Aktuelle Nachrichten https://www.rosalux.de/ Hier finden Sie unsere aktuellen Nachrichten. de Copyright Sat, 14 Jun 2025 13:35:41 +0200 Sat, 14 Jun 2025 13:35:41 +0200 TYPO3 Aktuelle Nachrichten https://www.rosalux.de/_assets/bcaf2df31b3031c02e4bdc5e5aed5a50/Images/Dist/Logos/logo_rss.jpg https://www.rosalux.de/ 144 109 Hier finden Sie unsere aktuellen Nachrichten. news-53508 Fri, 13 Jun 2025 11:18:33 +0200 Großbritanniens Rechte auf dem Weg zur Regierung? https://www.rosalux.de/news/id/53508 Den Aufschwung der Rechtsaußen-Partei «Reform UK» analysiert James Poulter Bei den Kommmunalwahlen im Vereinigten Königreich von Anfang Mai hat die rechtspopulistische Partei Reform UK nicht nur die meisten Stimmen gewonnen, sondern auch die Kontrolle über zehn Stadträte übernommen, Hunderte von Stadtratssitzen erobert, zwei hochrangige Bürgermeisterämter errungen und sogar eine Nachwahl zum Unterhaus knapp für sich entschieden. Unter der Führung von Nigel Farage, dem ehemaligen Frontmann der United Kingdom Independence Party (UKIP), erhält die Partei in Umfragen derzeit 32 Prozent der Wählerstimmen und damit zehn Prozent mehr als die regierende Labour-Partei.

James Poulter ist ein britischer Investigativjournalist mit über 20 Jahren Erfahrung in der Beobachtung der extremen Rechten.

Woher kommt diese neu gewonnene Popularität? Der Wahlkampf von Reform UK konzentrierte sich auf rechtspopulistische Themen wie die drastische Verringerung der Einwanderung, die Ablehnung der kostenintensiven «Null-Emissions»-Klimapolitik, Steuersenkungen und die Kritik an einem abgehobenen politischen Establishment. Diese Themen kommen bei den Wähler*innen gut an. Der Frust über die hohe Zuwanderung und den eigenen sinkenden Lebensstandard ist groß. Viele haben den Eindruck, dass die Konservativen und nun auch Labour es nicht geschafft haben, für bessere öffentliche Dienstleistungen und wirtschaftliche Entwicklung zu sorgen. 

Die Anti-Establishment-Rhetorik von Reform UK nutzt die wachsende Enttäuschung der Wähler*innen über das Zweiparteiensystem, die zum großen Teil durch den andauernden Anstieg der Lebenshaltungskosten entsteht. In gewisser Weise scheint sie die Energie der damaligen Brexit-Stimmung in neuer Form wiederzubeleben. Das nimmt nicht wunder, ist doch die Basis der Reformpartei eng mit jener ihrer euroskeptischen Vorgänger – der UKIP und der Brexit-Partei – verbunden.

Reform-Wähler*innen sind in der Regel über 45 Jahre alt, überproportional männlich und fast durchweg für den Brexit. Eine große Mehrheit von ihnen unterstützte 2019 die Konservative Partei unter Boris Johnson.

Geografisch betrachtet, konzentriert sich die Stärke der Partei auf die Midlands (Mittelengland), Städte im Norden und kleinere Grafschaften im Süden Englands. Im weltoffenen London oder in Schottland bleibt die Unterstützung gering. Bei den letzten Kommunalwahlen konnte die Partei sowohl desillusionierte Tory-Wähler*innen in den traditionell konservativen Grafschaften als auch Arbeiter*innen in den postindustriellen Labour-Kerngebieten für sich gewinnen und Dutzende amtierende Ratsmitglieder der beiden großen Parteien ablösen.

Kommentator*innen vermuten, dass der Aufstieg von Reform UK Ausdruck einer weit verbreiteten politischen Unzufriedenheit ist. «Der Erfolg von Reform UK [...] spiegelt zweifellos die Stimmung einer Wählerschaft wider, die weiterhin wenig Vertrauen in die Konservativen besitzt und sich nunmehr auch von Labours Regierungspolitik enttäuscht zeigt. Besonders beliebt ist sie jedoch offensichtlich in jenem Teil Großbritanniens, der vor einem Jahrzehnt mit seinem Votum für den Brexit die politischen Verhältnisse auf den Kopf stellte und dies nun erneut getan hat», so der Meinungsforscher Sir John Curtice. Da die beiden großen Parteien gleichermaßen unbeliebt seien, markiere der Aufstieg von Reform UK ein Phänomen, «das in der britischen Politik nahezu beispiellos ist», sagt Tony Travers, Professor für Politikwissenschaft an der London School of Economics.

Sofern es keinen unerwarteten politischen Rückschlag gibt, scheint Reform UK auf dem besten Weg zu sein, die nächste britische Regierung zu bilden. Sollte es dazu kommen, wäre dies die am weitesten rechts stehende Regierungspartei Großbritanniens seit Jahrzehnten, die sich offen mit dem Trumpismus verbünden und eine nationalistischen Agenda verfolgen würde, die im krassen Gegensatz zu den etablierten demokratischen Werten steht. Eine solche Regierung würde wahrscheinlich eine harte Anti-Migrations-Politik einführen, die Bürgerrechte aushöhlen und öffentliche Dienstleistungen aggressiv privatisieren – eine Politik, die die britische Gesellschaft grundlegend verändern und den über Generationen erkämpften sozialen Fortschritt rückgängig machen könnte.

Populismus mit dem Silberlöffel

Der Parteivorsitzende, Nigel Farage, ist ein britischer Rechtsaußen-Politiker und prominenter politischer Kommentator, der zu einiger Medienberühmtheit gelangte. Obwohl er ein Anti-Establishment-Image pflegt, ist Farage ein an Privatschulen ausgebildeter Millionär, der zuvor als Rohstoffhändler an der Londoner Metallbörse arbeitete. Nach sieben gescheiterten Anläufen wurde er schließlich bei der britischen Parlamentswahl 2024 ins Unterhaus gewählt; zuvor war er bereits von 1999 bis zum Brexit im Jahr 2020 Mitglied des Europäischen Parlaments. Obwohl er sich als Gegner dieser Institution inszeniert, bezieht er aus dieser Zeit eine großzügige Rente. 

Farage wurde reich geboren. Sein Vater, ein Börsenmakler, verließ die Familie, als Nigel Farage fünf Jahre alt war. Dieser wurde am renommierten Dulwich College im Süden Londons ausgebildet. Während seiner Schulzeit sah Farage sich mit dem Vorwurf konfrontiert, er vertrete faschistische Ansichten. Lehrer*innen warnten davor, den Teenager zu einem der Schülersprecher zu machen, weil sie befürchteten, dass er «rassistische» und «neofaschistische» Ansichten vertrete, wie aus einem Schreiben hervorgeht, das Channel 4 News vorliegt. Berichten zufolge warf ihm die Lehrerschaft beleidigendes Verhalten und das Singen von Liedern der Hitlerjugend vor.

Als er mit 18 Jahren die Schule verließ, begann Farage als Händler in der Stadt zu arbeiten, anstatt zu studieren. Er war ein thatcheristischer Unruhestifter, trat aber aus der Konservativen Partei aus, nachdem das Vereinigte Königreich 1992 den Vertrag von Maastricht unterzeichnet hatte. Im Jahr 1993 schloss er sich der neu gegründeten UKIP an, um sich für den Austritt Großbritanniens aus der EU einzusetzen, und kandidierte 1994 erstmals erfolglos für das britische Parlament.

Laut Briefen, die der Guardian in einem Archiv fand, bat Farage im selben Jahr den für seine 1968 gehaltene Rede «Flüsse aus Blut» berüchtigten Enoch Powell, die UKIP zu unterstützen. Die UKIP lud Powell später noch zweimal ein, für sie als Kandidat anzutreten. Farage bezeichnete Powell als politischen Helden und sagte, dass er zwar bei der «Rassenintegration» falsch gelegen habe, der «zentrale Kern» seiner Ansichten zur Einwanderung jedoch «wahr» sei. Ein Berater der UKIP behauptete, Farage habe Powell nur wegen seiner Euroskepsis angesprochen, nicht wegen seiner Ansichten zur Rassenideologie.

Farages Hin und Her in Bezug auf sein parteipolitisches Engagement ermöglichte letztlich die Gründung von Reform UK.

Berichten zufolge traf Farage 1997 zwei Mitglieder der faschistischen British National Party (BNP). Es gab ein Mittagessen mit dem BNP-Führungskader Mark Deavin, kurz nachdem die UKIP diesen wegen Unterwanderung der Partei ausgeschlossen hatte. Ein Foto des Treffens zeigt Farage mit Deavin und Tony Lecomber, einem BNP-Mitglied, das in den 1980er Jahren wegen eines Sprengstoffanschlags und eines Messerangriffs auf einen jüdischen Lehrer zu Haftstrafen verurteilt worden war. Damals behauptete Farage, sich nicht mehr an ein Treffen mit Lecomber erinnern zu können, und erklärte, das Foto sei möglicherweise «gefälscht». Dem Guardian sagte er: «Ich habe Herrn Deavin auf seine Bitte hin kurz getroffen [...]. Ich kann mich nicht daran erinnern, Herrn Lecomber jemals in meinem Leben getroffen oder mit ihm gesprochen zu haben.» Der Guardian berichtete auch darüber, dass UKIP-Mitglieder mit Unverständnis reagierten, wenn Farage nach Ausschusssitzungen in der Kneipe rassistische Schimpfwörter gebrauchte.

Farages europäische Karriere begann ungefähr zur gleichen Zeit, als er 1999 als UKIP-Abgeordneter für den Südosten Englands ins Europäische Parlament gewählt wurde. Im Jahr 2006 wurde er zum ersten Mal UKIP-Vorsitzender und war anschließend regelmäßiger Gast im Fernsehen. Farage war 38 Mal in der BBC-Flaggschiff-Sendung Question Time zu Gast und trat mehrfach in der Satire-Sendung Have I Got News For You auf.

Die Politik, die Farage vertritt, ähnelt der seines engen Freundes, des US-Präsidenten, Immobilienmaklers und Reality-TV-Stars Donald Trump. Die beiden sind gegen Einwanderung, gegen Klimaschutz, für fossile Brennstoffe und für Steuersenkungen zur Senkung der öffentlichen Ausgaben. Beide Männer wurden während der Thatcher-Reagan-Ära in den 1980er Jahren reich und haben ihre politischen Projekte bis zu einem gewissen Grad bis heute fortgesetzt. Trump und Farage sind beide im Reality-TV aufgetreten, Farage als Kandidat bei ITVs I'm A Celebrity... Get Me Out Of Here! und Trump als Moderator der Reality-TV-Show The ApprenticeSie scheinen absichtlich die Grenzen zwischen Demagogie, Berühmtheit und Geschäft zu verwischen, um ihren Reichtum durch politische Macht zu vermehren.

Farage, der Wendehals 

Diese frühe Vermischung von Politik und Prominenz verhalf der UKIP bei den Europawahlen 2009 zu einem Durchbruch, bei dem die Partei fast 2,5 Millionen Stimmen erhielt (16 Prozent) und damit mehr als die Labour-Partei (15,2 Prozent). Nach der Wahl trat Farage als UKIP-Vorsitzender zurück, um bei der Unterhauswahl 2010 zu kandidieren, wie er gegenüber der Times erklärte: «Die internen Kämpfe haben so viel Zeit in Anspruch genommen». Am Wahltag wurde er bei einem Flugzeugabsturz verletzt, während er mit einem UKIP-Wahlkampfbanner flog. Den Ermittler*innen zufolge verhedderte sich das Transparent im Höhenleitwerk des Flugzeugs, das daraufhin in einen Sturzflug geriet. Der Pilot wurde später verurteilt, weil er damit gedroht hatte, sowohl Farage als auch einen Flugunfallermittler zu töten. Im November 2010 kehrte Farage dann als UKIP-Vorsitzender zurück, nachdem er die Wahl zum Parteivorsitzenden gewonnen hatte.

Farages Hin und Her in Bezug auf sein parteipolitisches Engagement ermöglichte letztlich die Gründung von Reform UK. Nachdem er eine führende Rolle beim Brexit-Referendum 2016 gespielt hatte, trat er 2018 live im Radio aus der UKIP aus und beendete damit seine 25-jährige Mitgliedschaft. Grund dafür war die Einstellung des antimuslimischen Hasspredigers Stephen Yaxley-Lennon (auch bekannt unter dem Namen Tommy Robinson) als Berater durch den Parteivorsitzenden Gerard Batten. Als ehemaliges BNP-Mitglied und früherer Anführer der English Defence League war Yaxley-Lennon unter Farage von einer Mitgliedschaft in der Partei ausgeschlossen worden. Farage sagte, Batten sei «besessen von der Frage des Islam», und warnte, die UKIP werde zu einer Partei, die «einen religiösen Kreuzzug» führe. Farage blieb Abgeordneter im Europäischen Parlament, während die UKIP eine Phase des Niedergangs erlebte. Die Anhänger*innen von Yaxley-Lennon haben inzwischen die volle Kontrolle über die zunehmend irrelevante Partei übernommen.

Als aufgrund der Brexit-Verzögerung Neuwahlen drohten, gründete Farage im April 2019 die Brexit-Partei, um politisch relevant zu bleiben und seinen Sitz im Europäischen Parlament zu sichern. Farage erklärte, die Partei sei «zutiefst intolerant gegenüber jeglicher Intoleranz», und prahlte damit, dass sie bereits 750.000 Pfund St. an Kleinspenden gesammelt habe. Er distanzierte sich von der Umarmung der UKIP durch die Rechtsextremen, setzte aber weiterhin auf eine migrantenfeindliche Rhetorik und Kulturkampfpolitik. Batten tat die neue Partei unterdessen als «Vehikel» für Farages Wiederwahl ab.

Als Großbritannien die EU verließ, endete auch Farage Zeit im Europäischen Parlament. Anschließend änderte die Brexit-Partei ihren Namen zu Reform UK. Farage erklärte, er werde sich 2021 aus der Parteipolitik zurückziehen, und wechselte als Moderator für die Hauptsendezeit zum Sender GB News. Dieser startete im selben Jahr mit dem Versprechen, ein meinungsstarkes, anti-«wokes» Programm zu senden. Unterstützt von Pro-Brexit-Geldgebern, stellte der Sender ehemalige Mitglieder der Brexit-Partei ein und machte sich Themen des Kulturkampfes zu Eigen.

Im Vorfeld der britischen Parlamentswahl 2024 beteuerte Farage, dass er nicht erneut antreten werde. Einen Monat vor der Abstimmung kündigte er jedoch an, dass er für Reform UK kandidieren und den Parteivorsitz übernehmen werde. Nun, da er wieder in der Politik ist, könnte er auch der nächste britische Premierminister werden.

Flirt mit der extremen Rechten

Der Wandel in der britischen Politik wurde durch die Ereignisse jenseits des Atlantiks vorangetrieben. Farages Freundschaft mit Trump schien auch die Tür zu öffnen für die Finanzierung durch den reichsten Mann der Welt, den Milliardär Elon Musk. Doch trotz diverser Treffen mit Farage und dem milliardenschweren Schatzmeister der Partei zog Musk seine Unterstützung schließlich zurück und forderte Reform UK auf, Farage zu ersetzen, nachdem dieser sich von Yaxley-Lennon distanziert hatte.

Musk erklärte, Farage habe «nicht das Zeug dazu», und lobte die Online-Posts des damaligen Reform-Abgeordneten Rupert Lowe mit den Worten, diese seien «sehr sinnvoll». Zuvor hatte Musk fälschlicherweise behauptet, Yaxley-Lennon sei inhaftiert worden, «weil er die Wahrheit gesagt hat». Farage stellte daraufhin klar, dass Yaxley-Lennon wegen Missachtung des Gerichts inhaftiert worden sei, nicht – wie von Musk behauptet – wegen seiner Äußerungen über sogenannte Grooming Gangs. Nachdem er zuvor erklärt hatte, Reform UK befinde sich in Finanzierungsgesprächen mit Musk, erklärte Farage nun: «Elon ist ein bemerkenswerter Mensch, aber in diesem Punkt bin ich leider anderer Meinung [...]. Ich verkaufe niemals meine Prinzipien.»

