem Pathos kannst du das nicht bringen. Dazu musst du schweigen. Du musst nicht sofort «Willkommen!» rufen. Aber du darfst auch nicht dasselbe sagen wie die Faschist*innen. Das ist Selbstmord. Wagenknecht ist eine begabte Politikerin, aber sie ist einen Schritt zu weit gegangen.

Was ist die Folge? Erwartet uns ein Faschismus à la Bolsonaro? Abholzung des Amazonas, ultraliberaler Freihandel, ein starker Staat, eine mächtige Armee und Polizeigewalt?

Mussolini hat den Haushalt saniert und die Märkte dereguliert. Können Faschist*innen ultrakapitalistisch sein? Natürlich. Das würden Volksfaschist*innen nie sein, faschistische Juntas hingegen waren es oft – im Geiste Francos und Salazars. Wer beides gleichzeitig will – Populismus und Ultrakapitalismus – wird verlieren, wie Salvini. Beides zusammen, das ist unvereinbar. Bolsonaro hält noch an einem elitären Konzept fest. Er hat das Militär hinter sich sowie einen Teil der Polizei. Und genau das will die AfD in Deutschland. Die deutsche Polizei ist voller Nazis. Genau wie die griechische. Wir sprechen hier also von einem der reichsten Länder Europas – und einem der ärmsten. Wir sitzen gerade im sonnigen Warschau. Es ist ruhig, schön, friedlich. Genau so war es auch im Juni 1914. Es war auch sehr friedlich.

Wie sollte die europäische Linke also aussehen?

Der Sozialismus ist nicht gescheitert, weil er nie wirklich ausprobiert wurde. Wir müssen es noch einmal versuchen.

Interview von Przemysław Witkowski aus dem Buch Faszyzm, który nadchodzi (Der kommende Faschismus), das von dem Warschauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert wurde. Übersetzung von André Hansen und Claire Schmartz für Gegensatz Translation Collective.

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news-53211 Thu, 13 Mar 2025 10:45:40 +0100 Europas extreme Rechte zieht in den Krieg https://www.rosalux.de/news/id/53211 Bei den Rüstungsausgaben rücken die Parteien der gemäßigten und extremen Rechten zusammen. Von David Broder «Auch die Wahl in Berlin wurde gestohlen.»

David Broder ist Europa-Redakteur für Jacobin und Historiker der kommunistischen Bewegungen Frankreichs und Italiens.

Die Erkenntnis, dass die Wahl in Deutschland vom 23. Februar nicht zu einer Regierungsbeteiligung der extrem rechten Alternative für Deutschland (AfD) führen würde, sorgte bei manchen italienischen Konservativen für Entrüstung. Beispielhaft zeigt sich dies in einem Artikel in La Verità, in dem der Herausgeber dieses rechtsgerichteten Boulevardblatts, Maurizio Belpietro, darüber klagte, dass die stärkste Partei im ehemaligen Ostdeutschland durch «eine unsichtbare Barriere»— wenn auch nicht die «3,6 Meter hohe Mauer» von damals — von der Regierungsbank ferngehalten würde. Der italienische Autor und Think-Tank-Chef Francesco Giubilei, der enge Verbindungen zur Regierung von Giorgia Meloni und zum «national-konservativen» Milieu in den USA pflegt, wandte sich direkt an Friedrich Merz: «Statt ein Bündnis mit den Sozialisten einzugehen, die Deutschland zerstört haben, sollte [die CDU/CSU] lieber ein rechtes Bündnis mit der AfD eingehen. Die gemeinsamen Anliegen: Freiheit, ‹keine Grünen›, Einwanderungsstopp.»

Während Meloni ihrerseits das Wahlergebnis der AfD nicht kommentierte, bezeichnete Matteo Salvini, der stellvertretende Ministerpräsident und Vorsitzende der migrationsfeindlichen Lega, die knapp 21 Prozent für die AfD als «ein Votum für Hoffnung, für die Zukunft». Zudem kritisierte er eine mögliche Koalition zwischen den beiden Parteien der Mitte, bei der die Sozialdemokraten «an ihren Posten [im Kabinett] kleben bleiben, als ob nichts geschehen wäre». Die Brandmauer gegen die AfD betrachtete er als zum Scheitern verurteilt. Nicht zuletzt empfahl er den Patrioten für Europa (seiner Fraktion im Europäischen Parlament, der auch Marine Le Pens Rassemblement National angehört), die Beziehungen zur AfD zu intensivieren.

Solche Aufrufe spiegeln eine Idee wider, über die vor den EU-Wahlen im vergangenen Juni heftig spekuliert wurde: über die Schaffung einer «Allianz rechter Kräfte», zumindest auf EU-Ebene; ähnlich derjenigen, die derzeit Italien regiert. Die italienische Allianz entstand erstmals 1994, als der Milliardär und spätere Ministerpräsident Silvio Berlusconi ein Bündnis mit der Lega und der postfaschistischen Partei (die heute als Melonis Fratelli d’Italia neu gegründet wurde) schmiedete. Im Ausland erklären häufig migrationsfeindliche und unternehmensfreundliche Nationalist*innen wie die Französin Marion Maréchal, die sich nicht einem Populismus vom Typ «Weder rechts noch links» verpflichtet fühlen, dieses langwährende Bündnis zwischen den drei rechten Parteien in Italien zum Vorbild.

Während die AfD früher immer wieder ein Referendum über den EU-Austritt forderte, legt sie heute einen stärkeren Fokus auf eine Neuausrichtung der Union, bei der die Nationalstaaten einen Teil ihrer Macht zurückerhalten würden.

Kurz vor der Bundestagswahl äußerte Giubilei in einem Radiointerview die Ansicht, dass die AfD weder eine traditionell konservative Partei sei noch den Regierungsparteien in Italien ähnele (er beschrieb sie als «in vielerlei Hinsicht post-ideologisch»). Und doch zielten seine Überlegungen darauf ab, dass die Koalitionsbildung in Deutschland einem ähnlichen Muster wie in Italien folgen sollte. Dennoch klang Belpietros Behauptung einer «gestohlenen Wahl in Berlin» reichlich deplatziert angesichts der Tatsache, dass Merz bereits im Vorfeld der Wahl eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen hatte – und das, obwohl beide Parteien erst kürzlich gemeinsam für einen Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik gestimmt hatten.

Allerdings lässt sich an diesen positiven Bezugnahmen auf die AfD eine Veränderung der Wahrnehmung der Partei durch ihre Gegenparts im Ausland feststellen, oder zumindest in deren öffentlichem Umgang mit der Partei. Noch während ihrer siegreichen Wahlkampagne 2022 betonte Meloni ihre «transatlantisch orientierte» Außenpolitik – einschließlich einer Zusammenarbeit mit der Biden-Regierung und einer Unterstützung derer Ukraine-Hilfen – und erhielt in diesem Zuge Lob von Zeitungen wie der Washington Post und der Londoner Times für ihre konformistische Zurückhaltung auf diesem Gebiet.