Die Inhaftierung Yaxley-Lennons wurde zum Streitpunkt innerhalb der Partei. Howard Cox, der frühere Reform-Bürgermeisterkandidat für London, hat deswegen als einer der wenigen Mächtigen die Partei verlassen. Als der stellvertretende Vorsitzende Richard Tice die Partei von Yaxley-Lennon-Anhänger*innen distanzierte, hatte Cox ihm beigepflichtet und gesagt, er sei «einer von ihnen». Später enthüllte er, dass ihm wegen seiner Äußerungen «mit Ausschluss gedroht» worden sei und er deshalb die Partei verlassen habe. Der im Juli 2024 als stellvertretender Parteivorsitzender abgesetzte Ben Habib hatte ebenfalls die Anhänger*innen von Yaxley-Lennon verteidigt und sie «Reform-Wähler und unsere Freunde » genannt.

Diese von Musk verschärfte Spaltung erreichte ihren Höhepunkt mit dem Ausschluss von Rupert Lowe, einem der damals vier Abgeordneten von Reform UK. Lowe ist Millionär und ehemaliger Fußballclubbesitzer, der in die Politik ging und als Abgeordneter der Brexit-Partei an der Seite von Farage ins Parlament gewählt wurde. Lowe ist auch intensiver Nutzer von Musks Social-Media-Plattform X, auf der er rechtsextreme Reden hält und zu Massenabschiebungen aufruft. Dies führte dazu, dass seine Popularität innerhalb von Reform UK zunahm. Mit Musks Unterstützung wurde er zum internen Rivalen von Farage.

Farage ist bekannt dafür, aufstrebende Rivalen schnell zu entfernen. Dies wurde auch Lowe zum Verhängnis. Farages Stärke im Wahlkampf ist der Personenkult. Die interne Spaltung der Partei lässt sich auf Farages zentralisierte Führung, eine chaotische Organisationsstruktur und das Fehlen einer Basis bzw. einer funktionierenden Parteiinfrastruktur zurückführen. Trotz ihrer wachsenden Attraktivität bei den Wähler*innen ist es der Partei wiederholt nicht gelungen, Dissens zu unterdrücken, eine kollektive Führung aufzubauen oder eine geschlossene Front zu präsentieren. Diese Schwächen drohen, ihre Ambitionen zunichtezumachen.

Nur einen Tag, nachdem Lowe in einem Interview Farage angegriffen und die Partei als «vom Messias geführte Protestbewegung» bezeichnet hatte, verlor er seinen Posten als whip (eine Art Parlamentarischer Geschäftsführer). Die Partei reagierte, indem sie Lowe beschuldigte, Mitarbeiter*innen zu schikanieren und die Parteivorsitzende, Zia Yusuf, zu bedrohen. Die Staatsanwaltschaft bestätigte später, dass sie keine Anklage wegen der angeblichen Drohungen erheben würde; Lowe selbst bestritt jegliches Fehlverhalten und behauptete, er sei das Ziel einer politischen Hexenjagd. Dennoch zeigte sich erneut, wie straff Farage die Partei kontrolliert und wie anfällig diese ist für interne Kämpfe – insbesondere, wenn potenzielle Rivalen auftauchen.

Gleichzeitig zieht die Partei auch das Interesse jener britischen Rechtsextremen auf sich, die Farage eigentlich ablehnt. So forderte Mark Collett, ein ehemaliger BNP-Jugendfunktionär und derzeitiger Anführer der faschistischen Gruppe Patriotic Alternative, seine Anhänger*innen auf, Reform UK nicht als Konkurrenten, sondern als Vehikel zur Durchsetzung der eigenen Ziele zu betrachten. Collett verlangte von ihnen, nicht mehr gegen Reform UK zu kandidieren, da «jede ethno-nationalistische Partei, die gegen Reform antritt, gedemütigt» werde, weil beide von der Wählerschaft als «einwanderungsfeindlich» angesehen würden, während nur Reform über hinreichend Glaubwürdigkeit und Ressourcen verfüge, um erfolgreich zu sein. Stattdessen schlägt er vor, dass diejenigen, «die noch nicht bekannt sind und ein sauberes öffentliches Image haben», Reform UK beitreten und «helfen sollen, die Partei von innen heraus zu lenken», während andere daran arbeiten, eine nationalistische Gemeinschaft außerhalb des Wahlsystems aufzubauen, um «für die Bürgerrechte der indigenen Bevölkerung der britischen Inseln einzutreten».

Ein Sprecher der antifaschistischen Forschungsgruppe Red Flare sagte: «Mark Collett und seine Anhänger*innen sind fanatische Neonazis, die ihre Bewunderung für Hitler zum Ausdruck gebracht, das Dritte Reich verherrlicht und wiederholt den Holocaust geleugnet und gefeiert haben. Mitglieder der Patriotic Alternative wurden bereits wegen Terrorismus und Hassreden festgenommen. Diese fanatischen Hitler-Sympathisanten, die offen ihre Unterstützung für eine politische Partei mit fünf Abgeordneten zum Ausdruck bringen, sollten die Alarmglocken bei den Millionen von Menschen in Großbritannien läuten lassen, die faschistische und rassistische Politik ablehnen.»

Auf der Welle surfen

Der kometenhafte Aufstieg von Reform UK ist keineswegs nur eine britische Geschichte. Er spiegelt einen größeren politischen Trend wider: den weltweiten Zusammenbruch von Parteien der Mitte, das Wachstum reaktionärer Anti-Establishment-Bewegungen und die Normalisierung rechtsextremer Politik. Ähnlich wie Trump in den USA, Marine Le Pen in Frankreich oder Javier Milei in Argentinien bedient sich Farage einer Mischung aus Prominenz, Nationalismus und Kulturkampfpopulismus, um über die Klassengrenzen hinweg Zustimmung zu finden und die etablierte politische Ordnung zu stören.

Die derzeitigen Umfragewerte der Partei, die durchweg über 30 Prozent liegen, nähren – in Verbindung mit Farages hohem persönlichen Bekanntheitsgrad – Spekulationen, er könne Premierminister werden. Dazu müsste die Unterstützung jedoch für weitere vier Jahre stabil bleiben. Angesichts der Unbeständigkeit der britischen Politik ist dies alles andere als ausgemacht. Die Partei wird in den Regionen, die sie jetzt kontrolliert, auf dem Prüfstand stehen und ihre Bilanz in den Kommunalverwaltungen verteidigen müssen. Ihr internes Chaos, ihre schwache Organisation und Abhängigkeit von Farage sind nach wie vor erhebliche Schwachstellen.

Fest steht jedoch, dass Reform UK den Zusammenbruch des britischen Zweiparteiensystems beschleunigt hat, wobei die Konservative Partei die größten Verluste verzeichnete. Bei den letzten Kommunalwahlen verloren die Konservativen alle 18 Gemeinderäte, in denen sie über die Mehrheit verfügt hatten; Reform UK gewann acht davon. Im Dezember behauptete die Partei, dass sie mehr Mitglieder habe, als die 131.000 Mitglieder zählenden Konservativen. Neue Umfragen zeigen, dass die Wähler*innen Reform UK – und nicht die Conservative Party – als wichtigste Oppositionspartei sehen. Sie glauben zudem, dass Farage größere Chancen besitzt, Premierminister zu werden, als die neue Vorsitzende der Konservativen, Kemi Badenoch.

Farages Partei hat bereits ein großes Ziel erreicht: Sie hat die britische Politik nach ihren eigenen Vorstellungen umgestaltet und die politische Mitte weiter nach rechts verschoben.

Dan Evans, ein Schriftsteller und Soziologe aus Südwales und Autor von A Nation of Shopkeepers: The Unstoppable Rise of the Petty Bourgeoisie (Der unaufhaltsame Aufstieg des Kleinbürgertums), meint: 

«Reform UK ist, wie die meisten modernen rechtspopulistischen Bewegungen, ein klassenübergreifender Zusammenschluss, der Unterstützung aus dem gesamten sozialen Spektrum – von der Arbeiterklasse bis hin zur wohlhabenden Mittelschicht – gewinnt. Ich glaube jedoch, dass ihre wichtigste Unterstützergruppe und ihr ideologischer Schwerpunkt in der unteren Mittelschicht liegen. Diese ist meist gegen das Establishment und gegen zu viel staatliche Einmischung; sie konzentriert sich weitgehend auf den Produzentrismus, der die Weltanschauung dieser Gruppe direkt anspricht [indem er vorgibt, die arbeitende Mittelschicht vor Faulenzern und Eliten zu schützen – d. Red.]. In diesem Sinne sind Reform UK und Nigel Farage direkte Nachkommen des Thatcherismus.»

Evans hebt hervor, dass die Anziehungskraft der Partei nicht nur in kulturellen Missständen, sondern auch im wirtschaftlichen Niedergang der unteren Mittelschicht begründet liegt. Diese Gruppe wird oft als «eingezwängte Mitte» bezeichnet: selbstständige Handwerker*innen, Kleinunternehmer*innen und mittlere Angestellte, deren Lebensunterhalt durch stagnierende Löhne, steigende Kosten und schwindende Sicherheit ausgehöhlt wurde. Diese Frustration, argumentiert Evans, bilde einen fruchtbaren Nährboden für eine populistische Anti-Establishment-Botschaft. Evans fügt hinzu, es sei «wichtig festzustellen, dass die eingezwängte Mitte […] eine Folge des Zusammenbruchs der Mittelschicht ist. Deren Angehörige sind anscheinend stärker von der Austeritätspolitik betroffen als jede andere Gruppe. Hier wird an sehr reale wirtschaftliche Ängste appelliert.» Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit und Enttäuschung trägt dazu bei, dass Reform UK eine Basis unter denjenigen aufbauen konnte, die sich abgehängt fühlen.

Im bisherigen Teil ihrer aktuellen Amtszeit kombinierte die Labour-Partei moderate soziale Investitionen mit einem Sparkurs, der Teile ihrer traditionellen Basis verunsichert hat. Die Partei hat die Steuern für Arbeitgeber*innen erhöht und sich zugleich an strenge, selbst auferlegte Haushaltsregeln gehalten – aber prominente Kürzungen wie die Bedürftigkeitsprüfung beim Heizkostenzuschuss und die Einführung einer Erbschaftsteuer auf Familienbetriebe haben Rentner*innen und kleine Landbesitzer*innen verprellt. Dadurch konnte Reform UK sowohl in der Arbeiterklasse als auch bei unzufriedenen Tory-Wähler*innen Stimmen gewinnen. Im Mai, als die Labour-Partei die Kontrolle über Stadträte in ganz England an Reform UK verlor, stellte sich diese als Verteidigerin älterer Menschen und ländlicher Gemeinden gegen technokratische Gleichgültigkeit dar.

Angesichts des Wachstums von Reform UK zeigen sich antirassistische Aktivist*innen besorgt, dass andere Parteien deren rassistische Politik übernehmen, um Reform-Wähler*innen zurückzugewinnen. Kojo Kyerewaa von Black Lives Matter UK argumentiert, dass Farages politisches Projekt die großen britischen Parteien konsequent zu einer härteren Migrationspolitik getrieben hat: 

«Reform UK ist die jüngste Neuauflage von Farages rechtsextremer politischer Karriere. Von der UKIP im Jahr 2006 bis zu Reform UK im Jahr 2025 haben Farage und seine politischen Verbündeten sowohl die Labour-Partei als auch die Konservativen immer wieder dazu gedrängt, die staatliche Gewalt gegenüber Migrant*innen zu verstärken. Seit Reform UK vier Millionen Stimmen erhielt, immerhin fast halb so viel wie Labour, hat die Labour-Partei unter der Führung von Keir Starmer nicht nur die Anti-Migrations- und Pro-Abschiebungsrhetorik verstärkt; sie hat zudem Abschiebeflüge live übertragen, Rekorde aufgestellt für die höchste Anzahl von Kindern und Erwachsenen, die in einem Zeitraum von zwölf Monaten abgeschoben wurden, und versprochen, die Wartezeit für die Erlangung der britischen Staatsbürgerschaft für legal Eingewanderte von fünf auf zehn Jahre zu erhöhen. Bei den Nachwahlen in Runcorn setzte sich der Labour-Kandidat, der von Reform knapp geschlagen wurde, für die Schließung des Hotels ein, in dem Asylbewerber*innen im Wahlkreis untergebracht wurden. Reform UK hat Gewalt gegen Migrant*innen und andere Minderheiten auf der Straße und im Parlament normalisiert und gefördert. Die Partei könnte durchaus ein Koalitionspartner für die nächste Regierung werden.»

Farages Partei hat bereits ein großes Ziel erreicht: Sie hat die britische Politik nach ihren eigenen Vorstellungen umgestaltet und die politische Mitte weiter nach rechts verschoben. Ihr Einfluss wird nicht nur in parlamentarischen Sitzen gemessen, sondern auch in der Macht des Agenda-Settings, die sie bereits ausübt. 

Unabhängig davon, ob sie 2029 tatsächlich gewinnt, hat sich Reform UK bereits jetzt als gefährliche, destabilisierende Kraft in der britischen Demokratie etabliert – eine Kraft, die Teil eines viel größeren, zutiefst beunruhigenden internationalen Trends ist.

Übersetzung von Dorit Riethmüller.

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news-53503 Wed, 11 Jun 2025 15:33:22 +0200 Albanien auf dem Weg zur Ein-Parteien-Herrschaft? https://www.rosalux.de/news/id/53503 Zehn Jahre Wahlmanipulation, Korruption und Klientelismus haben den politischen Pluralismus in Albanien ausgehebelt. Von Una Hajdari Bei der albanischen Parlamentswahl im Mai zementierte die Sozialistische Partei (PS) mit einem Erdrutschsieg ihre Position als führende politische Kraft und sicherte Ministerpräsident Edi Rama eine historische vierte Amtszeit in Folge. Seit der 40jährigen Herrschaft von Enver Hoxha und seiner Partei der Arbeit war keine Partei oder Person mehr so lange ununterbrochen an der Macht.

Das Ergebnis macht deutlich, wie fest Rama die politische Landschaft Albaniens – und praktisch alle Bereiche des öffentlichen Lebens – im Griff hält. In seinem dreizehnten Jahr an der Macht verfügt die zersplitterte Opposition kaum noch über Einfluss oder Spielraum für politische Veränderungen.

Fest verankerte Staatsvereinnahmung

Man braucht nur ein beliebiges Regierungsgebäude in Tirana zu betreten, um ein Gefühl dafür zu bekommen, warum Albanien auf dem Korruptionsindex von Transparency International nur 42 von 100 Punkten erhält. Dabei wurde das Land erst vor Kurzem zum führenden Kandidaten für eine EU-Mitgliedschaft erklärt und hat seinen früheren Punktestand etwas verbessert, sodass es jetzt auf Platz 80 liegt anstatt auf Platz 99.

Una Hajdari schreibt als Journalistin vor allem über postkommunistische Gesellschaften mit dem Schwerpunkt nationalistische und rechtsextreme Bewegungen sowie Identitätspolitik. Sie berichtet regelmäßig über den Westbalkan, Mittel- und Osteuropa.

Die Menschen in Albanien beklagen regelmäßig die schwerfällige Bürokratie, in der persönliche Gefallen Vorrang vor regulären staatlichen Aufgaben erhalten; betroffen sind sämtliche Bereiche vom Bildungs- und Gesundheitswesen bis zur Arbeit im öffentlichen Dienst. Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2024 bringt dies noch deutlicher zum Ausdruck, insbesondere da die Regierungspartei ein umfassendes Amnestiegesetz erlassen hatte, was dazu führte, dass bei 40 Beamt*innen die vom Antikorruptionsgericht verhängten Strafen aus den Akten gelöscht und die Urteile für 65 weitere Amtsträger*innen reduziert wurden. Damit werden ebenjene Instanzen untergraben, die eigentlich die Korruption bekämpfen sollten.

Zwar kämpfen einige kleinere Parteien darum, gegen die kleptokratische Kontrolle des Staates durch die Sozialistische Partei vorzugehen, allerdings besteht in der Bevölkerung keine große Hoffnung, dass sich an diesen Praktiken in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Als die Albaner*innen am 11. Mai schließlich an die Wahlurnen gingen, machten internationale Beobachter*innen keinen Hehl aus dem, was sie sahen: Mit Bussen wurden Angestellte des öffentlichen Dienstes zu regierungsfreundlichen Kundgebungen angekarrt und landesweite Patronage-Netzwerke aktiviert; der Druck auf die Wählenden war deutlich spürbar. Immer wieder konnten Journalist*innen beobachten, wie sich Parteianhänger*innen in der Nähe von Wahllokalen aufhielten, um die Bürger*innen unter Druck zu setzen, ihre Stimme einer bestimmten Partei zu geben – Chancengleichheit war bei diesen Wahlen so gut wie unmöglich.

Trotz dieser und anderer eindeutig dokumentierter Missstände besteht kaum Aussicht darauf, dass die Vorwürfe bezüglich Stimmenkauf und Einschüchterungen aufgearbeitet werden. Die Behörde mit dem offiziellen Titel Beschwerde- und Sanktionskommission legt die Bestimmungen zum Missbrauch administrativer Ressourcen immer noch extrem eng aus, was sich in aller Regel zugunsten der regierenden Partei auswirkt. Der Pluralismus in den Medien steht kaum besser da: Reporter ohne Grenzen haben Albanien in ihrer Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 99 von 180 Ländern zurückgestuft, und Beobachter*innen des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte stellten fest, dass in der Wahlberichterstattung die beiden führenden Parteien stark dominierten. Außerdem hoben sie hervor, dass sich die Nachrichtenagenturen größtenteils in den Händen einiger weniger Vermögender befinden.

Die Sozialistische Partei mag alles Mögliche sein, aber sie ist ganz sicher nicht die Partei der Umverteilung oder Arbeiterrechte.

Die sozialistische Regierung hatte die Wahlgesetzgebung dahingehend geändert, dass Sender verpflichtet waren, großen Parteien doppelt so viel kostenlose Sendezeit zur Verfügung zu stellen wie kleineren parlamentarischen Gruppen, wodurch kleine Parteien der Plattform beraubt wurden, mit der sie ihre Unterstützer*innen hätten erreichen können. Obendrein wurde TikTok im Vorfeld der Wahl verboten, da junge Menschen dort angeblich gewalttätigen Inhalten ausgesetzt seien. Auch wenn an dem Vorwurf etwas Wahres dran ist – durch dieses Verbot wurde unmittelbar vor einer großen Wahl eine der wichtigsten Plattformen für oppositionelle Parteien und Aktivist*innen abgeschaltet.

In Bezug auf das Klima sind die Aussichten nicht weniger düster: Brüssel bezeichnete die Aufweichung der albanischen Naturschutzgesetze im vergangenen Jahr als «negative Entwicklung», und Aktivist*innen warnen, dass dies die Tür für eine Erschließung der Adriaküste und des Vjosa-Deltas öffnen könne, die die Schönheit der Natur und der natürlichen Ressourcen Albaniens zerstören würde. Bereits lange vor dieser Wahl hatten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Beschwerden gegen albanische Regierungsbeamt*innen beim Sekretariat der Energiegemeinschaft eingereicht, weil sie Konzessionen für Wasserkraftwerke an Europas letztem wahrhaft wilden Fluss, dem Vjosa, vergeben hatten.

Die Wirtschaft boomt trotz allem, zumindest auf dem Papier. Für 2025 erwartet die Weltbank immer noch ein Wachstum von 3,2 Prozent, warnt jedoch gleichzeitig davor, dass unvollendete Reformen und Schocks von außen die Armutsrate und Ungleichheit unvermindert hoch halten. Die Arbeitslosenquote ist bereits auf alarmierende 18,9 Prozent gestiegen, und diese erschreckende Zahl trägt zweifellos ihren Teil dazu bei, dass so viele talentierte Hochschulabsolvent*innen mit einem One-Way-Ticket ins Ausland gehen.

Klientelpolitik

Seit der ersten Wahl im Jahr 1990 besteht das politische System Albaniens, vereinfacht ausgedrückt, aus einem Zwei-Parteien-Modell mit der Sozialistischen Partei und der Demokratischen Partei.

Anders als bei den gewaltsameren Übergängen aus dem Kommunismus, wie sie sich in anderen Teilen Europas ereigneten, verlief Albaniens Weg zur Demokratie zwar turbulent, aber relativ unblutig. Der Bruch mit vier Jahrzehnten des isolationistischen Kommunismus begann in Tirana im Dezember 1990 mit Massenprotesten und einem Hungerstreik von Studierenden gegen Präsident Ramiz Alia, dem Nachfolger Hoxhas. Die Demonstrationen überzeugten Alia, dass Vergeltungsmaßnahmen nach hinten losgehen würden, wie es in anderen Teilen des Ostblocks der Fall gewesen war, und am 11. Dezember beugte sich die regierende Partei der Arbeit dem Druck und machte den Weg frei für den politischen Pluralismus – eine bahnbrechende Entscheidung, die schließlich im März 1991 zu Albaniens erster Mehrparteienwahl führte.

Gleich am nächsten Tag gründeten intellektuelle Dissident*innen – am bekanntesten unter ihnen der Kardiologe Sali Berisha – die Demokratische Partei Albaniens (PD), in der sich einfache Bürger*innen, antikommunistische Aktivist*innen und ehemalige politische Gefangene versammelten. Das Parteiprogramm basierte auf Antikommunismus, dem Beitritt zu Menschenrechtsabkommen wie der Schlussakte von Helsinki, eine Ausrichtung auf europäische Modernisierung und dem verheerendsten Element: einem schnellen Übergang zur Marktwirtschaft.

Dennoch blieb die Partei der Arbeit auch bei den folgenden Wahlen zunächst im Amt. Nach Jahrzehnten der Isolation und Ein-Parteien-Herrschaft herrschte in der Bevölkerung, verstärkt durch die wachsenden Unruhen im benachbarten Jugoslawien, Angst vor Instabilität. Gestützt wurde die Macht der Arbeitspartei durch ein weit gefächertes Netz aus Klientelismus und Patronage, vor allem in abgelegenen und ländlichen Gebieten. Schließlich kontrollierte die Partei noch immer den Staat, auf den die Wähler*innen für Arbeit, Nahrungsmittel und einfache Dienstleistungen angewiesen waren. Hier zeichnete sich ein Trend ab, der alle weiteren Wahlen in Albanien kennzeichnen sollte, nämlich dass bestimmte Teile der Bevölkerung Veränderungen aus Sorge vor möglicher Instabilität ablehnen. Je länger eine Partei an der Macht blieb, desto schwerer wurde es, ihr diese wieder zu nehmen.

Die Profiteure des Klientelsystems, in Albanien als patronazhistet bezeichnet, waren auch im letzten Wahlkampf ein wichtiges Thema. Jedes weitere Jahr im Amt bedeutete mehr Parteigänger*innen auf der Gehaltsliste und verschärfte die Bedingungen für die Herausforderer*innen noch mehr. Zu den Parteigänger*innen gehören dabei nicht nur die reichen Eliten des Landes, sondern auch prekär beschäftigte Familien oder Einzelpersonen, die sich an jede sichere Einkommensquelle klammern und oft von der Angst getrieben werden, dass ihnen die nächste Gruppierung, die an die Macht kommt, noch weniger anbieten könnte.

Nach der Niederlage bei der vorgezogenen Wahl von 1992 benannte sich die Partei der Arbeit in Sozialistische Partei um und übernahm, zumindest oberflächlich, den Stil der westeuropäischen Sozialdemokratie. Heute mögen sich Edi Ramas Sozialisten vielleicht noch die rote Rose ans Revers stecken, aber sie regieren eher wie technokratische Liberale: Den Schutz von Arbeiterrechten, für den sie einst kämpften, haben sie aufgegeben; was sie beibehielten, war die Neigung zum Zentralismus. Unternehmensgewinne werden pauschal mit 15 Prozent besteuert, einem der niedrigsten Sätze in Europa; Rama lockte damit ausländische Heuschreckenkapitalisten ins Land, was der einheimischen Bevölkerung kaum oder gar keine Vorteile brachte.

Vorzeigeprojekte im Infrastrukturbereich, selbst wenn sie dem Ausbau von Straßen oder der Netzanbindung dienen sollen, werden weiterhin im Rahmen zwielichtiger öffentlich-privater Partnerschaften ausgeführt. Wegen eines 400-Millionen-Euro-Betrugfalls im Rahmen der energetischen Abfallverwertung, dem sogenannten Müllverbrennungsskandal, ist bereits ein ehemaliger Minister im Gefängnis gelandet, doch auch der breite Widerstand gegen das Projekt konnte die herrschende Elite bisher nicht von ihrem Kurs abbringen. Gleichzeitig gehören die Sozialausgaben weiterhin zu den niedrigsten im Westbalkan, und gegen Streiks wird regelmäßig mit Polizeigewalt vorgegangen. Die Sozialistische Partei mag alles Mögliche sein, aber sie ist ganz sicher nicht die Partei der Umverteilung oder Arbeiterrechte.

Jenseits des Duopols

In der Folge wechselten sich Sozialisten und Demokraten an der Spitze eines Landes ab, in dem die meisten Jobs und Verträge noch immer vom Staat vergeben werden. Im Laufe der letzten dreißig Jahre versuchten diverse kleinere Parteien, diesen Duopol aufzubrechen, und fungierten in Regierungskoalitionen oft als Königsmacherinnen; zu diesen zählt beispielsweise die Sozialistische Bewegung für Integration (LSI), die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Ilir Meta gegründet wurde und sich heute Freiheitspartei nennt.

Andere Parteien wie die Republikanische Partei oder die Sozialdemokratische Partei gewannen gelegentlich Sitze im Parlament, vermochten sich jedoch keinen dauerhaften landesweiten Einfluss zu sichern. Trotz der regelmäßigen und öffentlichen Desillusionierung über die beiden großen Parteien konnte bisher keine dritte Kraft breite Unterstützung gewinnen. Dabei sind viele dieser «kleineren» Bewegungen durchdachter, befassen sich mit drängenden sozialen Problemen und bieten neue Ansätze zur Beseitigung der Ungleichheit. 

Lëvizja Bashkë, die «Bewegung zusammen» unter der Führung des linken Dozenten und Aktivisten Arlind Qori, trat mit dem Slogan «Das Neue wird geboren» an. Lëvizja Bashkë entstand aus der linken Protestbewegung Organizata Politike (OP), die aus den Ereignissen des 21. Januar 2011 hervorgegangen war. Damals waren vier Protestierende vor dem Büro des Ministerpräsidenten von Polizeikugeln getötet worden, und Qori, das bekannteste Gesicht der Bewegung, verließ daraufhin den Hörsaal und ging auf die Straße. Mit seiner Hilfe formte sich aus der kollektiven Unzufriedenheit ein beständiger Kern an Aktivist*innen, die allwöchentlich in einem Keller in Tirana zusammenkamen.

Qoris Partei ist im Parlament vertreten, verfügt über ein Kadernetzwerk in den Minen, Raffinerien und Hochschulen sowie über einen großen Erfahrungsschatz aus hart umkämpften Protesten und hat damit die besten Aussichten, nicht nur an den Gitterstäben des Palastes zu rütteln, sondern die nationale Politik mitzugestalten.

In den folgenden zehn Jahren wurde die Protestbewegung OP zu einem verbindenden Element für fast alle Graswurzelinitiativen im Land. Während der Bildungsproteste von 2018 und 2019, bei denen sich 20.000 junge Menschen auf dem Skanderbeg-Platz in Tirana versammelten und kostenlose öffentliche Universitäten forderten, beschützten Mitglieder der Partei die Studierenden, die den Vorlesungen fernblieben. Auch außerhalb der Hauptstadt wurden sie aktiv und solidarisierten sich mit den Arbeiter*innen, die 2019 in der Bulqiza-Mine die Arbeit niederlegten, sowie mit dem 44-tägigen Hungerstreik wegen nicht gezahlter Löhne in der Ölraffinerie in Ballsh in den Jahren 2020 und 2021; im März 2022 demonstrierten sie an der Seite der Näherinnen. OP stellte Anwält*innen und Megafone, schrieb Flugblätter für die Streiks und half sogar, Lebensmittel für die Familien der Arbeiter*innen zu organisieren.

Dieser Hintergrund erklärt, warum OP in Albanien heute als einzige «authentische» linke Bewegung gilt. Mit ihren Forderungen nach einer progressiven Besteuerung für Topverdiener, nach existenzsichernden Löhnen, starken, unabhängigen Gewerkschaften, einer grünen öffentlichen Infrastruktur sowie einem tatsächlich kostenlosen Bildungssystem grenzen sie sich bewusst vom Einheitssteuer-Liberalismus der regierenden Sozialisten ab. In einer politischen Landschaft, in der die meisten «Drittparteien» nach und nach zu Satelliten der Klientelisten verkommen, wurde OP durch ihre unnachgiebige, ehrenamtliche Präsenz an den Streikposten zum Anlaufpunkt für alle, die eine Alternative zur herrschenden Elite suchten.

Ende 2022 ging die Gruppe den nächsten logischen Schritt und gründete die Wahlvereinigung Lëvizja Bashkë mit Qori als Gründungsvorsitzendem. Bei den Kommunalwahlen 2023 überraschte Bashkë mit einem Ergebnis von 4,8 Prozent und einem Sitz im Stadtrat von Tirana und nahm diesen Schwung mit in die Parlamentswahl 2025, wo sie sich landesweit 1,5 Prozent der Stimmen und einen der 140 Sitze im Parlament sicherte. 

Diese Zahlen mögen einerseits enttäuschen, andererseits hatte es im postkommunistischen Albanien zuvor noch keine explizit linke Partei geschafft, die parlamentarische Hürde zu überwinden. Qoris Partei ist im Parlament vertreten, verfügt über ein Kadernetzwerk in den Minen, Raffinerien und Hochschulen sowie über einen großen Erfahrungsschatz aus hart umkämpften Protesten und hat damit die besten Aussichten, nicht nur an den Gitterstäben des Palastes zu rütteln, sondern die nationale Politik mitzugestalten.

Das Ende der Opposition?

Die Demokratische Partei war den Großteil der 1990er Jahre und noch einmal von 2005 bis 2013 an der Macht, doch nach über zehn Jahren voller Misserfolge ist sie an den Rand der Bedeutungslosigkeit gerückt. Nach der Niederlage gegen Rama 2013 gab Parteigründer Berisha die Führung an den jungen Anwalt Lulzim Basha ab, der allerdings keine signifikanten Zugewinne verzeichnen konnte. 2017 unterlag die PD erneut, 2019 boykottierte sie das Parlament in der Hoffnung, Massenproteste und ein Boykott der Kommunalwahlen würden zu vorgezogenen Neuwahlen führen. Stattdessen trugen die Sozialisten in so gut wie allen Kommunen den Sieg davon und konnten ungehindert regieren, während die Opposition zwei Jahre institutioneller Einflussmöglichkeit verschenkt hatte.

Die Wahl im April 2021 brachte der PD zwar 59 Sitze ein; dennoch blieb Ramas zum dritten Mal in Folge Sieger. Noch schlimmer kam es im Mai 2021, als die US-Behörden Berisha wegen Vorwürfen «erheblicher Korruption» zur Persona non grata erklärten. Unter dem Druck der USA schloss Basha seinen Mentor aus der Parlamentsfraktion aus, was eine parteiinterne Revolte auslöste und die PD in zwei Lager spaltete, wobei Berisha den größeren und einflussreicheren Teil anführte. Berisha gab auch dann nicht auf, als ihn die albanische Antikorruptionsbehörde im September 2023 anklagte und unter Hausarrest stellte. Im Laufe des Jahres 2024 riefen seine Anhänger*innen immer wieder zu Protesten auf und stellten ihn als Opfer voreingenommener Gerichte dar, die Albaniens einzige Oppositionspartei auszuschalten versuchten.

Mit einer derart geschwächten Opposition und ohne einen Nachfolger in Sicht hält Rama unangefochten die politische Macht in Albanien in den Händen.

Diesmal versuchten die Demokraten ihr Glück mit Donald Trump und der MAGA-Bewegung, indem sie den Wahlkampfspezialisten Chris LaCivita sowie dessen Mitarbeiter Paul Manafort engagierten. Letzterer ist dafür bekannt, sich während Trumps erster Amtszeit in die Geschehnisse in der Ukraine eingemischt zu haben. Man suchte die Verbindung zu Trump, um die Konservativen zu erreichen und Stimmen in der Diaspora zu gewinnen. Kritiker*innen im In- und Ausland bezeichneten diese Strategie jedoch als abwegig und bezweifelten, dass die Trump-Rhetorik bei den Albaner*innen verfangen würde.

Als sich der Staub legte, hatte sich Rama mit 82 Sitzen und 52 Prozent der Stimmen die historische vierte Amtszeit gesichert, während die zersplitterte PD ihr schlechtestes Ergebnis seit 1997 verzeichnete. Mit laufenden Gerichtsverfahren, dem Gründer unter Anklage und rivalisierenden Lagern im stetigen Schlagabtausch stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob die Demokraten wieder an die Macht kommen, sondern lediglich, ob sie es überhaupt schaffen, eine intakte Partei zu bleiben. Eine mögliche Auflösung der PD hätte gewaltige Auswirkungen auf Albaniens politische Landschaft, da die Demokraten bislang als die einzige nennenswerte Opposition gelten.