Es war ihre Distanzierung von Kräften, die als zu nachsichtig gegenüber Wladimir Putin galten – womit hauptsächlich die AfD gemeint war –, die oftmals dazu führte, dass Melonis Partei im Umfeld des respektablen Mainstreams situiert wurde, was ihr Außenminister (und der Vorsitzende von Forza Italia) Antonio Tajani sowie dessen Verbündete auf europäischer Ebene bestärkten, etwa Ursula von der Leyen und Manfred Weber. Es waren diese beiden, die vor den EU-Wahlen vom Juni 2024 betonten, dass sie ausschließlich mit Kräften zusammenarbeiten würden, die «für den Rechtsstaat, für Europa und für die Ukraine» seien: ja zu Meloni, nein zur AfD. Selbst der französische Rassemblement National machte bei diesem Spiel mit, als er seine frühere Kritik an der NATO beiseite wischte und, unmittelbar vor den EU-Wahlen, seine Allianz mit der AfD aufkündigte. Die Parteiführer*innen, Marine Le Pen und Jordan Bardella, schienen dem Rat des Unternehmers Alain Minc zu folgen, mehr wie Meloni zu sein und bei den Themen ausgeglichener Haushalt und transatlantische Außenpolitik auf den «Kreis der Vernünftigen» «zu hören».

Alternative für Europa?

Ist die Ausgrenzung der AfD jetzt passé, weil sie bei der Wahl 20,8 Prozent errungen hat? Nicht unbedingt. Nicola Procaccini, die Vorsitzende von Melonis Gruppe im Europäischen Parlament, sagte Deutschland Jahre der Instabilität voraus, weil «das kohärenteste Bündnis, welches zu vielen der internen Probleme – wie Einwanderung, Sicherheit und Wirtschaft –, eine gemeinsame Vision hätte, so gut wie unmöglich ist», womit sie einen Pakt zwischen CDU-Chef Merz und der AfD meinte. Procaccini kritisierte die «Brandmauer» und betonte, dass Merz sehr viel weiter rechts stehe als seine Vorgängerin Angela Merkel. Sie bezweifelte jedoch, dass es zu einer Verständigung kommen werde. «Ein Dialog mit der AfD ist unmöglich, nicht so sehr wegen der Frage persönlicher Rechte, wo sie sehr offen sind, sondern wegen ihrer internationalen Positionen.» Die «Begeisterung» der deutschen Partei für den «Putin von heute» – das Wort «heute» soll dabei in Erinnerung rufen, dass Meloni noch vor einigen Jahren den Putin von «gestern» anpries – «macht es unmöglich, mit ihnen einen gemeinsamen Weg einzuschlagen».

Der italienische Vizeminister für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit Edmondo Cirielli, der auch Melonis Partei angehört, wählte eine leicht andere Herangehensweise: Die christdemokratische Partei solle die AfD «institutionalisieren», indem sie diese entweder in die Regierung aufnehme oder ihr zumindest als Opposition auf Augenhöhe begegne, anstatt so zu tun, als ob ihre Basis aus «6 Millionen Nazis» bestehe. Zur Frage der internationalen Beziehungen warf Cirielli zudem ein, dass die Position von Donald Trump dabei behilflich sein könne, den Konflikt zwischen verschiedenen Teilen der Rechten zu überwinden.

Uns droht also womöglich genau das, wovor viele europäischen Staats- und Regierungschefs warnen: der Zusammenbruch der ukrainischen Front oder zumindest eine Situation, bei der Kyjiw gezwungen wird, in einem von der Trump-Regierung ausgehandelten Abkommen massiven territorialen Zugeständnissen zuzustimmen.

Wenn führende Mitglieder der Europäischen Volkspartei wie von der Leyen bislang eine proeuropäische und transatlantische Haltung zum Maßstab für die Unterscheidung zwischen Verbündeten und Gegner*innen erhoben haben – wie steht es heute um diesen Ansatz? Jenseits von Italien stehen sowohl in Schweden als auch in Finnland Mitte-Rechts-Parteien an der Spitze der Regierungen, und zwar gestützt durch rechte Parteien, die ihre NATO-Ablehnung abgelegt und ihre Euro-Skepsis mittlerweile in mehrdeutigen Begriffen verpackt haben. Ein Aspekt der EU-Wahlen 2024, dem nicht hinreichend Aufmerksamkeit geschenkt wurde, war die Tatsache, dass im Vergleich zu 2019 oder auch 2014 kaum noch Parteien antraten, die zum Austritt ihrer Länder aus der EU aufriefen.

Während die AfD früher immer wieder ein Referendum über den EU-Austritt forderte, legt sie heute einen stärkeren Fokus auf eine Neuausrichtung der Union, bei der die Nationalstaaten einen Teil ihrer Macht zurückerhalten würden: eine «europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft» statt einer föderalen Union. Das Wahlprogramm der Fratelli d’Italia von 2024 – das verfasst wurde, als Meloni bereits eine der zentralen Figuren in der EU-Politik war – präsentierte die Wahl dreist als Entscheidung zwischen einem «Superstaat im Stile der Sowjetunion» und der Neuorientierung hin zu einer «europäischen Konföderation» von «starken Nationen». Einmal in hohe Ämter gelangt, machen extrem rechte Parteien regelmäßig Gebrauch von dieser Art vager Versprechungen. Wer diese Masche bereits kennt, mag sich fragen, wie viel davon wirklich unabdingbar ist, damit der AfD eine führende Rolle zugedacht wird. Klar ist hingegen, dass die AfD angesichts der gewichtigen Rolle Deutschlands in der EU ein weit größeres disruptives Potenzial besitzt als seine italienischen Gegenparts.

Weniger grün, mehr Waffen

Am Abend der Bundestagswahl sprach Merz davon, dass es «fünf vor Zwölf» für Europa und daher notwendig sei, «Europa so schnell wie möglich zu stärken, um Unabhängigkeit von den USA zu erreichen». Die meisten Kommentare verstanden dies als Forderung nach einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben und als Zeichen dafür, dass die neue Bundesregierung zu diesem Zweck die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse lockern könnte. Schließlich stand nicht nur die US-Militärhilfe für die Ukraine in Frage, sondern auch Washingtons politische Solidarität mit seinen europäischen Partnern. Eine Woche zuvor hatte US-Vizepräsident JD Vance den europäischen Staaten auf der Münchner Sicherheitskonferenz vorgeworfen, die freie Meinungsäußerung mit Füßen zu treten, weshalb sie nicht länger auf die Verteidigung durch die USA zählen könnten. Teil dieser Rede war auch eine scharfe Kritik an der sogenannten Brandmauer, mit der die AfD von jeglicher Regierungsverantwortung abgehalten wird.