Eine «sanfte Autokratie»?

Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2013 hat Edi Rama über die längste Phase ununterbrochener Herrschaft in Albaniens postkommunistischer Ära regiert. Seine Regierung führt die umfassende «Prüfung» von Richter*innen und Staatsanwält*innen – bei der etwa 60 der Überprüften zurückgetreten sind oder entlassen wurden – als Beleg für institutionelle Aufarbeitung an, obwohl die nun unbesetzten Stellen Gerichtsverfahren hinauszögern und seitens Brüssels und albanischer Rechtsanwaltskammern wiederholt Forderungen nach echten Veränderungen anstelle rein kosmetischer Eingriffe laut werden.

In Ramas Amtszeit fällt auch der offizielle Beginn der EU-Beitrittsgespräche im Juli 2022. Im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission werden zwar Maßnahmen wie die Vereinfachung der Zollvorschriften und eine teilweise Übernahme des EU-Acquis gelobt, aber auch die eher bescheidenen Erfolge bei der Verfolgung hochrangiger Korruption und Geldwäsche bemängelt. Der Ministerpräsident bezeichnet den langwierigen Prozess als «work in progress», während Oppositionspolitiker*innen darin eine weiterhin nur selektive Durchsetzung des Rechts sehen.

Die NGO Freedom House verleiht Albanien immer noch den Status «teilweise frei»; damit wird das Land weiterhin als demokratisch, wenngleich nicht perfekt, klassifiziert, statt als eindeutig autokratisch. Auch internationale Beobachter*innen haben die Wahl als «offen and professionell durchgeführt» bezeichnet, jedoch deutlich auf einen umfassenden Einsatz staatlicher Ressourcen zu Wahlkampfzwecken durch die regierenden Sozialisten hingewiesen. Im Global-State-of-Democracy-Index des Internationalen Instituts für Demokratie und Wahlhilfe rangiert Albanien als «schwache Demokratie», aber noch eine Stufe über Serbien, dem einzigen Hybridregime in der Region, das kurz davorsteht, als Autokratie eingestuft zu werden. Insgesamt legen diese Beobachtungen nahe, dass Edi Rama kein echter Autokrat ist – zumindest noch nicht. Doch seine wachsende Kontrolle über staatliche Ressourcen, Medien und öffentliche Verträge erodiert die Gewaltenteilung und führt Albanien auf einen Weg, der – ohne korrigierenden Druck – den demokratischen Gestaltungsraum noch weiter einschränken dürfte.

Mit einer derart geschwächten Opposition und ohne einen Nachfolger in Sicht hält Rama unangefochten die politische Macht in Albanien in den Händen. Dabei verwischt er massiv die Grenze zwischen Partei und Staat und führt das Land auf bislang unbekanntes Terrain. Was früher ein pluralistisches System war, in dem Macht tatsächlich angefochten werden konnte, ähnelt jetzt immer mehr einer Ein-Mann-Show, in der Kontrollgremien geschwächt werden und der Wahlkampf einen zunehmend symbolischen Charakter erhält. Die EU mag zwar noch versuchen, Einfluss auszuüben und einen Zeitrahmen für Reformen vorzugeben, doch im Land selbst stellt sich nicht mehr die Frage nach der politischen Richtung, sondern danach, ob das Land unter dem Deckmantel der Sprache von Entwicklung und Integration in eine sanfte Autokratie abgleitet.

Übersetzt von Cornelia Röser und Sebastian Landsberger für Gegensatz Translation Collective

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news-52784 Wed, 11 Jun 2025 11:53:00 +0200 Argumente gegen politische Mythen https://www.rosalux.de/news/id/52784 Eine Gesprächsreihe mit Fachleuten und Politiker*innen zu populären Behauptungen und Irrtümern Ob in aktuellen Diskussionen oder in alltäglichen Gesprächen, oft hören wir dieselben Einwände: Ein Mietendeckel schafft keinen neuen Wohnraum; zu viele «Arbeitsverweigerer» beziehen Bürgergeld und «nutzen unser Sozialsystem aus»; «in ein paar Jahren wird das Gesundheitswesen unbezahlbar sein»; oder: «Deutschland allein kann beim Klimawandel nichts ausrichten». Aber stimmt das überhaupt? 

In unserer digitalen Veranstaltungsreihe gehen Fachleute und Bundestagsabgeordnete diesen Themen nach und bieten Fakten statt Mythen – ob in der Klimapolitik, bei Fragen des Gesundheitssystems, in der Wohnungspolitik oder bei Migration und Bürgergeld. Dabei nehmen sie sich besonders jener weit verbreiteten Legenden an, die in der Gesellschaft tief verwurzelt sind und oft nicht hinterfragt werden. 

Wie können wir effektiv gegen solche Verzerrungen und Unwahrheiten vorgehen? Welche Strategien können wir entwickeln, um mit unseren Standpunkten zu überzeugen? 

Darüber wollen wir mit euch in die Diskussion kommen. Die Teilnahme an der Veranstaltung ist kostenfrei. Auch deshalb lohnt es sich, mit Freund*innen oder Mitstreiter*innen teilzunehmen und gemeinsam die besten Diskursstrategien zu entdecken.

Wer sich vorher bereits mit dem Thema vertraut machen möchte, kann die Publikationen hier herunterladen oder gedruckt bestellen.

Lasst uns gemeinsam die Mythen entlarven, um endlich wieder über Fakten und politische Lösungen im Interesse Aller sprechen zu können!

Die Termine:

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news-53494 Fri, 06 Jun 2025 12:07:20 +0200 Der Aufstieg der Chega und die Krise der «Nelkendemokratie» https://rosalux.eu/2025/der-aufstieg-der-chega-und-die-krise-der-nelkendemokratie/ Bei den Parlamentswahlen in Portugal am 18. Mai wird die extrem rechte Partei drittstärkste Kraft news-53490 Thu, 05 Jun 2025 14:49:00 +0200 Kaschmir-Konflikt: Eskalation oder Befriedung? https://www.rosalux.de/news/id/53490 Vorerst hält die fragile Waffenruhe zwischen Indien und Pakistan, doch der Weg zum Frieden ist lang Im Mai 2025 schaute die Welt mit großer Sorge auf Indien und Pakistan, die sich einen kurzen, aber heftigen Luftkrieg samt grenzüberschreitendem Bodenbeschuss lieferten. Ausgelöst wurde der Schlagabtausch durch einen Terrorangriff auf Tourist*innen am 22. April 2025 in der Gegend um Pahalgam im indischen Teil von Jammu und Kaschmir, einem gebirgigen Gebiet reich an Wäldern, Bergwiesen und Flüssen. Dabei wurden 28 Männer ermordet, darunter 26 Hindus, ein Christ und ein muslimischer Fremdenführer aus der Region, der bei dem Versuch starb, einen der Angreifer zu überwältigen. Unter den Toten war auch ein Tourist aus Nepal. 

Radha Kumar arbeitete im Auftrag der indischen Regierung als Vermittlerin für Jammu und Kaschmir und ist Autorin des Buches Paradise at War. A Political History of Jammu and Kashmir, aus dem das historische Material in diesem Artikel größtenteils stammt.

Laut ersten Ermittlungen der indischen Behörden, die sich auf zeugenbasierte Fahndungsbeschreibungen bekannter Terroristen stützen, standen zwei Pakistani und zwei Kaschmiri hinter dem Angriff. Die Angreifer flohen in den 40 Kilometer langen Waldgürtel, der die Baisaran-Wiese umgibt, und sind trotz intensiver militärischer Suchaktionen weiterhin flüchtig. Eine kaum bekannte Gruppe namens «The Resistance Front» (Die Widerstandsfront) hatte sich auf der Plattform X zunächst zum Anschlag bekannt, ruderte allerdings später mit der Behauptung zurück, ihr Konto sei gehackt worden. 

Nach Angaben des South Asia Terrorism Portal gründete sich die Resistance Front 2019 als «Online-Formation» und stellt einen von mehreren bewaffneten Armen der in Pakistan ansässigen Laschkar-e-Taiba (Armee der Reinen, LeT) dar, die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestuft wird. Ihr Anführer Hafiz Saeed wurde zwar zu einer Haftstrafe verurteilt, lebt jedoch seit zwei Jahren in der pakistanischen Provinz Punjab unter Hausarrest. Zur Führungsriege der Resistance Front gehören mit Sajid Jatt, Sajjad Gul und Salim Rehmani mehrere bekannte LeT-Kader. Seit Ende 2019 wird die Resistance Front mit 25 gezielten Tötungen in Verbindung gebracht, die Soldat*innen, kaschmirische Pandits (hinduistische Brahman*innen), Ladenbesitzer*innen, Abgeordnete und Lehrer*innen ins Visier nahmen. Gemäß dem indischen Gesetz zur Verhinderung ungesetzlicher Aktivitäten wurde die Gruppe 2022 verboten und ihr Anführer Gul als Terrorist eingestuft

Obwohl erste Hinweise eine Verbindung zur LeT nahelegten, wies die pakistanische Regierung unter Ministerpräsident Shehbaz Sharif jegliche Verwicklung der Gruppe in den Anschlag umgehend zurück und stellte den Wohnsitz ihres Anführers sogar unter Polizeischutz. Indien wiederum brach zunächst sämtliche diplomatischen Beziehungen zu Pakistan ab, entzog pakistanischen Staatsangehörigen ihre Visa und setzte den Indus-Wasservertrag aus, ein 65 Jahre altes Abkommen zur Wassernutzung, das von der Weltbank mitgetragen wird. Pakistan revanchierte sich mit der Ausweisung mehrerer Diplomat*innen und der Annullierung bereits ausgestellter Visa für indische Staatsangehörige.

In den Augen vieler indischer Kommentator*innen, Nachrichtensprecher*innen und Social-Media-Nutzer*innen fiel die Reaktion ihrer Regierung zu milde aus. Die Regierung von Ministerpräsident Narendra Modi leistete den fortwährenden Forderungen nach einer militärischen Antwort Folge und ordnete am 7. Mai gezielte Luftangriffe auf neun mutmaßliche Terrorbasen in dem von Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs und der pakistanischen Provinz Punjab an. Pakistan konterte mit Drohnenangriffen und Raketenbeschuss. 

Der Luftkrieg endete formell am 12. Mai mit einem vorläufigen Waffenstillstand. Pakistanischer Beschuss entlang der sogenannten Line of Control (der einst von der UNO ausgehandelten Waffenstillstandslinie) in Jammu und Kaschmir forderte 31 zivile Todesopfer auf indischer Seite. Den indischen Luftangriffen auf Pakistan erlagen ähnlich viele Zivilist*innen. Nach Angaben der indischen Armee wurden dabei 70 Terroristen getötet, die sich in den Zielgebieten aufgehalten hätten – wobei auch die Familien einiger von ihnen ums Leben kamen. In Indien sorgten die weit verbreiteten Bilder von der anschließenden öffentlichen Trauerfeier für Empörung, bei der Hafiz Abdur Rauf – ein führendes Mitglied der von der UNO sanktionierten islamistischen Falah-e-Insaniat Foundation – im Beisein pakistanischer Offiziere als Redner auftrat.

Auch wenn der fragile Waffenstillstand derzeit noch zu halten scheint, stehen einige drängende Fragen im Raum: Warum kam es zu dem Anschlag, und – viel wichtiger – was ist in den kommenden Wochen und Monaten zu erwarten? Was kann die internationale Gemeinschaft tun – sofern sie überhaupt etwas tun kann –, um die Kriegsgefahr zu verringern? 

Was waren die Motive des Anschlags?

In ihrer ursprünglichen Erklärung präsentierte die Resistance Front ihren Angriff als Vergeltungsmaßnahme für die Entscheidung der Modi-Regierung vom August 2019, die in Artikel 370 der indischen Verfassung verankerte Autonomie von Jammu und Kaschmir aufzuheben. Dadurch wurde auch eine Regelung außer Kraft gesetzt, die Auswärtigen den Landkauf in der Region untersagte. Gleichzeitig verlor das Gebiet seinen Status als vollwertiger Bundesstaat. Dieser wurde in zwei miteinander verbundene Territorien aufgeteilt, die seither nicht mehr von einer gewählten Regierung, sondern von einem zentral eingesetzten Vizegouverneur verwaltet werden. 

Inzwischen hatte die Modi-Regierung auf Anordnung des Obersten Gerichtshofs allerdings im Oktober 2024 Wahlen abgehalten. Jammu und Kaschmir verfügten also wieder über eine gewählte Regierung – wenngleich diese weiterhin dem Vizegouverneur untergeordnet war –, und es bestand große Hoffnung, dass die vollständige Wiederherstellung des alten territorialen Status bald folgen würde. Mit anderen Worten: Ein Prozess der Wiedergutmachung war bereits im Gange.

Unmittelbar vor den jüngsten Ereignissen sahen Jammu und Kaschmir einer vielversprechenden Tourismussaison entgegen. Die Branche sorgt für etwa 16 Prozent der regionalen Wirtschaftsleistung. Der Anschlag führte in diesem Sektor jedoch zu drastischen Einbrüchen und dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Wiederherstellung des Bundesstaats auf unbestimmte Zeit verzögern. Schwerer wiegt jedoch, dass sich der Fokus der indischen Regierung hinsichtlich der Region im Zuge des Anschlags von möglichen Friedensinitiativen zur Terrorbekämpfung verschoben hat, die so gut wie immer mit Verletzungen von Menschen- und Bürgerrechten einhergeht.

Genau darauf dürften die Angreifer es abgesehen haben. Ihre gezielte Auswahl nicht-muslimischer Opfer verweist auf ihr übergeordnetes Ziel, die gesellschaftliche Spaltung zwischen Hindus und Muslim*innen in Indien weiter zu vertiefen. Die täglichen Presseauftritte des Staatssekretärs im indischen Außenministerium Vikram Misri, bei denen er von der muslimischen Offizierin Sofiya Qureshi und der hinduistischen Staffelkommandantin Vyomika Singh flankiert wurde, sollten bewusst ein Zeichen für Einigkeit in Vielfalt setzen. Diese Geste konnte zwar die erhitzten Gemüter in der weiteren indischen Öffentlichkeit beruhigen, doch bleibt abzuwarten, ob und in welchem Ausmaß sie auch vor Ort eine Wirkung zu entfalten vermochte.

In einer Ansprache an die Nation lobte Ministerpräsident Modi die Geschlossenheit, mit der das Land auf die Ereignisse reagiert habe. Allerdings attackierten nationalistische Mobs in Teilen Indiens kaschmirische Studierende und Händler*innen. In den sozialen Medien kursieren Hassbotschaften und Falschmeldungen, darunter die Behauptung, die kaschmirischen Fremdenführer – die so viele Tourist*innen und insbesondere die Verletzten in Sicherheit brachten – seien nur am Tatort geblieben, um der Tötung von Hindus beizuwohnen. Solche Anschuldigungen wären beinahe lachhaft, wenn sie nicht derart abstoßend wären.

Misri wiederum, der selbst aus einer kaschmirischen Pandit-Familie stammt, sah sich in den sozialen Medien scharfen Anfeindungen ausgesetzt. Auch Sofiya Qureshi geriet ins Visier: Kunwar Vijay Shah, Mitglied im Bundeskabinett und Vorsitzender der Modi-Partei BJP im Bundesstaat Madhya Pradesh, bezeichnete sie öffentlich als «Terroristenschwester». Shah wurde zwar inzwischen vom Obersten Gerichtshof zu einer öffentlichen Entschuldigung aufgefordert, musste jedoch nicht zurücktreten.

Die Angriffe auf Kaschmiri sind seither zurückgegangen, unter anderem weil der Regierungschef von Jammu und Kaschmir, Omar Abdullah, mehrere Minister*innen in andere Bundesstaaten entsandte, um zur Besonnenheit aufzurufen. Ganz zum Erliegen gekommen ist die Gewalt jedoch nicht, und auch die Hassnachrichten in den sozialen Medien zirkulieren weiter – ohne jedes Bewusstsein dafür, dass dies den Terrorist*innen womöglich in die Hände spielt. Unterdessen wurde Ali Khan Mahmudabad, Professor an der renommierten Ashoka-Universität, aufgrund seiner kritischen Äußerungen über das schlechte öffentliche Bild, das die indischen Luftangriffe abgaben, zunächst verhaftet und eine Woche später gegen Zahlung einer Kaution freigelassen.

Ein Scharmützel, das sich seit 78 Jahren angebahnt hat

Wie es weitergeht, hängt maßgeblich vom Verhalten der pakistanischen Sharif-Regierung ab, und mehr noch davon, welche Rolle die internationale Gemeinschaft einnehmen wird. Offiziell will Pakistan weitgehend an seiner gegenwärtigen Politik festhalten – einschließlich der Protektion bewaffneter antiindischer Gruppen –, solange die Kaschmir-Frage ungelöst bleibt.

Der Konflikt um Kaschmir geht auf die Teilung Indiens im Jahr 1947 zurück. Damals fielen pakistanische Freischärler mit der Rechtfertigung in den Fürstenstaat ein, dessen mehrheitlich muslimische Bevölkerung müsse Teil Pakistans werden. Der damalige Maharadscha von Kaschmir schloss sich daraufhin Indien an, und indische sowie kaschmirische Truppen schlugen die Invasoren in einem sechs Monate währenden Krieg gemeinsam zurück. Schließlich brachte Indiens Ministerpräsident Jawaharlal Nehru die Angelegenheit vor die Vereinten Nationen. Der Krieg endete mit der Aufteilung des Staates entlang der von der UNO ausgehandelten Line of Control. Eine Reihe unverbindlicher UN-Resolutionen forderte anschließend, dass die kaschmirische Bevölkerung nach einem Rückzug der pakistanischen Streitkräfte in einem Referendum über ihre Zugehörigkeit zu Indien oder Pakistan entscheiden solle. Da Pakistan sich allerdings weigerte, sich aus den von ihm kontrollierten Gebieten – einem Teil von Jammu und Kaschmir sowie ganz Gilgit-Baltistan – zurückzuziehen, liefen diese Resolutionen ins Leere. 

In den folgenden Jahren führten Indien und Pakistan zwei weitere Kriege, die jeweils mit einer Rückkehr zum Status quo ante endeten, obwohl Indien beide Male militärisch die Oberhand behalten hatte. 1972 einigten sich die Kontrahenten im Shimla-Abkommen darauf, ihren Konflikt künftig bilateral und auf friedlichem Wege zu lösen. Die anschließenden Friedensverhandlungen zielten in erster Linie darauf ab, die faktische Teilung Kaschmirs rechtlich zu formalisieren. Doch die Gespräche scheiterten immer wieder. Schließlich verwarf Pakistan diesen Ansatz 1980 endgültig und begann stattdessen, bewaffnete Gruppen für den Kampf im indisch kontrollierten Teil Kaschmirs zu rekrutieren, auszurüsten und auszubilden.

Mit den Protesten gegen mutmaßlich manipulierte Regionalwahlen in Jammu und Kaschmir bot sich 1987 eine Gelegenheit: Es brach ein von Pakistan aktiv unterstützter bewaffneter Aufstand aus, der nahezu ein Jahrzehnt andauerte. Auch in den darauffolgenden Jahren kam es immer wieder zu grenzüberschreitenden bewaffneten Angriffen, bei denen insgesamt über 80.000 Menschen ums Leben kamen. Mehrere Gesprächsrunden zwischen bewaffneten kaschmirischen Gruppierungen – darunter die Jammu-und-Kaschmir-Befreiungsfront und die Hizbul Mudschaheddin – und der indischen Regierung wurden wiederholt abrupt durch Anschläge in Jammu, Kaschmir oder anderen Teilen Indiens beendet.

Im Jahr 1999 initiierte der damalige indische Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee einen breit angelegten Friedensprozess, der sowohl Verhandlungen zwischen Indien und Pakistan als auch Gespräche der indischen Regierung mit Vertreter*innen der kaschmirischen Unabhängigkeitsbewegung umfasste, etwa der Allparteien-Hurriyat-Konferenz. Begleitend dazu wurde der Austausch zivilgesellschaftlicher Akteur*innen aus Indien, Pakistan und dem geteilten Jammu und Kaschmir gefördert. Vajpayees Amtsnachfolger Manmohan Singh weitete die friedenspolitischen Bemühungen in seiner Regierungszeit zwischen 2004 und 2014 weiter aus. 

Insbesondere die beiden zuletzt genannten Initiativen waren enorm erfolgreich. So appellierten führende Repräsentant*innen der Unabhängigkeitsbewegung wie Abdul Ghani Lone 2000 an bewaffnete Gruppen aus Pakistan, die Waffen niederzulegen und sich an Friedensverhandlungen zu beteiligen. Lones mutiger Vorstoß kostete ihn zwar das Leben, war jedoch bedeutsam, weil er für Kaschmiri, die den bewaffneten Kampf hinter sich lassen wollten, einen politischen Raum öffnete. Auch die Allparteien-Hurriyat-Konferenz, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits in geheimen Gesprächen mit einem Gesandten des indischen Ministerpräsidenten Vajpayee befand, begann in den Friedensgesprächen mit verschiedenen pakistanischen Regierungen – unter Ministerpräsident Nawaz Sharif, dem Präsidenten und Generalstabschef Pervez Muscharraf und anderen – zunehmend eine vermittelnde Rolle einzunehmen. Parallel dazu formierten sich in Indien und Pakistan breite zivilgesellschaftliche Bewegungen zur Unterstützung des Friedensprozesses.

Der große Durchbruch erfolgte in den Jahren 2006 und 2007, als die von Singh und Muscharraf ernannten Sondergesandten Satish Lamba und Tariq Aziz in einem diplomatischen Seitenkanal den Entwurf für eine Rahmenvereinbarung ausarbeiteten. Mit dieser bekannten sich beide Seiten zum Ziel der Abrüstung, Demobilisierung und Reintegration der in Pakistan ansässigen Gruppen, gefolgt von einem schrittweisen Truppenabbau auf beiden Seiten der Line of Control sowie entlang der internationalen Grenze. Beiden Teilen von Jammu und Kaschmir sollte Autonomie gewährt werden. Des Weiteren einigte man sich auf Verfahren zur gemeinsamen Erschließung von Ressourcen und Überwachung der Umsetzung der Vereinbarung. Begleitet wurde dieser Prozess von vertrauensbildenden Maßnahmen, etwa dem Handel und Reiseverkehr über die Line of Control hinweg.

Doch im Juli 2007 kam es zu einem Aufstand islamistischer Geistlicher gegen Muscharraf und der Belagerung der Roten Moschee in Islamabad, unweit des Armeehauptquartiers in Rawalpindi. Muscharraf bat um eine Verhandlungspause, der Singh zustimmte. Nach den Wahlen von 2008 übernahm Asif Ali Zardari in Pakistan die Regierungsmacht und trieb vor allem den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten voran, um ein geeignetes Klima für ein künftiges Kaschmir-Abkommen zu schaffen.

Die Terroranschläge in Mumbai im November 2008 machten diese Perspektive allerdings wieder zunichte. Zwar hatten Vajpayee und Singh während ihrer Amtszeiten die Verhandlungen mit Pakistan trotz mehrerer Anschläge fortgesetzt, doch war Mumbai der erste große Terroranschlag, der über fünf lange Tage live im indischen Fernsehen übertragen wurde. Das Ereignis markierte in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt: Keine indische Regierung würde fortan auf entschlossene Gegenmaßnahmen nach größeren Terroranschlägen verzichten können, und Friedensgespräche mit Pakistan können nur noch unter der Bedingung stattfinden, dass die Beendigung des grenzüberschreitenden Terrorismus dabei angegangen wird. 

Die Singh-Regierung reagierte auf den Anschlag von Mumbai mit rechtsstaatlichen Mitteln. Sie legte Beweise vor, drängte auf eine gemeinsame Untersuchung und Strafverfolgung und wandte sich an die Financial Action Task Force (FATF), um Sanktionen gegen Pakistan aufgrund der Unterstützung bewaffneter antiindischer Formationen zu erwirken. Die Bemühungen trugen insofern Früchte, als mit LeT und Jaish-e-Mohammed zwei Gruppen auf die internationale Terrorliste gesetzt wurden, die von Pakistan aus operieren. Darüber hinaus setzte die FATF Pakistan auf ihre Graue Liste, was es dem Land erheblich schwerer macht, Investitionen und internationale Hilfsleistungen zu erhalten. Doch auch die Reaktionen innerhalb Pakistans zeigen die Brisanz der Lage: Der erste Sonderermittler der pakistanischen Justiz zum Anschlag in Mumbai wurde 2013 ermordet, seinem Nachfolger der Personenschutz entzogen. Die Verantwortlichen für den Angriff wurden in Pakistan bis heute nicht vor Gericht gestellt, und sämtliche Versuche, die Friedensgespräche wiederzubeleben, verliefen seither im Sande. 

Als Modi 2014 Ministerpräsident wurde, ließ sein überraschender Besuch bei seinem pakistanischen Amtskollegen Sharif kurzzeitig Hoffnung auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses aufkeimen. Sharif ernannte zwar den gemäßigten General Qamar Javed Bajwa zum Armeechef, der einen informellen Waffenstillstand entlang der Line of Control aushandelte und versuchte, die Armeeführung für einen wirtschaftsfreundlichen Kurs gegenüber Indien zu gewinnen, wurde jedoch vom Militär entmachtet und ins Exil nach London gezwungen. In der Folge schlitterte Pakistan in eine politische und ökonomische Krise, die nach wie vor anhält. Sharifs Nachfolger, Imran Khan, verlängerte 2019 zwar Bajwas Amtszeit als Armeechef, weshalb der Waffenstillstand zunächst Bestand hatte. Doch auch Khan wurde schließlich vom Militär entmachtet und befindet sich inzwischen in Haft. 

Pakistan wird derzeit von einer schwachen Koalitionsregierung unter Shehbaz Sharif geführt, die allem Anschein nach noch stärker unter dem Einfluss des Militärs steht als ihre Vorgängerinnen. Legt man seine Rede vom 17. April 2025 zugrunde, so scheint der derzeitige Armeechef Asif Munir für eine Rückkehr zu einer kompromisslosen Doktrin zu stehen, die erstmals 1958 mit General Mohamed Ayub Khans Militärputsch Oberwasser erhielt und von General Zia-ul-Haq weiter verschärft wurde. Dieser zufolge stehen sich Inder*innen und Pakistani als religiöse und ethnische Erzfeind*innen gegenüber. Armeechef Munir, ein aktueller Vertreter dieser harten Linie, wurde erst kürzlich zum Feldmarschall befördert.

Unterdessen entsenden sowohl Indien als auch Pakistan parlamentarische Delegationen in internationale Hauptstädte: Indien, um für Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus zu werben; Pakistan, um Indien der Förderung des antipakistanischen Terrorismus zu bezichtigen, wie er beispielsweise durch eine Zugentführung der Belutschistan-Befreiungsfront im März 2025 zum Ausdruck komme. Doch während in Pakistan antiindische Gruppen aktiv sind, beheimatet Indien keine bewaffneten Gruppen der belutschischen Unabhängigkeitsbewegung.

Internationaler Druck ist entscheidend

Was also können andere Länder für den Frieden tun? Zunächst einmal können jene Staaten, die Einfluss auf beide Parteien haben – insbesondere die USA und europäische Staaten –, Pakistan über die UNO und die FATF zu Reformen drängen, die die Unterstützung terroristischer Gruppen unterbinden. Auch der Internationale Währungsfonds könnte dazu angehalten werden, sicherzustellen, dass kein Teil seiner Kredite an bewaffnete Gruppen oder deren Ideologen umgeleitet wird.

Es ist fraglich, ob das ausreichen wird, um die Modi-Regierung zu Friedensgesprächen mit Pakistan zu bewegen. Die pakistanische Armee ist zwar Teil des Problems, zeigt allerdings bisher wenig Bereitschaft, Teil der Lösung zu sein. Wie mir Satish Lamba, seinerzeit als indischer Gesandter tätig, mitteilte, war die pakistanische Armeeführung hinsichtlich der Singh-Muscharraf-Initiative tief gespalten. Laut pakistanischen Analyst*innen hat die Modi-Regierung während der Amtszeit von General Bajwa als Armeechef eine Gelegenheit verpasst, obwohl auch er mit dem gleichen Gegenwind hätte rechnen müssen, wie Muscharraf vor ihm. Modi pflegt seinerseits ein sorgfältig aufgebautes Image als starker Mann. Seine aufgehetzten Anhänger*innen würden Friedensgespräche als Zeichen der Schwäche auslegen, es sei denn, es gäbe ein glaubwürdiges Vorgehen gegen antiindische Gruppen in Pakistan, die die Modi-Regierung für eine Rechtfertigung von Verhandlungen nutzen könnte. 

Dennoch wäre es naiv, mehr als Gespräche zu vertrauensbildenden Maßnahmen zu erwarten. Diese sollten jedoch nicht unterschätzt, sondern als wichtige kurz- oder mittelfristige Schritte betrachtet werden. Für Jammu und Kaschmir wären ein langfristiger Waffenstillstand und eine gemeinsame Überwachung der Sicherheit entlang der Line of Control und der internationalen Grenze eine große Erleichterung. Auf beiden Seiten der Linie müssen zerstörte Wohnhäuser und andere Gebäude wiederaufgebaut werden. Im indischen Teil Kaschmirs muss die Tourismusbranche sich wieder erholen. Und nicht zuletzt gilt es, die Wiederherstellung des Bundesstaates erneut auf die Tagesordnung zu setzen.

Mit Blick auf die von Pakistan kontrollierten Gebiete des ehemaligen Fürstenstaates gehen die Probleme noch tiefer. Die Führungspersönlichkeiten aus Politik und Zivilgesellschaft, mit denen ich in diesen Regionen einschließlich Gilgit-Baltistans gesprochen habe, betonten nachdrücklich, dass ihre demokratischen Rechte nur im Rahmen einer Einigung mit Indien verwirklicht werden könnten, die den gesamten ehemaligen Fürstenstaat umfasst. Ein Ende der Feindseligkeiten und die Einführung vertrauensbildender Maßnahmen würden auch sie sehr entlasten, selbst wenn ihre Rechte in einem solchen Szenario weiterhin eingeschränkt blieben.

Unterdessen fordern friedenspolitische Gruppen aus der Zivilgesellschaft gemeinsame und transparente Nachforschungen, um die Täter des Anschlags in Pahalgam zu identifizieren, festzunehmen und strafrechtlich zu verfolgen. Indiens letzter Versuch, eine gemeinsame Untersuchung in die Wege zu leiten, hinterließ zwar einen bitteren Nachgeschmack, doch wenn die Bemühungen um internationale Unterstützung bei der Bekämpfung von Terrorgruppen, die von Pakistan aus operieren, erfolgreich sein sollen, wird irgendeine Form der Untersuchung unerlässlich sein. Nach den Anschlägen in Mumbai spielten die pakistanische Zivilgesellschaft und insbesondere die Medien eine wichtige Rolle bei der Suche nach den Schuldigen. Nicht so dieses Mal – möglicherweise, weil die antipakistanische Schmährhetorik der BJP bei der Bevölkerung des Nachbarlandes tiefe Ablehnung auslöst. Vor diesem Hintergrund ist der Wiederaufbau des zivilgesellschaftlichen Dialogs – auch in Drittländern – von entscheidender Bedeutung.

Besondere Beachtung sollte dabei die Botschaft finden, die aus Jammu und Kaschmir zu hören war. Dort erhob sich nach dem Anschlag in Pahalgam eine spontane Welle der Trauer und Verurteilung der Tat. «Nicht in meinem Namen» war auf Plakaten bei den Mahnwachen zu lesen, die die Behauptung der Resistance Front zurückwiesen, für die pakistanische und kaschmirische Bevölkerung zu sprechen. Es steht außer Frage, dass sowohl Indien als auch Pakistan den Menschen in Jammu und Kaschmir auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß Unrecht getan haben. Dieses Unrecht wird aber nicht durch gewalttätige Radikale und ihre Politik des Hasses behoben werden. Internationale Entscheidungsträger*innen und Medien täten gut daran, die Kaschmirfrage klar von der Frage des Terrorismus zu unterscheiden.

Während der blutigsten Monate nach der Teilung des Fürstenstaats sagte Mahatma Gandhi, er sehe «einen Hoffnungsschimmer» in Kaschmirs Weigerung, sich von der Gewalt mitreißen zu lassen. Die heutige Reaktion der Kaschmiri auf den Angriff von Pahalgam bietet einen ähnlichen Hoffnungsschimmer – zu hoffen bleibt, dass Indien in Jammu und Kaschmir die Menschen- und Bürgerrechte wiederherstellt und Pakistan die grenzüberschreitenden bewaffneten Gruppen bekämpft und seinerseits beginnt, sich der Frage der Menschen- und Bürgerrechte in den von ihm kontrollierten Teilen des ehemaligen Fürstenstaates anzunehmen.
 