Die Partei wird fast einhellig so dargestellt, als ob sie sich einer Aufrüstung Deutschlands entgegenstellen würde – ein Bild, das insbesondere auf ihrer Ablehnung von Waffenlieferungen an Kyjiw, ihrer Forderung nach einem Ende der Sanktionen gegen Russland und der wiederholten Aussage fußt, dass vor den ukrainischen Verteidigungsausgaben zunächst die deutschen Energierechnungen beglichen werden müssten. Es scheint daher nahe zu liegen, dass die Partei ihre Position zur Schuldenbremse von solchen Fragen abhängig machen könnte, um weitere Unzufriedenheit mit der Regierung zu schüren. Allerdings forderte die AfD bereits 2017 eine Stärkung der europäischen Säule der NATO (wenn auch den «deutschen Interessen» untergeordnet), und das AfD-Wahlprogramm von 2025 betont die Bedeutung der NATO bis zur erhofften Schaffung eines «unabhängigen und handlungsfähigen europäischen Militärbündnisses». Der Fokus auf eine «interessenbasierte» Außenpolitik sowie auf bessere Beziehungen zu Russland und China sind offensichtlich Ausdruck einer Aversion gegenüber dem liberalen Internationalismus. Der Aufruf zu Frieden spielte in der AfD-Kampagne eine zentrale Rolle. Es ist allerdings weniger klar, dass dies per se mit einer grundsätzlichen Abneigung gegen eine Erhöhung der Militärausgaben einhergeht.

Das von Trump eingeleitete Ende der Hilfen für Kyjiw sowie die scheinbar geringen Chancen der Ukraine, den Kampf nur mit Hilfe von EU-Staaten bestreiten zu können, könnten die Fragestellung enorm verändern. Uns droht also womöglich genau das, wovor viele europäischen Staats- und Regierungschefs warnen: der Zusammenbruch der ukrainischen Front oder zumindest eine Situation, bei der Kyjiw gezwungen wird, in einem von der Trump-Regierung ausgehandelten Abkommen massiven territorialen Zugeständnissen zuzustimmen. Doch selbst, wenn das passiert und die Kämpfe beendet werden, könnte es dennoch – mit Verzögerung – zu der von denselben Politiker*innen vorgeschlagenen Lösung kommen: nämlich einer drastischen Steigerung der Verteidigungsausgaben.

Für extrem rechte Kräfte, die bereits in Regierungsverantwortung sind , kann eine militärische Neuaufstellung Europas sicherlich eine attraktive Perspektive darstellen.

Diese werden kaum die fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), von denen Trump sprach, erreichen (mehr als das Dreifache der bisherigen europäischen Ausgaben). Doch mit dem Versprechen mehrerer europäischer NATO-Mitglieder, die Militärausgaben rapide zu erhöhen – von den baltischen Staaten bis zu neuen NATO-Mitgliedern in Skandinavien, ganz zu schweigen von der britischen Labour-Regierung (die versprach, Gelder aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit umzuschichten) – scheint der Trend bereits festzustehen.

Es bleiben allerdings noch viele Fragen offen: Werden die europäischen Staaten von US-Anbietern kaufen, oder werden die EU-Staaten neue Produktionskapazitäten aufbauen, wie es der letzte Draghi-Bericht des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank zur Wettbewerbsfähigkeit der EU nahelegt? Kann dieses Projekt aus EU-Mitteln und durch eine gemeinsame Schuldenaufnahme finanziert werden, oder wird es von erbsenzählenden Nationalist*innen der wohlhabenderen Mitgliedstaaten torpediert? Immerhin wurde die AfD von Personen gegründet, die eine gemeinsame europäische Schuldenaufnahme ablehnten. Und impliziert eine Stärkung des europäischen NATO-Flügels die Schaffung einer echten EU-Armee, oder soll sie letzten Endes nur die jeweiligen nationalen Armeen und ihre gemeinsame Koordination stärken?

Hier kommen unweigerlich weitergehende Fragen hinsichtlich des Föderalismus und der Autonomie der einzelnen Staaten ins Spiel. Das Thema sollte aber weder als Nullsummenspiel zwischen Nettobeitragszahler*innen zum EU-Haushalt und Empfänger*innen ausgetragen, noch entsprechend der Logik von Projekten wie dem Europäischen Grünen Deal umgesetzt werden, da extrem rechte Parteien die dabei geplanten EU-Ausgaben in Höhe von einer Billion Euro grundsätzlich ablehnen. Trumps Druck auf die europäischen Staaten, mehr für die Verteidigung auszugeben, eröffnet paradoxerweise eine Chance, die Schnittmenge der Interessen wahrzunehmen – trotz unterschiedlicher Positionen zum Thema Ukraine – zwischen liberal-internationalistischen Kräften, die für eine stärkere strategische Autonomie Europas eintreten, und nationalistischen Parteien, die die Vorteile eines militärischen Keynesianismus sehen, einschließlich der damit verbundenen Reindustrialisierung.

Selbst Parteien, die den Green Deal ablehnten, und jene, die in der Post-2008-Ära behaupteten, die EU verschwende Steuereinnahmen für die Unterstützung der Sozialsysteme in Südeuropa (wie die AfD oder die Partei für die Freiheit von Geert Wilders in den Niederlanden), könnten ihre Haltung zu einer gemeinsamen Schuldenaufnahme für spezifisch militärische Zwecke ändern. Man nehme das Beispiel des französischen Rassemblement National, der vor der Präsidentschaftswahl im Jahr 2022 eine Steigerung der französischen Verteidigungsausgaben von 41 auf 55 Milliarden Euro forderte. Vor Kurzem veröffentlichte dessen Parteivorsitzender Bardella einen offenen Brief, in dem er zu einem Bündnis rechter Kräfte in der EU aufrief, um den Green Deal zu begraben und der Wirtschaft größeren Gestaltungsfreiraum zu verschaffen. Der Aufbau neuer Kapazitäten der Rüstungsindustrie könnte sich als weit effizienteres ideologisches Banner erweisen, um ein breites Spektrum an rechten Parteien zusammenzubringen, die gemeinsam eine Schuldenaufnahme auf europäischer Ebene unterstützen, ohne diesen offenbaren «Föderalismus» auf alle Themen anwenden oder gar damit eine EU-Armee meinen zu müssen.

Zeiten der Veränderung

Die Selbstdarstellung der AfD als «Friedenspartei» und ihre häufige Beschreibung in den Medien als «Kreml-freundlich» verweisen auf die Bedeutung, die ihre Positionen in der Ukrainefrage für ihre Wählerschaft haben. Teile der Rechten, dazu zählt auch Trump, sind bestrebt, die Beziehungen zu Russland zu verbessern, um sich stattdessen auf eine Konfrontation mit China konzentrieren zu können. Die AfD hingegen spricht davon, die Beziehungen zu Peking zu verbessern. Dabei sollen deutsche Interessen allerdings weiterhin Vorrang haben.