Übersetzung von Carlotta Freigang und Maximilian Hauer für Gegensatz Translation Collective

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news-53473 Thu, 05 Jun 2025 09:29:00 +0200 Alice Weidel auf Xiaohongshu https://www.rosalux.de/news/id/53473 Wie die AfD auf den chinesischen Social-Media-Plattformen reüssiert. Von Canan Kus und Xiaolu Zhang Ein Video mit einer tanzenden Katze, eine Rezension über eine Gesichtscreme – und dann plötzlich Alice Weidel, in Zeitlupe, mit Filter, schiefem Lächeln und Musik. 

Tatsächlich stolpert man auf Xiaohongshu, einer der beliebtesten Social-Media-Plattformen in China, des Öfteren über solche Fanvideos. Die Fraktionsvorsitzende der AfD erfährt Aufmerksamkeit in den Sozialen Medien des Landes – und das nicht etwa als Hass-, sondern als Kultfigur. 

Weidels virale Karriere im chinesischen Internet begann nicht über Nacht. Erste Accounts mit ihren Bundestagsreden, inklusive chinesischer Untertitel, tauchten bereits vor einigen Jahren auf. Richtig Fahrt nahm die Rezeption aber erst im Zuge des jüngsten Bundestagswahlkampfs auf. Die Erzählung ist immer dieselbe: «Starke Frau widerspricht dem Establishment». Innerhalb der digitalen Sphäre trägt Weidel mittlerweile den Spitznamen «Eiserne Lady», ein Verweis auf Margaret Thatcher, aber auch auf das idealisierte Bild der kühlen, entschlossenen Frau, die gegen den Strom schwimmt. 

Canan Kus und Xiaolu Zhang arbeiten im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der chinesischen Hauptstadt Beijing.

Man merkt schnell, dass es sich bei diesen Videos in erster Linie um popkulturelle Projektionen handelt. Nicht zufällig ähneln sie stilistisch den Fanvideos, die in Ostasien über Schauspieler*innen und Musiker*innen veröffentlicht werden. 

Dass Alice Weidel als Projektionsfläche taugt, liegt an ihrer Biografie: Sie hat in China gelebt, spricht die Landessprache und schrieb ihre Promotion über das chinesische Rentensystem. Das macht sie bei ihren chinesischen Fans populär als «eine Deutsche, die uns versteht». In manchen Kommentaren wird sie gar mit «Tugend» assoziiert, einem konfuzianisch geprägten Begriff für moralische Integrität und Aufrichtigkeit. Dass das gleiche Schriftzeichen im Wort Deutschland steckt, wird mitunter augenzwinkernd aufgegriffen. 

Dass Weidel eine zentrale Figur der extremen Rechten in Deutschland ist, ihre Partei systematisch gegen Minderheiten hetzt und ein rechtsautoritäres Weltbild vertritt, bleibt in dieser Wahrnehmung oft ausgeblendet. Die meisten chinesischen Weidel-Fans sind keine klassischen Rechten. Viele von ihnen sind weder politisch organisiert noch ideologisch gefestigt. Es sind Einzelpersonen, die Hashtags folgen, Memes weiterleiten, Clips teilen. Doch ihr sozialer Hintergrund ist, sofern man ihre Profile zugrunde legt, durchaus aufschlussreich: Es handelt sich überwiegend um Mitglieder der urbanen Mittelschicht, mit Bildung, internationaler Mobilität und sozialer Absicherung. 

In dieser Gruppe gibt es, auch in China, durchaus rechte Aktivist*innen. Für diese ist Weidel nicht bloß ein popkulturelles Symbol, sondern eine Bannerträgerin des Kulturkampfs. Diese Haltung ist bekanntlich kein spezifisch chinesisches Phänomen, sondern Teil einer digitalen Konstellation, in der sich zumeist männlich dominierte konservative und rechtsradikale Milieus über Ländergrenzen hinweg austauschen. In Foren, Telegram-Kanälen und Kommentarspalten treffen sich jene, die sich als Opposition zur vermeintlich «woken Mehrheit» verstehen. Migration, Geschlechterdebatten, Klimapolitik – all das gilt hier als aufdringlich, störend und «neumodisch». Die Wortführer*innen sind Personen, die sich auf Elon Musk, Jordan Peterson oder eben Alice Weidel beziehen. Diese globale Rechte – ob in Deutschland, den USA, Südkorea oder China – eint weniger eine geschlossene Ideologie als eine geteilte Wahrnehmung: nämlich das Gefühl, ständig belehrt, eingeschränkt oder nicht ernst genommen zu werden.

Der Weidel-Vibe

Doch wie gelangen Repräsentant*innen der internationalen Rechten in chinesische Timelines? Der Weg führt selten über offizielle Medien, sondern eher über eine lose, digitale Infrastruktur. Dabei werden Inhalte von YouTube, X oder Telegram heruntergeladen, übersetzt, ästhetisiert und auf chinesischen Plattformen neu hochgeladen. Vom politischen Gehalt bleibt dabei wenig, vom Stil hingegen viel. 

Dass Alice Weidel und die AfD im chinesischen Internet zunehmend sichtbar sind, ist per se noch kein Beweis für eine ideologische Übernahme ihrer Positionen. Vielmehr überlagern sich in der digitalen Rezeption zwei sehr unterschiedliche Strömungen: Auf der einen Seite steht die popkulturelle Inszenierung Weidels als ästhetisch gefilterte Figur und Projektionsfläche. Diese Lesart blendet Inhalte oft aus und funktioniert vor allem über Bild, Haltung und Soundtrack.

Daneben existiert jedoch auch eine politisch motivierte Rezeption: Einzelne Akteure – etwa nationalistische Kulturkämpfer*innen, tech-nahe Influencer*innen oder aus dem Ausland zurückgekehrte Chines*innen – rezipieren und verbreiten bewusst rechte Narrative aus dem Westen, adaptieren Begriffe wie «woke Ideologie» oder «Meinungsdiktatur» und übersetzen sie in den chinesischen Kontext. In dieser Sphäre ist Weidel nicht nur ein Symbol, sondern auch eine politische Figur, deren Botschaften aufgenommen und in antiliberale Debatten eingespeist werden.

Gerade weil sich beide Rezeptionsmodi in digitalen Räumen visuell kaum unterscheiden, entsteht beim Blick von außen leicht der Eindruck einer homogenen Masse. Doch was als gemeinsamer Trend erscheint, speist sich aus sehr verschiedenen Quellen.

Wer genauer hinsieht, erkennt ein differenziertes Wechselspiel, statt einer Konvergenz von autoritärem Staat und rechtspopulistischer Partei. China sieht sich als Land, das trotz – oder wegen – seines wirtschaftlichen Aufstiegs ständig vom Westen kritisiert wird. Die AfD hingegen ist eine zwar relevante, aber weitgehend machtlose Oppositionspartei, die sich als ewiges Opfer inszeniert. Zwei grundverschiedene Selbstbilder, die wenig miteinander zu tun haben und doch in der Logik digitaler Sichtbarkeit aufeinanderstoßen. Durch algorithmische Verstärkung entsteht daraus ein Missverständnis in Endlosschleife: Fan-Montagen, Untertitel, TikTok-Soundtracks. Was ursprünglich als Abgrenzung gegenüber westlicher Kritik gedacht war, verwandelt sich durch den Algorithmus in scheinbare Nähe. Deswegen sollten wir vorsichtig sein, aus der Begeisterung für einzelne Personen oder Narrative in sozialen Medien vorschnell auf eine strategische Annäherung zwischen politischen Ideologien zu schließen. 

Und so sind denn auch die chinesischen Reaktionen auf Weidel und Co. – jenseits der erwähnten Claqueure des Kulturkampfs – kein Ausdruck eines einheitlichen oder gar staatlich gesteuerten politischen Lagers. Vielmehr spiegeln sie eine digital fragmentierte, vielstimmige Gesellschaft, in der viele Nutzer*innen sich eigenständig mit globalen Themen beschäftigen. 

In der Auseinandersetzung mit Figuren wie Weidel zeigt sich aber auch ein Bedürfnis nach Alternativen zum moralischen Überbau des Westens, der in vielen chinesischen Kontexten weniger als Haltung, denn als Hybris empfunden wird. Schließlich bleiben westliche, auch linke, Stimmen oft in einer moralischen Sprache und belehrend wirkenden Tonlage gefangen, und wenn sie über China sprechen, geht es vor allem um Vorhaltungen. Dies zeigt: Die Fan-Kultur rund um Weidel ist kein rein chinesisches, sondern auch ein westliches bzw. deutsches Versäumnis. 

Instrumentelle China-Politik der AfD

Während Weidels Popularität sich aus digitaler Ästhetik und kulturellen Projektionen speist, zeigt der Fall des AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah, wie außenpolitische Interessen und populistische Strategien ineinandergreifen können. Krah inszeniert sich seit Jahren als «chinafreundlich» und kritisiert die China-Politik der Bundesregierung. Doch inzwischen steht er selbst im Mittelpunkt schwerer Vorwürfe; es laufen sogar Ermittlungen gegen ihn wegen des Verdachts der Bestechlichkeit. Es geht um Zahlungen aus einem Umfeld, das mit Spionagetätigkeit in Verbindung gebracht wird – darunter ein Mitarbeiter aus Krahs Team, der wegen möglicher Spionage für China in Haft genommen wurde. 

Diese Affäre wirft ein Schlaglicht darauf, wie einzelne AfD-Vertreter*innen versuchen, Chinas geopolitische Rolle für innenpolitische Raumgewinne zu nutzen – und dabei offenbar nicht einmal vor kriminellen Kontakten zurückschrecken. Krah geht es nicht um chinesische Politik, sondern um die Funktion, die China für den innenpolitischen Kampf der AfD einnehmen soll: als Symbol einer anderen, gegen die «wertegeleitete» Außenpolitik des Westens gerichteten Ordnung. Die Partei verfolgt keine kohärente China-Strategie, sondern bedient sich selektiv jener Motive, die sich innenpolitisch verwerten lassen. Sie versucht, sich als pragmatische Kraft zu präsentieren, und nutzt reale geopolitische Spannungen als Brennstoff für ihre populistische Agenda. Dass die AfD dabei suggeriert, Beijing sei Teil ihres eigenen kulturkämpferischen Kleingartens, ist offensichtlich von großer Überheblichkeit getragen. 

Das Image der AfD als vermeintlich chinafreundliche Kraft ist also das Produkt einer lose zusammenlaufenden Medienöffentlichkeit auf beiden Seiten. Einzelpersonen, Fans, Diaspora-Stimmen, TikTok-Videos, kommentierte Bundestagsreden: Sowohl in Deutschland als auch in der chinesischen Social-Media-Landschaft sind es lose Netzwerke und algorithmische Dynamiken, die das Bild der AfD prägen. Gerade der Mangel an Einordnung öffnet hier Raum für Deutungen: So kann die AfD sich als «vernünftige Alternative» zur Chinapolitik der Bundesregierung inszenieren, die mit erhobenem Zeigefinger auftritt, aber kaum konkrete Gesprächsangebote macht. Und in der Tat verharrt der westliche Diskurs allzu oft in einer moralischen Hybris. Doch was innenpolitisch als moralischer Kompass verkauft wird, wirkt nach außen nicht selten wie starre Verweigerung.

Wenn demokratische und progressive Politik keine Form findet, die erklärend, einladend und klar ist, verliert Glaubhaftigkeit den Resonanzboden. Wer befürchtet, die eigene Deutungshoheit zu verlieren, und deshalb jede Annäherung reflexhaft zurückweist, überlässt der AfD die Bühne. Auch die deutsche Linke hat bislang kaum außenpolitisches Vokabular entwickelt, um mit Staaten wie China differenziert ins Gespräch zu kommen, ohne reflexhaft in Freund-Feind-Schemata zu verfallen. 

Vielleicht ist das die eigentliche Brücke: Nicht zwischen der AfD und China, sondern zwischen all jenen Akteur*innen, die verstehen wollen, wie globale Politik funktioniert, ohne sofort in die Falle hegemonialer Selbstbestätigung zu treten. Denn die Aufgabe linker Politik im 21. Jahrhundert lautet nicht Abgrenzung, sondern Anschlussfähigkeit ohne Anbiederung und Arroganz.


Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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news-53487 Wed, 04 Jun 2025 14:14:56 +0200 Polen rückt nach rechts https://www.rosalux.de/news/id/53487 Über die Folgen des Wahlsiegs von Karol Nawrocki. Von Gavin Rae Mit der Wahl des von der national-konservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) unterstützten Kandidaten, Karol Nawrocki, zum Präsidenten rückt die polnische Politik weiter nach rechts. Bei der Stichwahl mit einer Rekordwahlbeteiligung von 72 Prozent erhielt Nawrocki 50,8 Prozent der Stimmen und schlug damit knapp seinen Rivalen Rafał Trzaskowski von der liberal-konservativen Koalicja Obywatelska (Bürgerkoalition, KO), der 49,1 Prozent erhielt. 

Gavin Rae ist Professor für Soziologie an der Koźmiński-Universität in Warschau. Er leitet den linken Think-Tank «Naprzód» (Vorwärts).

Dieses Ergebnis leitet eine neue Phase politischer Unsicherheit in Polen ein. Ministerpräsident Donald Tusk (KO) kündigte einen Tag nach der Wahl eine Vertrauensabstimmung im Parlament an, um die Autorität seiner Regierung wiederherzustellen. Die Wahl Nawrockis wird die Position der Regierung schwächen und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die PiS die nächste Parlamentswahl 2027 gewinnen und möglicherweise eine Koalitionsregierung mit der rechtsextremen Konfederacja (Konföderation) bilden wird.

Rechtsextremer Königsmacher

Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl erwies sich der Kandidat der Konfederacja, Sławomir Mentzen, als Königsmacher. Gemeinsam mit dem noch extremeren Kandidaten Grzegorz Braun hatte die extreme Rechte in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl rund 20 Prozent der Stimmen errungen. Im Vorfeld der Stichwahl traf sich Mentzen mit beiden Kandidaten, wobei Nawrocki all seinen Forderungen vorbehaltlos zustimmte, was darauf hindeutet, dass zwischen ihnen kaum programmatische oder ideologische Unterschiede bestehen. Trzaskowski hingegen stimmte nur einigen von Mentzens Forderungen zu, ließ jedoch im Anschluss an das Treffen Fotos veröffentlichen, die die beiden beim gemeinsamen Biertrinken in einer Kneipe neben Außenminister Radosław Sikorski (KO) zeigen.

Trzaskowskis Versuch, Mentzen-Wähler für sich zu gewinnen, war allerdings nicht erfolgreich. Überdies vermochte er die Koalition, die die KO zusammen mit dem konservativen Trzecia Droga (Dritter Weg) und dem Mitte-Links-Bündnis Lewica (Linke) 2023 an die Macht gebracht hatte, nicht zusammenzuhalten. Gleichwohl sollte man nicht vergessen, dass die PiS bei dieser Parlamentswahl mehr Stimmen erhalten hatte als die Bürgerkoalition. Nawrockis Sieg bestätigt nun erneut, dass die PiS im Land eine größere Unterstützung erfährt als die KO. 

Wie in vielen anderen Ländern mobilisierte die Verachtung des Gegners durch den liberalen Mainstream vor allem dessen Wählerschaft. Nawrocki konnte die Wut derer ausnutzen, die sich zunehmend vom Wirtschaftswachstum des Landes ausgeschlossen fühlen.

Der Sieg der von der KO geführten Koalitionsregierung wurde seinerzeit von einer Welle des Optimismus ihrer Unterstützer*innen getragen. Dieser Teil der Gesellschaft hoffte auf einen grundlegenden Bruch mit der achtjährigen PiS-Herrschaft. In weniger als zwei Jahren ist die Regierung jedoch äußerst unpopulär geworden: 44 Prozent der Gesellschaft bewerten sie negativ, nur 32 Prozent positiv. Obwohl Polen ein relativ starkes Wirtschaftswachstum aufweist, profitieren große Teile der Gesellschaft nicht von diesem Erfolg. Darüber hinaus hat die Regierung – teilweise aufgrund der Vetodrohungen von Präsident Andrzej Duda (PiS) – bei Themen wie der Reform des extrem restriktiven Abtreibungsrechts, der Einführung gleichgeschlechtlicher eingetragener Partnerschaften und der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit keine nennenswerten Fortschritte erzielt. Diese Bilanz der Koalitionsregierung behinderte Trzaskowskis Wahlkampf und ließ das ohnehin bereits lockere, sehr heterogene politische Regierungsbündnis weiter auseinanderfallen.

Die soziale Spaltung

Trzaskowskis Wahlkampf konzentrierte sich vor allem auf die Defizite seines Rivalen Nawrocki. Dazu gehörten Vorwürfe und Enthüllungen: Nawrocki habe sich in der Vergangenheit an organisierten Fußball-Hooligan-Kämpfen beteiligt, unethisch eine Wohnung von einem älteren Herrn ergaunert, Verbindungen zu kriminellen und rechtsextremen Banden gepflegt und während seiner Tätigkeit als Türsteher in einem Hotel Prostituierte für Gäste organisiert. Man hoffte, dies würde ausreichen, um die Wähler*innen von einer Stimmabgabe für Nawrocki abzuschrecken und sie stattdessen für den zwar seriösen, aber farblosen Trzaskowski zu gewinnen.

Bei dieser Wahl handelte es sich jedoch nicht um einen Persönlichkeitswettbewerb. Wie in vielen anderen Ländern mobilisierte die Verachtung des Gegners durch den liberalen Mainstream vor allem dessen Wählerschaft. Nawrocki konnte die Wut derer ausnutzen, die sich zunehmend vom Wirtschaftswachstum des Landes ausgeschlossen fühlen. Seine Wähler*innen scherten sich nicht um die Verleumdungen durch Angehörige einer Regierung, der sie nicht vertrauten.

Eine Analyse der Wahlergebnisse verdeutlicht die sozialen Unterschiede, die den Ausgang der Wahl bestimmt haben. Trzaskowski erhielt 73 Prozent der Stimmen der Hochschulabsolvent*innen, während Nawrocki 63 Prozent der Wähler*innen mit Grundbildung für sich gewinnen konnte. 79 Prozent der Landwirt*innen, 68 Prozent der Arbeiter*innen und 65 Prozent der Arbeitslosen unterstützten Nawrocki, aber 65 Prozent der leitenden Angestellten und Manager*innen sowie 57 Prozent der Selbstständigen wählten Trzaskowski. Nawrocki erhielt 64 Prozent der Stimmen der ländlichen Bevölkerung, Trzaskowski 66 Prozent der Stimmen in den Großstädten. 54 Prozent der Frauen stimmten für Trzaskowski, aber 54,3 Prozent der Männer wählten Nawrocki. 

Interessanterweise gab es mit Blick auf das Alter nur geringfügige Unterschiede bei der Stimmabgabe. Dies lag teilweise daran, dass Nawrocki die meisten jener jüngeren Wähler*innen gewinnen konnte, die im ersten Wahlgang noch Mentzen unterstützt hatten. 

Rechter Strategiewechsel

Trotz der politischen Spaltungen in Polen sind sich die beiden großen politischen Blöcke, PiS und KO, in vielen Fragen einig. Sowohl Trzaskowski als auch Nawrocki äußern sich feindselig gegenüber Migrant*innen und Geflüchteten, befürworten Steuersenkungen und plädieren für die Beibehaltung oder sogar Erhöhung der polnischen Militärausgaben, die derzeit fast 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Die Taktik der KO, die Politik der extremen Rechten in Fragen wie der Migrationspolitik zu kopieren, hat indessen nicht geholfen, sondern vielmehr dazu geführt, dass die Menschen für das Original anstatt für die Kopie stimmten. Grundsätzlich haben Maßnahmen wie die Abschaffung des Asylrechts die migrationsfeindliche Stimmung in Polen zuletzt weiter angeheizt und damit den Boden für den Aufstieg der extremen Rechten bereitet.

Nawrockis Wahlkampf verdeutlichte, wie sich die Strategie der PiS verändert hat. Während ihrer beiden Amtszeiten (2005 bis 2007 sowie 2015 bis 2023) kombinierte PiS katholischen Konservatismus mit Elementen umverteilender Sozialpolitik: Die PiS-Regierungen führten ein neues universelles Kindergeld ein, erhöhten den Mindestlohn deutlich, senkten das Renteneintrittsalter und verboten weitgehend die Öffnung von Geschäften an Sonntagen. Es war das erste Mal seit über zwei Jahrzehnten, dass eine Regierung Maßnahmen zur Eindämmung des neoliberalen Sozialabbaus ergriff.

Angesichts der Dominanz der beiden konkurrierenden rechten Blöcke steckt die polnische Linke weiterhin fest. Es ist wahrscheinlich, dass die Unterstützung für Lewica sinken und der Rückhalt für Tusks Regierung insgesamt weiter schwinden wird. 

Bei der Präsidentschaftswahl betonte Nawrocki jedoch weder die soziale Bilanz der PiS, noch wandte er sich gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der KO. Stattdessen befürwortete er Steuersenkungen und sogar die Einführung einer Verfassungsgarantie, Erbschaften von der Besteuerung auszunehmen. Darüber hinaus waren seine «sozialen» Versprechen offen rassistisch und richteten sich gegen Migrant*innen. So versprach Nawrocki beispielsweise, dass «polnische Bürger bei Arztbesuchen und in Kliniken Vorrang haben müssen. Polnische Kinder müssen in Schulen und Kindergärten Vorrang haben. Wir müssen ein Verbot von Zuzahlungen zu ukrainischen und anderen Renten einführen, und Sozialleistungen werden in erster Linie den Polen zugutekommen.»

Die PiS wird bei der nächsten Parlamentswahl voraussichtlich an Nawrockis Strategie anknüpfen. Sie dürfte versuchen, die Unterstützung jüngerer – vor allem männlicher – Wähler zu gewinnen, die sich von der Konfederacja und anderen rechtsextremen Kräften angesprochen fühlen. Der Schwerpunkt wird weniger auf sozialem Zusammenhalt und konservativen Werten liegen, als auf der Betonung gesellschaftlicher Hierarchien, inklusive Feindseligkeit gegenüber Außenseitern und jenen, die nicht als «echte Polen» gelten.

Ein Sieg des Trumpismus

Die Präsidentschaftswahl fand vor dem Hintergrund der sich infolge der erneuten Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten verändernden internationalen Beziehungen statt. Beide Kandidaten haben ähnliche Ansichten zum Krieg in der Ukraine, sind dezidiert proamerikanisch und befürworten massive Investitionen in das polnische Militär. Allerdings haben sich die KO-geführte Regierung und Trzaskowski auch für eine stärkere Annäherung Polens an andere europäische Staaten wie Deutschland und Frankreich ausgesprochen und unterstützen die Pläne zur Aufrüstung der EU. Dagegen haben sich die PiS und Nawrocki enger mit der Trump-Regierung verbündet. Nur fünf Tage vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl hielt die Conservative Political Action Conference deshalb ihr erstes Treffen in Polen ab. Bei dieser Veranstaltung bekundete Kristi Noem, die Heimatschutzministerin der USA, ihre Unterstützung für Nawrocki: «Wenn Sie einen Politiker wählen, der mit Präsident Donald J. Trump zusammenarbeitet, wird das polnische Volk einen starken Verbündeten haben, der dafür sorgen wird, dass Sie Feinde abwehren können, die Ihre Werte nicht teilen.»

Nawrockis Wahl stellt deshalb auch einen Sieg des Trumpismus in der Region dar. Nawrocki stimmte Mentzens Forderungen zu, keine polnischen Truppen in die Ukraine zu schicken und jeden Versuch des Landes, der NATO beizutreten, mit einem Veto zu blockieren (Trzaskowski unterstützte lediglich die erste Forderung). Dies spiegelt die veränderte Außenpolitik der neuen US-Regierung sowie die wachsende Angst der polnischen Gesellschaft wider, in einen größeren Konflikt um die Ukraine hineingezogen zu werden. Nawrocki befürwortet zudem, dass Polen seine Militärausgaben weiter erhöht, ganz im Einklang mit Trumps Strategie, die europäischen NATO-Länder zu zwingen, ihre militärischen Kapazitäten auszubauen.

Und die Perspektive der Linken?

Angesichts der Dominanz der beiden konkurrierenden rechten Blöcke steckt die polnische Linke weiterhin fest. Die sozialdemokratische Lewica bleibt der kleinere Partner in einer Dreiparteienkoalition. Nach der Wahl Nawrockis besteht noch weniger Hoffnung, dass diese Regierung die von der Linken propagierten Forderungen, wie beispielsweise eine Reform des Abtreibungsrechts, umsetzen wird. Unter diesen Bedingungen scheint es wahrscheinlich, dass die Unterstützung für Lewica sinken und der Rückhalt für Tusks Regierung insgesamt weiter schwinden wird. 

Dagegen gelang es der nicht an der Regierung beteiligten linken Partei Razem (Zusammen), sich bei diesen Wahlen eine stärkere unabhängige Position und mehr Unterstützung bei den Wähler*innen zu sichern. Die Frage ist, ob sie die Lücke füllen kann, die durch die sinkende Unterstützung für die Regierung und Lewica entstanden ist. Wird sie auch diejenigen Wähler*innen gewinnen können, die eine soziale Alternative suchen, weil die PiS in der Wirtschafts- und Sozialpolitik weiter nach rechts rückt? Kann sie die Stärke finden, den vorherrschenden politischen Konsens herauszufordern, der Militärausgaben den Vorrang vor Investitionen in Bereiche wie Energiewende, Wohnungsbau und Gesundheitswesen einräumt? An der Beantwortung dieser Fragen dürfte sich das Schicksal der polnischen Linken entscheiden.

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news-52746 Mon, 02 Jun 2025 14:40:00 +0200 Was bedeutet es, wenn Staaten Schulden machen? https://linx.rosalux.de/staatsschulden-sparpolitik-staat-sparen Wenn ein Staat spart, funktioniert das grundsätzlich anders als bei Bürger*innen news-53481 Mon, 02 Jun 2025 14:08:00 +0200 Rumänien: extreme Rechte vs. extreme Neoliberale https://www.rosalux.de/news/id/53481 Die Rechte hat die Präsidentschaftswahl verloren, aber der Neoliberalismus bestimmt weiterhin die politische Agenda. Von Enikő Vincze Mit 64 Prozent verzeichnete die zweite Runde der Präsidentschaftswahl in Rumänien am 18. Mai 2025 eine massive Beteiligung. Nicușor Dan, der unabhängige, von der extrem neoliberalen Uniunea Salvați România (Union Rettet Rumänien, USR) unterstützte Kandidat, gewann die Wahl mit 53,6 Prozent der Stimmen. George Simion, der unterlegene Gegenkandidat der rechtsnationalistischen Alianța pentru Unirea Românilor (Allianz für die Vereinigung der Rumänen, AUR), errang mit 1,6 Millionen Auslandsstimmen immerhin die Mehrheit in der Diaspora (55,86 Prozent).

Enikő Vincze ist Professorin an der Babeș-Bolyai-Universität und Mietrechtsaktivistin in Cluj, Rumänien.

Nach gerade einmal 21 Prozent in der ersten Runde eine Woche zuvor, bei der Simion noch mit 41 Prozent in Führung gelegen hatte, markierte dies einen bedeutenden Sieg für die neoliberale Partei und eine durchaus überraschende Entwicklung. Darin ähnelte sie dem ersten Anlauf zur Präsidentschaftswahl im November 2024, der unter dem Vorwand russischer Einmischung allerdings annulliert wurde, nachdem der unabhängige rechtsnationalistische Kandidat, Călin Georgescu, beinahe 23 Prozent erhalten hatte. Trotz all ihrer Bemühungen gingen die Parteien der zentristischen Regierungskoalition aus Partidul Social Democrat (Sozialdemokratische Partei, PSD) und Partidul Național Liberal (Nationalliberale Partei, PNL) aus jeder Runde dieser sechs Monate währenden Präsidentschaftswahl als größte Verliererinnen hervor.

Simions Lager wurde medial überwiegend als «rechtsextrem» beschrieben, während Dan als Kandidat der liberalen Mitte präsentiert wurde. Die Zuschreibungen verdecken jedoch die Tatsache, dass der von Figuren wie Dan neuerlich propagierte Neoliberalismus ebenjene rechtsnationalistischen Kräfte stärkt, die sie vorgeblich einzudämmen versucht. Gleichzeitig setzen sie extrem rechte Wirtschaftsmaßnahmen durch, um im Rahmen des kapitalistisch-demokratischen Systems wieder für Wachstum zu sorgen. So gesehen ließe sich auch sagen, dass beide Kandidaten für unterschiedliche Strömungen einer extremen Rechten stehen: Simion für die nationalistische Variante und Dan für die neoliberale Wiedergeburt.

Dieses neuartige politische Szenario ist aber nur eine regionale Ausprägung des globalen Todeskampfs des Neoliberalismus im Zuge der aktuellen Neuausrichtung der kapitalistischen Ordnung. Während sich Dan auf die Seite ausländischer Investor*innen stellte und sich für die militärische Unterstützung der Ukraine und eine Beibehaltung der rumänischen Position im derzeitigen Status quo der EU aussprach, waren Simions Positionen Ausdruck der Interessen des rumänischen Kleinbürgertums, das eine militärische Unterstützung der Ukraine ablehnte und ein Europa «souveräner Nationen» forderte. Worin allerdings beide übereinstimmten, war die Notwendigkeit einer erneuten Aufrüstung im Rahmen des EU-Programms ReArmEurope/Readiness 2030 sowie einer Reform des zentralen wie lokalen Verwaltungssystems.

Kennzeichnend für die derzeitige politische Krise in Rumänien ist der massive Vertrauensverlust der Bevölkerung in traditionelle Parteien.

In seiner ersten Erklärung nach der finalen Abstimmung sagte Dan, dass die «Gemeinschaft», die für ihn gestimmt hätte, sich «funktionalere staatliche Institutionen, weniger Korruption, ein günstiges wirtschaftliches Umfeld und eine Gesellschaft des Dialogs» wünsche. Die Wähler*innen von Simion hingegen beschrieb er als «eine Gemeinschaft, die eine Revolution anstrebt und davon überzeugt werden muss, dass die Lösung ihrer Probleme in einer Reform der Justiz und öffentlichen Verwaltung liegt». Ganz offensichtlich war ihm die wirtschaftliche Not, unter der die arbeitenden Klassen leiden, nicht wirklich vertraut.

In einem nächsten Schritt wird der neu gewählte Präsident einen Ministerpräsidenten bestimmen, der dann mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt wird. Neben den eigenen politischen Prioritäten wird dessen Hauptaugenmerk notwendigerweise darauf liegen, dass sich die Mehrheit der Sitze im rumänischen Parlament auf Vertreter*innen extrem rechter nationalistischer Parteien (32 Prozent der Sitze) sowie auf verschiedene rechte Parteien (weitere 32 Prozent der Sitze) verteilt. Die Sozialdemokratische Partei hingegen erreichte nur 22 Prozent. 

Unter diesen Vorzeichen zu regieren, und das inmitten einer schweren Wirtschaftskrise, wäre für jede*n eine große Herausforderung. In Rumänien wird das besonders schwer. Denn dort hat der wirtschaftliche Abschwung dazu geführt, dass sich große Teile der arbeitenden Klassen und des Kleinbürgertums – angesichts mangelnder Alternativen zu einer zentristischen sozialdemokratischen oder liberalen Politik – extrem rechten nationalistischen und antikommunistischen Parteien zugewandt haben. Aufseiten der extremen neoliberalen Rechten besteht die vorgebliche Alternative hingegen in einem antikommunistischen Antifaschismus. Obgleich es dem Wahlsieger dieses Mal gelang, die extrem rechten Nationalist*innen abzuwehren, wird diese Entwicklung die aktuelle Krise langfristig nur verschärfen.

Stagnierendes Wachstum und steigende Kosten

Um die Wahl vom letzten Wochenende einschätzen zu können, ist es sehr viel relevanter, auf die desolate soziale Lage in Rumänien zu blicken, denn auf eine echte oder angebliche «russische Einmischung». Diese Lage ist das Ergebnis sich multiplizierender Auswirkungen einer für den Kapitalismus typischen zyklischen Krise. An ihrem Anfang stand der dramatische wirtschaftliche Einbruch, der auf die Privatisierung und Liberalisierung in den 1990er Jahren folgte und schließlich zur aktuellen Polykrise führte. Heute leben mehr als 5,7 Millionen Rumän*innen im Ausland, wobei die meisten von ihnen das Land nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems verließen. Den Kontext für diese Abwanderungsbewegung boten die EU-Osterweiterung sowie die Rekonfiguration des globalen Kapitalismus. Denn damit wurde eine zuvor nichtkapitalistische Semi-Peripherie für privates Kapital erschlossen, das auf der Suche war nach neuen Investitionsmöglichkeiten, Märkten, natürlichen Ressourcen und billigen, mobilen Arbeitskräften.