Doch weder solche Positionen noch die Orientierung am freien Markt oder die rechts-libertären, Milei-artigen Anwandlungen bedeuten, dass die Partei Staatsinterventionismus und staatliche Ausgaben per se ablehnt, am allerwenigsten im militärischen Bereich. In ihrem Wahlprogramm von 2025 drückte die AfD ihre inbrünstige Bewunderung für die Bundeswehr und ihre «besten Traditionen» aus. Dabei handelte es sich nicht allein um ein rhetorisches Hochhalten von «militärischem Liedgut und Brauchtum» sowie der «soldatischen Haltung und Tugenden in der Öffentlichkeit», sondern auch um die Forderung nach einer Rückkehr zur Wehrpflicht und einer bedeutenden Erhöhung der Finanzmittel für die Bundeswehr.

Auf dem Januar-Kongress der AfD wollte Tino-Chrupalla, der Ko-Vorsitzende der Partei, die Forderung nach einer Wiedereinführung der Wehrpflicht aus dem Programm streichen, doch 70 Prozent der Delegierten stimmten dagegen. Entsprechend fand sich im Wahlprogramm folgende Passage: «Die deutschen Streitkräfte sind nicht verteidigungsfähig. Mit der im Februar 2022 ausgerufenen ‹Zeitenwende› wurde das auch von der Bundesregierung anerkannt. Trotzdem bleiben die erforderlichen Maßnahmen für den Wiederaufbau der Bundeswehr aus. Aufgrund der chronischen Unterfinanzierung über Jahrzehnte, sowie der fortlaufenden Abgabe von einsatzfähigem Material und Waffensystemen aus Beständen der Bundeswehr an die Ukraine und der Dauerbelastung der Truppe durch die Ausbildung von ukrainischen Soldaten, befinden sich die deutschen Streitkräfte in einem desolaten Zustand.» Die Lösung: die Hilfen für die Ukraine zurückschrauben und stattdessen die Finanzierung und Einsatzbereitschaft der Bundeswehr stärken.

Für extrem rechte Kräfte, die bereits in Regierungsverantwortung sind – dies gilt insbesondere für Fratelli d’Italia –, kann eine militärische Neuaufstellung Europas sicherlich eine attraktive Perspektive darstellen, nicht zuletzt deswegen, weil die Gelder, die für den Aufbau nach der Coronapandemie gedacht waren und Italien in den letzten Jahren ein bescheidenes Wirtschaftswachstum bescherten, inzwischen zur Neige gehen. Die Rechten sprechen von einer Stärkung der Armeen Europas, sind allerdings skeptischer, wenn es um eine europäische Armee geht. Angesichts ihrer bereits vollzogenen Einbindung in die Führung der EU ist es jedoch längst an der Zeit, dass Kommentator*innen aufhören, Meloni als «isoliert in Europa» oder als Verfechterin einer allgemeinen «Euroskepsis» darzustellen, die mit einer Fundamentalopposition gegen Projekte auf EU-Ebene einhergehen würde. Wie viele ihrer europäischen Schwesterparteien distanziert sich auch ihre Partei bei ausgewählten Themen stark von gemeinschaftlichen Lösungsansätzen (insbesondere bei der Energiewende), während sie bei anderen durchaus zur Zusammenarbeit bereit ist.

Generell lässt sich feststellen, dass einstige Brexit-Befürworter*innen wie Fratelli d’Italia oder die Partei für die Freiheit von Geert Wilders heute davon sprechen, Europa selbst, von innen heraus, zu verändern – oder wie Bardella es ausdrückt: Sie müssen nicht länger austreten, denn «wer kurz vor dem Gewinn steht, muss den Verhandlungstisch nicht verlassen». Stattdessen setzt die extreme Rechte mittlerweile in mancherlei Hinsicht eigene Akzente, etwa wenn von der Leyen die Pläne der italienischen Ministerpräsidentin unterstützt, den Grenzschutz in Nicht-EU-Staaten in Nordafrika oder nach Albanien auszulagern – Pläne, die mittlerweile sogar von linksliberalen Parteien übernommen werden. Selbst Parteien mit einer offensichtlichen nationalistischen Ausrichtung können Maßnahmen vorschlagen, die von der EU im Namen der europäischen Solidarität umgesetzt werden sollen und eher den ausschließenden Charakter des Europäisch-Seins betonen als dessen Verbindung zu einer aufgeklärten Weltoffenheit.

Selbst Parteien, die des Öfteren Kampagnen gegen die Bürokratie in Brüssel führten, machen eine Ausnahme, wenn es um den Ausbau der militärischen Zusammenarbeit in Europa geht.

Ihre Ausrichtung an der Außenpolitik von Joe Biden, von der Ukraine bis Israel, dient Meloni und Co. seit 2022 als Kernelement ihrer Außendarstellung als stabile und kompetente Kraft an der Spitze des Landes. Sicherlich beruhigte dieser Ansatz Politiker*innen der italienischen Mitte, die der Regierung vor allem bei ihrer internationalen Positionierung auf die Finger schauten. Darüber hinaus erntete Meloni in Washington dafür Beifall, sowohl Gegenstimmen von rechts als auch von pazifistischer Seite zurückgedrängt zu haben.

Die neue Trump-Regierung hat jedoch alles auf den Kopf gestellt. US-Zölle auf Importe aus der EU könnte Volkswirtschaften wie Italien treffen, und zwar unabhängig von ideologischen Übereinstimmungen zwischen den aktuellen Regierungen in Rom und Washington oder geteilten Positionen zum «Kulturkampf». Zudem wurde das Konzept der von Liberalen so gerne genutzten Unterscheidung zwischen «transatlantischen» und «pro-russischen» Teilen der Rechten mit der Trump-Regierung offensichtlich aus den Angeln gehoben. Konkret waren es einige seiner wichtigsten Vertreter (Elon Musk, JD Vance und zu einem gewissen Maße Marco Rubio), die diese Unterscheidung obsolet werden ließen, als sie europäische Konservative an den Pranger stellten, die die AfD ausgrenzen.

Gewiss gibt es in Europa Politiker*innen, die dezidiert für eine aktivere Rolle der EU im Ukraine-Krieg eintreten – allen voran Emmanuel Macron, der gar die Entsendung europäischer Truppen fordert – sowie andere, insbesondere Meloni, die unverblümt sagen, dass der US-Regierung die Hauptrolle beim Abschluss eines Abkommens zukomme. Selbst nach dem öffentlichen Zwist zwischen Wolodymyr Selenskyj und Trump am 28. Februar blieb die Position der italienischen Ministerpräsidentin unverändert: Sie besteht weiterhin darauf, dass die Staats- und Regierungschefs der EU den Dialog mit dem US-Präsidenten suchen müssten. Angesichts Europas offenkundiger Führungsschwäche bei der Gestaltung des Konfliktausgangs ist jedoch unklar, ob diese unterschiedlichen Positionen zu einem von außen diktierten Friedensabkommen eine dauerhafte Spaltung in der EU-Politik bewirken werden – eine Spaltung, die klar zwischen dem hegemonialen Lager des Blocks und jenen anderen Akteur*innen unterscheiden würde, die leicht als Kreml-freundliche Extremist*innen abgestempelt werden können.

In der Tat trennen die unterschiedlichen Haltungen der CDU/CSU und der AfD zur Ukraine die beiden Parteien voneinander. Und angesichts der Wahrscheinlichkeit einer Koalition zweier Parteien der Mitte ist es leicht vorstellbar, dass die deutsche Rechte von der Oppositionsbank aus jede Chance nutzen wird, in ihre Entscheidungen hineinzugrätschen. Ihr Bemühen, sich selbst als «Friedenspartei» von den anderen abzuheben, kann sehr gut dazu führen, dass sie sich gegen jeden Versuch einer Lockerung der Schuldenbremse stellen wird. Aktuell zieht sich die US-Regierung schrittweise aus ihrem seit dem Zweiten Weltkrieg währenden militärischen Schutz des Kontinents zurück. Die Vorstellung, dass Europa angesichts dessen endlich dazu gezwungen sei, auf eigenen Beinen zu stehen, sollte jedoch nicht voreilig als Anlass für eine Wiederbelebung liberal-internationalistischer Werte gedeutet werden, die in den Augen einiger einen Schutzwall gegen Europas eigene extrem rechte und Trumpsche Parteien darstellen.

Die ersten Versuche zur Etablierung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in den 1950er Jahren scheiterten am französischen Parlament, wo sie sowohl die Kommunist*innen ablehnten, denen die Logik des Kalten Krieges nicht behagte, als auch die Gaullist*innen, die dadurch ihr Konzept einer französischen Autonomie gefährdet sahen. Die Truman- und Eisenhower-Regierungen strebten ein Europa an, das unter Washingtons Ägide seine Verteidigung in die eigenen Hände nehmen würde. Damals beharrte Charles de Gaulle allerdings darauf, dass es erst dann eine europäische Armee geben könne, wenn «Europa» als «politische, ökonomische, finanzielle, administrative und, insbesondere, moralische Realität» existiere; ein Europa, das auf die Loyalität seiner Subjekte zählen könne, und «falls nötig, ein Europa, für das Millionen zu sterben bereit sind».

Die EU von 2025 genügt einem solche Standard offensichtlich nicht. Aber selbst Parteien, die des Öfteren Kampagnen gegen die Bürokratie in Brüssel führten, machen eine Ausnahme, wenn es um den Ausbau der militärischen Zusammenarbeit in Europa geht. Procaccini drückte es so aus: «Wir waren stets der Meinung, dass sich die Europäische Union nicht in alles einmischen sollte, mit Ausnahme einiger weniger wichtiger Punkte. Die gemeinsame Verteidigung europäischer Grenzen und Interessen ist eines der wenigen Dinge, für die die EU nützlich ist – und wie!»

Übersetzung von Sebastian Landsberger und Claire Schmartz für Gegensatz Translation Collective.

 
 

 

 

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news-53210 Wed, 12 Mar 2025 17:26:33 +0100 Tunesien: Demokratie oder Wirtschaftsliberalismus https://www.rosalux.de/news/id/53210 Das Land galt als «Leuchtturm der Demokratie», doch damit ist es längst vorbei. Lange galt Tunesien, das im «Arabischen Frühling» seinen langjährigen Diktator Ben Ali gestürzt hatte, als «Leuchtturm der Demokratie». Doch damit ist es inzwischen vorbei. Denn der 2019 gewählte Präsident, Kais Saied, hat die Institutionen der Demokratie schrittweise ausgehöhlt und seine Alleinregierung befestigt. Wie konnte es dazu kommen?

Aufbruch in die Demokratie

Als sich am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid der junge Straßenhändler Mohamed Bouazizi aus Protest gegen die Schikane der Polizei in Brand setzte, löste dieser Schritt ein politisches Erdbeben aus. Innerhalb weniger Wochen wurde eines der bis dahin stabilsten Regime der Region gestürzt.

Dabei richtete der Aufstand sich nicht nur gegen die Diktatur, sondern auch gegen die soziale Ungerechtigkeit im Land. Steigende Arbeitslosigkeit, die vor allem im Landesinneren grassierende Armut und eine weithin sichtbare Konzentration von Reichtum und Ressourcen in den Händen der Eliten – und insbesondere im Umfeld des Präsidenten – brachten das Fass zum Überlaufen. Als Ben Ali nach 23-jähriger Herrschaft am 14. Januar 2011 das Land verließ, war die Hoffnung groß, dass der Umsturz zu Demokratie und sozialer Gerechtigkeit führen werde.

Und in der Tat konnte die Revolution anfangs durchaus Erfolge vorweisen. Die neue Verfassung galt als progressivste in der arabischen Welt, und die 2014 nach ihrer Verabschiedung stattfindende Parlamentswahl verlief frei und fair. Auch in der Meinungs- und Assoziationsfreiheit wurden mit der Pressefreiheit, der Anerkennung konkurrierender Parteien und der Gründung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen große Fortschritte erzielt. Die breite Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozess zeigte eindrucksvoll auch das sogenannte nationale Quartett, das aus dem Gewerkschaftsdachverband, dem Industrie- und Handelsverband, der Tunesischen Liga für Menschenrechte und der Vereinigung der Rechtsanwälte bestand. Der gesellschaftliche Einfluss dieses Quartetts war von entscheidender Bedeutung für den Übergang zur parlamentarischen Demokratie.

Die unvollendete Revolution

Doch die Revolution blieb sozial unvollendet. Der Soziologe Mouldi Guessoumi, der mit seiner Studie «Die Gesellschaft der Revolution und der Postrevolution» die beste Untersuchung der zeitgenössischen tunesischen Gesellschaft vorgelegt hat, erkannte den Grundfehler des Transformationsprozesses in der fatalen Annahme, der Aufbau der Demokratie werde quasi automatisch die wirtschaftliche Entwicklung beflügeln. Das aber war mitnichten der Fall, im Gegenteil.

In der Praxis bedeutete dies, dass sich trotz der gewonnenen bürgerlichen Freiheiten kaum etwas an den materiellen Lebensbedingungen der Menschen änderte – jedenfalls nicht zum Besseren. Hohe Inflationsraten, steigende Lebenshaltungskosten und die Krise wichtiger Wirtschaftszweige – darunter des Tourismus – verstärkten vielmehr die Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit. Bereits im Januar 2016 warnte das Tunesische Forum für soziale und wirtschaftliche Rechte vor einem «sozialen Tsunami».

Während die politische und wirtschaftliche Macht sich weiterhin im Küstenstreifen um Tunis, Sfax und Sousse konzentrierte, blieben andere Regionen von Armut und staatlicher Vernachlässigung geprägt. Den zahlreichen sozialen Protesten, die hier stattfanden, schenkte man in der Hauptstadt nur wenig Beachtung.

Besonders hart getroffen von der wirtschaftlichen Misere wurde die Jugend des Landes. Denn die explodierende Arbeitslosigkeit betraf viele junge und oftmals gut ausgebildete Tunesier*innen. Sie waren die Ersten, unter denen sich Desillusionierung breitmachte.

Hinzu kam, dass auch die Bekämpfung der Korruption – eine der Hauptforderungen der Revolution – scheiterte. Halbherzige Versuche, Personen aus dem Umfeld Ben Alis zur Rechenschaft zu ziehen, führten letztlich nur dazu, dass sich die Netzwerke der Korruption umorganisierten. Den Reichtum des Landes teilten die Eliten weiterhin unter sich auf.

Im Ergebnis führten die ungelösten Probleme zum massiven Vertrauensverlust des politischen Systems und seiner Akteure.

Nach 2011 hatte sich zunächst die gemäßigt islamistische Partei Ennahdha des Zuspruchs vieler Tunesier*innen erfreut, was nicht zuletzt auf ihre islamisch-konservative Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit zurückging. Da die Partei sich aber zugleich dem Wirtschaftsliberalismus verschrieb, blieb von sozialer Politik nicht viel übrig.

Die säkulare Partei Nidaa Tounes, die 2014 stärkste Fraktion im Parlament wurde, berief sich auf die «goldene Zeit» Tunesiens in den Jahren nach Erlangung der Unabhängigkeit, als der Staat in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur investierte und sozialer Aufstieg noch möglich war. Aber in der Regierungspraxis tat auch diese Partei kaum etwas gegen die soziale Verelendung vieler Bürger*innen.

Tragischerweise gelang es der tunisischen Linken nicht, mit konkreten, greifbaren Konzepten die Rivalität der beiden großen Parteien auszunutzen. Sie errang zwar mit der Volksfront, einem Bündnis linker Parteien und Organisationen, bei der Parlamentswahl 2014 immerhin 15 Sitze, war jedoch zu sehr mit ihrer ideologischen Gegnerschaft zum politischen Islam und ihren internen Konflikten beschäftigt, als dass sie eine politische Alternative hätte sein können.

Die Selbstdemontage der Parteien unterschiedlicher Couleur führte dazu, dass Kritik an der Politik sich zunehmend außerhalb der Institutionen des Systems artikulierte. Der Frust der Bevölkerung traf aber auch Gewerkschaften, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen.

Der Aufstieg von Kais Saied

Als nach dem Tod von Präsident Béji Caid Essebsi im Sommer 2019 Neuwahlen ausgerufen wurden, war das institutionelle Gefüge daher bereits erschüttert. Der ultrakonservative Kais Saied war ein politischer Außenseiter, der keiner Partei angehörte und vor seiner Kandidatur lediglich als Dozent für Verfassungsrecht in Erscheinung getreten war. Kritik an der Verfassung und den staatlichen Institutionen sowie seine Befürwortung der Todesstrafe und Polemik gegen die Zivilgesellschaft trafen in der desillusionierten Wählerschaft auf offene Ohren.

Als Präsidentschaftskandidat erklärte Saied offen, die bestehenden Institutionen nicht reformieren, sondern durch neue Strukturen ersetzen zu wollen. Dieser radikale Vorschlag weckte bei vielen Menschen die Hoffnung, die in ihren Augen «gekaperte Revolution» doch noch zurückerobern zu können.

Saied versprach allen das, was sie hören wollten – von eher linken Forderungen wie jene nach sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung bis hin zu religiös-konservativen Vorschlägen zu Geschlechter(un)gleichheit oder nationaler Identität. Dieser Ansatz ermöglichte ihm die Mobilisierung ganz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen.

In erster Linie aber mobilisierte Saied ganz gezielt jene, die sich als Verlierer der Revolution sahen: die Jugend und die Protestbewegungen. Frühzeitig sicherte er sich die Unterstützung der «Bewegung der Jugend Tunesiens», die – wie Saied – offen erklärte, das politische System ersetzen zu wollen. Für sie war Saied die letzte Hoffnung der Revolution. Dass in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 90 Prozent der 18- bis 25-jährigen Wähler*innen für Saied stimmten, bewies den Erfolg der Mobilisierung.

Die zweite Strömung bildeten die Protestbewegungen, die sich in den Jahren nach der Revolution gegründet hatten. Ihnen ging es vor allem um die gerechtere Verteilung der finanziellen Ressourcen zwischen den Regionen. Ein Großteil dieser Bewegungen votierte ebenfalls für Saied.

Die dritte Gruppe, die Saieds Kandidatur unterstützte, war das «Bündnis der Würde». Diese Partei war aus den – aufgrund ihrer Radikalisierung gerichtlich aufgelösten – «Ligen zum Schutz der Revolution» hervorgegangen und stimmte mit Saied darin überein, einen auf der Scharia basierenden Staat schaffen zu wollen.

Die breite Unterstützung zeigt, dass das Feld für den Aufstieg Saieds bereits bestellt war. Er gewann denn auch die Stichwahl im Oktober 2019.

Der Staatsstreich

Die Parlamentswahl 2019 hingegen brachte eine äußerst fragmentierte Legislative hervor, deren Handlungsfähigkeit durch andauernde Konflikte und Blockaden immer weiter untergraben wurde. Das spielte Saied in die Karten.

Nach landesweiten Proteste gegen die Regierung wagte der Präsident unter Berufung auf den Notstandsartikel 80 der tunesischen Verfassung dann am 25. Juli 2021 den Staatsstreich. Dieser Schritt traf zunächst auf breite Zustimmung in der Gesellschaft, während die Parteien, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft regelrecht überrumpelt wurden und sich über das weitere Vorgehen heillos zerstritten.

Nun begann Saied seinen Durchmarsch durch die Institutionen. Zwei Monate nach dem Putsch setzte er die Verfassung de facto außer Kraft, löste das Parlament auf und ließ Politiker*innen aus allen politischen Lagern verhaften oder anderweitig juristisch verfolgen. Auch Medien und Justiz unterstellte Saied seiner Kontrolle. Anschließend ließ der Präsident seine weitreichenden Kompetenzen in einer neuen Verfassung festschreiben, die im Juli 2022 in einem Referendum angenommen wurde.

Angesichts der sozialen und politischen Misere, in der sich Tunesien befindet, überrascht es nicht, dass breiter Widerstand gegen Saieds Errichtung einer Diktatur ausblieb. Die Verbindung von parlamentarischer Demokratie und Wirtschaftsliberalismus hatte sich in dem von weit verbreiteter Armut geprägten Land als überaus fragil erwiesen. Zudem hat das vom Saied-Regime geschaffene Klima der Angst kritische Stimmen weitgehend zum Schweigen gebracht. Vor dem Zorn des Präsidenten sind selbst enge Verbündete nicht sicher, wie die häufigen Umbesetzungen politischer Posten belegen.

Erschwerend hinzu kommt, dass das europäische Ausland sich rasch mit Saieds Diktatur arrangierte, weil man die Chance witterte, den tunesischen Präsidenten zur Abwehr der Migration nach Europa nutzen zu können. Geld gegen Migrationsabwehr, lautete der Deal.

Für seine Anhängerschaft markierte der Staatsstreich die lang erwartete Kurskorrektur einer Revolution, die vom richtigen Pfad abgekommen sei, für seine Kritiker*innen hingegen bedeutet Saied das Ende von Revolution und Demokratie. Doch die eigentliche Herausforderung für Kais Saied beginnt jetzt erst. Denn fest steht, dass der Präsident künftig daran gemessen wird, ob er langfristige Probleme zu lösen und vor allem die tunesische Wirtschaft wieder voranzubringen vermag. Daran aber bestehen erhebliche Zweifel.

Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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news-53207 Tue, 11 Mar 2025 17:59:17 +0100 Nicaragua: Nach der Revolution die Diktatur https://www.rosalux.de/news/id/53207 Daniel Ortega war einer der führenden Köpfe der sandinistischen Revolution. Heute trägt er sie zu Grabe. Von Gerold Schmidt Jenen, die der Zeremonie beiwohnten, bot sich ein martialisches Bild, als Ende Februar das nicaraguanische Präsidentenehepaar, Daniel Ortega und Rosario Murillo, in der Hauptstadt Managua 30.000 Mitgliedern der «freiwilligen Polizei» den Eid abnahm. Viele sehen in den – bei ihrer Vereidigung in Blöcken und vermummt angetretenen – Polizeieinheiten eine paramilitärische Struktur, die in der Absicht geschaffen wurde, die Bevölkerung noch stärker zu kontrollieren und einzuschüchtern. Insofern zeigt die Zeremonie anschaulich, dass von den Idealen der linksgerichteten sandinistischen Revolution von 1979, die die Somoza-Diktatur stürzte, inzwischen nichts mehr übrig ist.

Gerold Schmidt ist Diplom-Volkswirt und ausgebildeter Journalist. Er leitet das RLS-Regionalbüros in Mexiko-Stadt.

Die freiwillige Polizei ist ein Ergebnis der Reform von 100 Verfassungsartikeln, die die Macht im Land noch stärker auf Ortega und Murillo konzentriert. Der nicaraguanische Kongress ratifizierte die Änderungen am 30. Januar 2025 ohne jegliche Debatte. Die Verfassung formalisiert nun eine für das Ehepaar maßgeschneiderte «Ko-Präsidentschaft». Die für Ende 2026 vorgesehene Präsidentschaftswahl ist um ein Jahr verschoben, die Amtszeit auf sechs Jahre ausgeweitet. Faktisch und verfassungsrechtlich sind zukünftig alle staatlichen Institutionen einschließlich Legislative und Judikative direkt dem Präsidentenpaar rechenschaftspflichtig.

Das Militär gilt gegenüber Ortega als absolut loyal. Früher war es üblich, den jeweiligen Armeechef nach fünf Amtsjahren in den Ruhestand zu schicken. General Julio César Avilés hingegen steht bereits seit 15 Jahren an der Spitze der Armee. Ende Dezember 2024 bestätigte Ortega ihn ein weiteres Mal im Amt – nach der Verfassungsreform diesmal gleich für sechs Jahre. Weitere 20 hochrangige Generäle sind ebenfalls seit mindestens zehn Jahren auf ihren Posten.

Seit Jahren platzieren Ortega und Murillo zudem ihre Kinder an wichtigen Schaltstellen im öffentlichen und privaten Sektor. Sie versuchen auf diese Weise, den Grundsteinlegung für eine Familiendynastie zu legen. «Sie wollen alles kontrollieren, alles», sagt eine deutsche Beobachterin, die mehr 30 Jahre in Nicaragua lebte, inzwischen aber nicht mehr einreisen darf. Ihren Namen möchte sie nicht nennen, um Kontakte im Land nicht zu gefährden.

Nach einer ersten Amtszeit von 1985 bis 1990 im Anschluss an die kollektive Regierung der Nationalen Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) regiert der inzwischen 79-jährige Präsident seit 2007. Seine mehrfache Wiederwahl sicherte er durch ein auf ihn abgestimmtes Wahlrecht, aber auch durch geschickte Bündnispolitik. Inner- und außerparteilichen Widerstand manövrierte er geschickt ins politische Abseits.

Mit aller Macht gegen Kritik

Massive Proteste gegen die Kürzung von Sozialleistungen führten im April 2018 zu einer allgemeinen Rebellion gegen das Regime. Dieses schlug die Proteste unter Inkaufnahme von mehr als 350 Toten blutig nieder. Danach erreichte das Vorgehen gegen die Opposition eine neue Dimension: Das Regime schaffte ein Klima der Angst. Es ließ mehr als zweitausend politisch unliebsame Personen verhaften. Im Wahljahr 2021 gehörten dazu gleich sieben Präsidentschaftskandidat*innen. Doch damit nicht genug: Das Recht auf Haftprüfung vor Gericht ist abgeschafft, der Aufenthaltsort der Gefangenen wird den Angehörigen teilweise über längere Zeit vorenthalten. Viele Gefangene verbringen Monate in Isolationshaft; andere stehen unter Hausarrest und müssen sich regelmäßig bei der Polizei melden, die Angehörigen bekommen Kontrollanrufe. Auch Staatsbedienstete sind in jüngster Zeit nicht mehr vor Verhaftungen sicher. Lehrer*innen müssen in einigen Regionen damit rechnen, dass ihre Handys überwacht werden.

Die nicaraguanische Menschenrechtsorganisation Colectivo Nunca Más hat Folter in den Gefängnissen dokumentiert. In der neuen Verfassung ist das Folterverbot aus dem Artikel 36 gestrichen. Zudem wirkt die Verfassung in diesen und anderen Fällen retroaktiv, was – um es vorsichtig zu formulieren – eine äußerst ungewöhnliche Rechtspraxis ist.

Ein Mittel, sich der politischen Opposition zu entledigen, ist die Deportation in die USA und nach Spanien. In den meisten Fällen war sie bisher verbunden mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft, dem Einzug des Vermögens und der Aberkennung der Rentenansprüche. Unter den Deportierten sind ehemalige Weggefährt*innen Ortegas, aber auch Vertreter der katholischen Kirche und Mitglieder der konservativen Opposition.

Nach Angaben des Informationsbüros Nicaragua hat die Regierung seit 2018 mehr als 5.500 Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Universitäten, Schulen und Bildungszentren geschlossen. Der Staat zog in den meisten Fällen deren Vermögen ein. Die Schließungen betrafen auch die angesehene Jesuitenuniversität UCA, die von Regierung als «Zentrum des Terrorismus» bezeichnet wurde.

Investigativen Journalismus gibt es so gut wie gar nicht mehr im Land. Viele der Medien, die ins Exil gehen mussten, nahmen angesichts beschränkter Optionen Finanzierungsangebote aus den USA an, auch von USAID. Angesichts des Stopps der Auslandshilfen durch Donald Trump stehen diese Medien nun vor dem Aus.

Das nicaraguanische Gesetz über ausländische Agenten erlaubt es, jegliche internationale Zusammenarbeit als unzulässige Einmischung einzustufen. Ein kritischer Bericht der Welternährungsorganisation FAO über den zunehmenden Hunger in Nicaragua etwa führte im Februar 2024 zum Austritt des Landes aus der Organisation. Die Regierung ordnete die Schließung der FAO-Büros in Nicaragua an. Gleiches widerfuhr wenig später den Büros der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Das Internationale Rote Kreuz hatte es schon 2023 getroffen. Rosario Murillo kündigte am 28. Februar zudem den «unwiderruflichen» Austritt des Landes aus dem UN-Menschenrechtsrat an.

Im Rückblick hat Daniel Ortega nach seiner Wahlniederlage 1990 gegen die konservative Opposition sein Comeback akribisch geplant. In der FSLN ist seine Hegemonie seit 1992 unangefochten. Lediglich 1998, als seine Stieftochter Zoilamérica ihn mit dem Rückhalt der starken feministischen Bewegungen in Nicaragua öffentlich des sexuellen Missbrauchs bezichtigte, war Ortegas weitere politische Karriere noch einmal gefährdet. Doch Zoilaméricas Mutter, Rosario Murillo, stellte sich auf die Seite ihres Ehemanns und gegen ihre Tochter. Ortega entging dann einer Verurteilung.

Das heutige Ko-Präsidentschaftspaar vergaß diese Schmach nicht. Ab 2007 und insbesondere nach 2018 ging es mit besonderer Härte gegen feministische Organisationen vor und zwang ihre führenden Persönlichkeiten fast ausnahmslos in Exil. Das bekannteste Beispiel ist die frühere Guerilla-Kämpferin und sandinistische Gesundheitsministerin Dora María Téllez. Nach Verhaftung, anderthalb Jahren Isolationshaft und weiterem Gefängnisaufenthalt schob das Regime sie im Februar 2023 zusammen mit weiteren 221 politischen Häftlingen in die USA ab und entzog ihr die Staatsbürgerschaft.

Bei der Verfolgung kritischer Stimmen machte Ortega selbst vor dem eigenen Bruder nicht Halt. Humberto Ortega, einer der neun führenden Kommandanten der sandinistischen Revolutionsregierung, stand seit Mai 2024 faktisch unter Hausarrest. Abgeschnitten von der Außenwelt und von lebensnotwendigen Medikamenten, kam er kurz darauf in ein Militärkrankenhaus, wo er Ende September 2024 starb.

Manche vergleichen das Ortega-Murillo-Regime inzwischen mit der Somoza-Diktatur, die 1979 von den Sandinist*innen besiegt wurde. Das ist nicht unbedingt zielführend. Die bereits zitierte deutsche Beobachterin meint, Somozas Diktatur habe stärker auf direkter blutiger Gewalt beruht. Außerdem seien die Kontrollmechanismen heute mittels elektronischer Überwachungsinstrumente viel ausgefeilter als damals. Sie spricht von einer «modernen Diktatur».

Gerät die Wirtschaft ins Rutschen?

Ungewissheit gibt es über den wirtschaftlichen Zustand Nicaraguas. Fast 40 Prozent der nicaraguanischen Exporte gehen in die USA. Zusätzliches Geld kommt über die Vergabe von Bergbaukonzessionen an internationale Konzerne, bei denen der Goldabbau im Vordergrund steht. Schätzungen zufolge sind inzwischen mehr als 20 Prozent der Landesfläche konzessioniert, darunter auch Teile von Naturschutzgebieten.

Auch wenn in den letzten Jahren die Präsenz chinesischer Unternehmen in Nicaragua zulasten Taiwans stieg, kann von einer dominierenden Rolle Chinas in der Wirtschaft noch keine Rede sein. Nicaraguas Wirtschaft stützt sich zudem stärker als andere mittelamerikanische Länder auf die Rücküberweisungen migrierter Landsleute an ihre Familien. Allein seit 2018 sind schätzungsweise 800.000 Nicaraguaner*innen aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen ins Ausland gegangen, die meisten in die USA. Vor allem die Jugend geht dem Land auf diesem Weg verloren.

Unter Trump ist nun das Bleiberecht von gut einer halben Million «Nicas» in den USA gefährdet. Das Parole-Programm, das auch den Nicaraguaner*innen ein befristetes Aufenthaltsrecht in den USA gewährte, wurde allerdings bereits im Herbst 2024 von der Biden-Regierung beendet. Massendeportationen und ein Einbruch der Rücküberweisungen, Strafzölle und wegfallende präferenzielle US-Importquoten im Rahmen des Mittelamerikanischen Freihandelsabkommens mit den USA (CAFTA-DR) könnten die Säulen der Wirtschaft des Landes ins Wanken bringen.

Eine realistische Alternative zu Ortega gibt es einstweilen nicht. Zu zersplittert und im Ausland zerstreut scheint die politische Linke nach der jahrelangen Repression. Auch die verschiedenen Bemühungen um ein breites Oppositionsbündnis scheiterten bislang. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen beispielsweise von konservativen Unternehmer*innen auf der einen Seite und den Vertreter*innen sozialer Organisationen und feministischer Gruppen auf der anderen. Wirkliche Veränderungen seien, so die Mehrheitsmeinung der Oppositionskräfte, wohl erst mit dem Tod des kränkelnden Ortega zu erwarten. Ko-Präsidentin Murillo wird in diesem Fall nicht zugetraut, die Machtfäden in der Hand zu behalten. In der Tat gilt die Loyalität der vom Regime profitierenden Eliten ihrem Mann, nicht ihr.

Manche, wie der deportierte Soziologe und Ökonom Oscar-René Vargas, hoffen derweil, das Familienregime werde einfach implodieren. Andere, wie die erwähnte deutsche Beobachterin, setzen auf die – Anfang der 2000er Jahre aktiv gelebte und umgesetzte – demokratische Mitbestimmung auf lokaler Ebene, deren Zeugin sie selbst war. «Das ist im positiven Sinn wie Unkraut, diese Erfahrungen einer lebendigen Demokratie bekommt man nicht mehr weg. Der Samen liegt da noch unter der Erde, tief eingebuddelt, aber keimfähig.» Leider seien viele der damals Beteiligten verfolgt, verhaftet und ins Exil getrieben worden. Angesichts des aktuellen globalen Kontextes befürchtet sie, dass bei einem Fall der Regierung konservative Kräfte aus dem Unternehmerlager das Ruder übernehmen. Doch vielen Menschen im Land und im Exil scheint selbst dies noch eine bessere Option zu sein als die weitere Regentschaft des Präsidentenpaares – und diese Haltung verrät viel über den Charakter des Regimes.

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