Im Anschluss an eine leichte Erholungsphase der rumänischen Wirtschaft nach der Krise von 2008 und den darauffolgenden Sparmaßnahmen stufte die Weltbank Rumänien im Jahr 2019 als Land mit hohem Einkommen ein. Nach einem pandemiebedingten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 3,61 Prozent im Jahr 2020 waren 2021 (5,71 Prozent) und 2022 (4,1 Prozent) wieder hohe BIP-Zuwächse zu verzeichnen. Dem Rückgang an Wirtschaftsleistung im Zuge der Einschränkungen während der Coronapandemie begegnete der Staat mit Hilfspaketen für Unternehmen, die durch staatliche Kredite finanziert wurden und zu einem Defizit im Staatshaushalt führten.

Trotz des Jubels rund um den BIP-Zuwachs blieben die Armutsrate und der Grad an sozialer Ausgrenzung in Rumänien mit 32 Prozent im Jahr 2023 unverändert hoch. Innerhalb der EU zeichnet sich Rumänien durch eine der höchsten Raten an Armutsgefährdung von Erwerbstätigen aus. Obgleich das Mindesteinkommen ein wenig gestiegen ist (auf etwas mehr als 500 Euro), liegt es immer noch deutlich unter den Kosten des monatlichen Warenkorbs des Grundbedarfs (schätzungsweise knapp 800 Euro pro Person).

Während beinahe der gesamten postsozialistischen Phase der rumänischen Geschichte fand die Unzufriedenheit mit Mitte-Links-Politiker*innen, die allein oder in einer Koalition mit Mitte-Rechts-Parteien regierten, ihren Ausdruck in einem beständigen Antikommunismus.

Die Krise der Lebenshaltungskosten, die 2022 begann, verschärfte diese Situation zusätzlich. Daten von Eurostat zufolge verzeichnete Rumänien 2023 eine der höchsten Steigerungen bei den Strom- und Gaspreisen für private Haushalte in der gesamten EU, mit Erhöhungen um 77 bzw. 134 Prozent. Dabei subventionierte der Staat allerdings die Profite der Energieunternehmen, indem er 60 Prozent ihrer Rechnungen beglich, was ein großes Loch im Haushalt hinterließ. Zudem lag die Inflationsrate des Landes generell höher als der EU-Durchschnitt: 13,8 Prozent in 2022, 10,4 in 2023, 5,58 in 2024 und 5,1 Prozent im Februar 2025. Das reale BIP-Wachstum Rumäniens bremste 2023 unterdessen auf 2,1 Prozent ab.

Für 2025 wird eine durchschnittliche Teuerungsrate von 4,61 Prozent erwartet, und das, obwohl die Regierung die Gehälter und Pensionen im öffentlichen Dienst zu Beginn des Jahres mit einer Notverordnung eingefroren hat. Die Militärausgaben sind weiter angestiegen, etwa durch den Kauf von sieben US-amerikanischen Patriot-Flugabwehrsystemen im Wert von vier Milliarden US-Dollar im Jahr 2017. Das rumänische BIP wuchs 2024, einem Jahr mit vier Wahlen (Lokalwahlen, EU-Parlament, Parlament und Präsidentschaft), um gerade einmal 0,9 Prozent. Die Schuldenstandsquote des Landes, die zwischen 1995 und 2023 im Schnitt bei 27,75 Prozent lag, überstieg Ende 2024 den Wert von 55 Prozent. Die Verschuldung wurde durch große Defizite im Staatshaushalt weiter angetrieben und erreichte bis Ende 2024 insgesamt 9,5 Prozent des BIP.

Neben der Einhaltung der Verpflichtungen des Landes als EU- und NATO-Mitglied gehört diese Senkung der öffentlichen Ausgaben bei gleichzeitig steigenden Militärausgaben zu den größten Herausforderungen der zu bildenden Regierung. In den kommenden vier bis sieben Jahren muss Rumänien sein Haushaltsdefizit auf unter 3 Prozent und seine Schulden auf unter 50 Prozent drücken und gleichzeitig die Militärausgaben auf 5 Prozent des BIP hochschrauben.

Bereits vor den Wahlen von 2024 hatte die große Koalition in Rumänien einen mittelfristigen finanzpolitisch-strukturellen Plan (MTFSP) für den Zeitraum 2025–2031 erarbeitet und bei der Europäischen Kommission eingereicht. Dieser Plan sieht Strukturanpassungsmaßnahmen vor, die mittels Kürzungen der Ausgaben für den öffentlichen Sektor dabei helfen sollen, das Haushaltsdefizit zu reduzieren. Darüber hinaus beauftragte der Oberste Rat für Landesverteidigung (CSAT) im April 2025 den Verteidigungsminister, an den Verhandlungen zur Vorbereitung des NATO-Gipfels im Juni teilzunehmen und Rumänien zu verpflichten, sich am EU-Programm ReArmEurope/Readiness 2030 zu beteiligen, indem das Ministerium die Rüstungsausgaben auf 3,5 Prozent des BIP erhöht und zu diesem Zweck neue Kredite aufnimmt.

Obwohl die steigenden Lebenshaltungskosten sowie die zunehmende Ungleichheit die arbeitenden Klassen schwer trafen, sind die politischen Entscheidungsträger*innen diese Probleme nicht angemessen angegangen. Zudem waren sie bei zwei zentralen Fragen, die das Land betreffen, nicht transparent: bei der Beteiligung Rumäniens am Krieg zwischen Russland und der Ukraine sowie bei den Plänen zur Behebung des Haushalts- und Handelsdefizits. Die Vertreter*innen eines extremen Neoliberalismus, die parteiübergreifend die Interessen der Wirtschaft und der Finanzmärkte vertreten, warfen der zentristischen Regierungskoalition überhöhte Ausgaben für Gehälter und Pensionen vor. Diese hätten – so ihr Argument – das Land in eine katastrophale wirtschaftliche Lage gebracht, weshalb es kurz vor dem Bankrott stehe. Währenddessen verurteilte die nationalistische extreme Rechte «das System» dafür, die Interessen Rumäniens dem ausländischen Kapital unterzuordnen, forderte Respekt für «das Volk» und propagierte einen Wirtschaftspatriotismus als Lösung für die ökonomische Misere des Landes.

Antikorruption und Antikommunismus als Antwort auf die politische Krise

Kennzeichnend für die derzeitige politische Krise in Rumänien ist der massive Vertrauensverlust der Bevölkerung in traditionelle Parteien wie PSD und PNL. Diese Parteien waren die Wegbereiterinnen für die Umwandlung des Staatssozialismus in den Kapitalismus und trugen zu den Krisen bei, die aus der anschließenden neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik resultierten. Bei verschiedenen sozialen Klassen herrscht in ganz Rumänien ein allgemeines Gefühl der Unzufriedenheit mit der Führung des Landes vor. Die arbeitenden Klassen, die verschiedene Berufs- und Einkommensgruppen umfassen, sind nach 35 Jahren wiederkehrender Krisen wütend und erschöpft. Denn selbst heute lässt sich mit dem Durchschnittseinkommen kein angemessener Lebensunterhalt erzielen. In Städten wie Cluj beispielsweise, wo das Durchschnittseinkommen über dem Landesdurchschnitt liegt, betragen die Wohnkosten mehr als 40 Prozent des Einkommens von Arbeiter*innen. Die Gründe, warum Menschen in einer solchen Situation Dan gewählt haben, sind vielfältig: etwa, weil sie ihn für das kleinere Übel im Vergleich zu Simion hielten, weil sie die Normen der liberalen Gesellschaft verinnerlicht haben, wonach sie sich einfach mehr anstrengen müssen, um sich eine Wohnung in teuren Städten zu leisten, oder weil sie noch keine geeigneten Bündnisse vorgefunden haben, in deren Rahmen sie ihre Unzufriedenheit ausdrücken konnten.

Die herrschenden Klassen sind daneben aber auch mit den Parteien des Mainstreams unzufrieden, weil diese die Staatsunternehmen und das Sozialversicherungssystem nicht völlig abgeschafft haben und weil das öffentliche Gesundheits- und Bildungswesen sowie das Rentensystem und der Energiesektor nicht ausreichend privatisiert wurden. Dennoch waren sie gerne bereit, sich der USR und dem Wahlsieger Dan anzuschließen, obwohl die AUR sich alle Mühe gegeben hatte, das Kleinbürgertum zu umgarnen, das ebenfalls Teil der herrschenden kapitalistischen Klassen ist.

Dan konnte zum liberalen Konsenskandidaten werden und eine Reihe von Persönlichkeiten aus der sozialdemokratischen und fortschrittlichen Linken anziehen, indem er sich auf binäre Gegensätze bezog.

Während beinahe der gesamten postsozialistischen Phase der rumänischen Geschichte fand die Unzufriedenheit mit Mitte-Links-Politiker*innen, die allein oder in einer Koalition mit Mitte-Rechts-Parteien regierten, ihren Ausdruck in einem beständigen Antikommunismus. Das gilt auch für diese Wahl, wo Dan zum Gegenstand einer starken zivilgesellschaftlichen Mobilisierung wurde, die sich auf den Antikommunismus fokussierte und auf Traditionen aus den 1990er Jahren zurückgreifen konnte. Einige der Protestlieder, die damals bei den großen Protesten in Bukarest und anderen Städten zu hören waren, tauchten bei den Kundgebungen zur Unterstützung Dans Anfang Mai wieder auf. Ein beliebter Refrain lautet beispielsweise: «Lieber ein Vagabund als ein Aktivist, lieber tot als ein Kommunist.» Der Nationalist Simion sang dieselben Verse bereits 2006 gegen Ion Iliescu, den ersten Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei in Rumänien. Damals war Simion noch in der Gruppe Noii Golani («Neue Vagabunden») aktiv, bevor er 2012 seine Vereinigung und 2019 dann seine reaktionäre und irredentistische Partei AUR gründete.

Zwischen 2015 und 2019 mündete eine starke antikommunistische Mobilisierung in eine Reihe von Antikorruptionskampagnen. Daran beteiligt war auch Dans Verein «Rettet Bukarest», der 2015 in die Partei «Union zur Rettung Bukarests» (USB) umgewandelt und später zur USR wurde. Die USR-Kampagne «Ohne Strafregister in öffentliche Ämter», die die Partei 2016 ins Parlament spülte, war durch die Antikorruptions-Maßnahmen des damaligen Präsidenten Traian Băsescu und der Nationalen Antikorruptionsbehörde Rumäniens unterstützt worden. Nach ihrer Gründung setzte die USR mit den #rezist-Protesten 2017 und der «Revolution unserer Generation» im Jahr 2018 ihre Anti-PSD-Stoßrichtung fort, ganz im Sinne von PNL-Präsident Klaus Iohannis. Diese Antikorruptionskampagnen waren stets gegen den Staat gerichtet und rechtfertigten damit die zunehmende Kürzung öffentlicher Dienste und Güter, nachdem Privatisierungsmaßnahmen das öffentliche Eigentum an den Produktionsmitteln bereits im Laufe mehrerer Jahrzehnte zerstört hatten. So dient der Antikommunismus – ob in Form seiner extrem neoliberalen oder seiner rechts-nationalistischen Ausrichtung – stets der Stabilisierung der kapitalistischen Ordnung.

Zwischen liberalem und sozialistischem Antifaschismus

Die antikommunistischen und Antikorruptions-Botschaften der jüngsten Wahlen kamen diesmal in Begleitung einer Art des liberalen Antifaschismus daher, der deutlicher denn je machte, dass die liberale Zivilgesellschaft eine entscheidende Säule für das Funktionieren des kapitalistischen Systems ist. Ihre Vertreter*innen sind Teil eines bestimmten Segments des Bürgertums, das seine Privilegien innerhalb des Systems verteidigt. Damit stützt die liberale Zivilgesellschaft indirekt oder direkt die Interessen von Unternehmen, die ihrerseits zu deren privaten Sponsoren werden könnten oder es bereits sind, wie etwa Banken oder Immobiliengesellschaften. Indem sie Faschismus und Kommunismus als vergleichbare Erscheinungsformen des Autoritarismus präsentiert, delegitimiert sie zudem die Idee einer sozialistischen Alternative zum Kapitalismus.

So gesehen stützt die Forderung der Vertreter*innen eines extremen Neoliberalismus nach politischer Stabilität die Reproduktion des Status quo, während die rechtsnationalistischen Parteien als Produkt der sich ausweitenden Dysfunktionalität dieses Status quos interpretiert werden können. Vor dem Hintergrund des Niedergangs des neoliberalen Kapitalismus beschwören seine Verwalter*innen immer häufiger die faschistische Bedrohung als Rechtfertigung für einen autoritären, ja sogar undemokratischen Umbau der liberalen Demokratie. Dabei stellen sie sich als die einzigen dar, die das Land vor der größten Gefahr seit Jahrzehnten retten könnten. Nachdem die faschistische Bedrohung gebannt sei, so ihr Versprechen, würden sie sich zumindest teilweise den sozialen Problemen zuwenden, wie der Armut, der Ungleichheit und dem Verlust an Würde, die die nationalistischen Parteien mit ihrer extrem rechten Agenda zu bedienen versuchten. In diesem Sinne dient der Faschismus, strukturell und als Instrument des Kapitals, beiden extrem rechten Ausprägungen als Mittel, um Proteste gegen den Kapitalismus zum Verstummen zu bringen.

Die liberalen antifaschistischen Kräfte in Rumänien drängen, Seite an Seite mit der neoliberalen Rechten, auf weitere Privatisierungen in wirtschaftlichen wie nicht-wirtschaftlichen Sektoren, auf einen Abbau des Staatsapparats und noch stärkere Kürzungen bei den Investitionen in öffentliche Güter und Dienstleistungen sowie schließlich auf ein gewisses Maß an Reindustrialisierung, die durch Militärausgaben vorangetrieben werden soll. Diese Vorschläge sollen dem dahinsiechenden Körper des Kapitalismus neues Leben einhauchen. Die Vertreter*innen des extremen Neoliberalismus vermögen es allerdings nicht zu sehen – oder wollen es nicht –, dass solche Interventionen eine gewisse faschistische Qualität besitzen, da ihnen gewaltvolle strukturelle Prozesse zugrunde liegen, wie etwa Ausbeutung, Enteignung und Unterdrückung in unterschiedlichen Formen. Falls überhaupt, dann erkennen sie widerwillig an, dass die liberale Politik der letzten Jahrzehnte die materiellen Nöte der Menschen vernachlässigt habe, während sie sich gleichzeitig betroffen darüber zeigen, dass in der Folge so viele Menschen ihre Wut durch das Ventil extrem rechter Nationalist*innen zum Ausdruck bringen.

Die Vertreter*innen eines liberalen Antifaschismus präsentieren den neoliberalen Status quo als alternativlos. Als Rechtfertigung dienen die zwanghafte Bewunderung einer idealisierten EU als Schicksal und natürliche geopolitische Heimat Rumäniens sowie eine kräftige Dosis Russophobie und die Angst vor allem, was die westliche Hegemonie in der heutigen Welt bedrohen könnte. Die Vertreter*innen der liberalen Zivilgesellschaft versuchen der Bevölkerung weiszumachen, dass nur eine noch extremere neoliberale Führung die Probleme lösen kann, die von der vorherigen zentristischen Koalition verursacht wurden. Da es in Rumänien jedoch keine glaubwürdige sozialistische oder auch nur linksgerichtete Alternative gibt, kanalisierten viele Rumän*innen ihre Unzufriedenheit in Richtung einer nationalistischen Agenda, mit ihrem Fokus auf Familie, Religion, Nation und wirtschaftliche Freiheit für das rumänische Kleinbürgertum.

Dan konnte zum liberalen Konsenskandidaten werden und eine Reihe von Persönlichkeiten aus der sozialdemokratischen und fortschrittlichen Linken anziehen, indem er sich auf binäre Gegensätze bezog, wie Demokratie versus Autoritarismus, Europäertum versus Nationalismus, Liberalismus versus Faschismus, Dialog versus Gewalt und EU versus China oder Russland. Folglich konnten diese Persönlichkeiten keine kritische Haltung gegenüber der bevorstehenden extrem neoliberalen Politik artikulieren. Stattdessen stellten sie sich gemeinsam mit den Liberalen gegen den nationalistischen Kandidaten, den sie stellvertretend für alle potenziellen Bedrohungen der Gegenwart – ob real oder imaginär – ablehnten, seien es nun Faschist*innen, Putinist*innen, Trumpist*innen oder «Anti-Europäer*innen». Einige aus diesem Teil der rumänischen Linken stimmten sogar in den liberalen Chor mit ein, der die sozialistische Kritik am Kapitalismus, an der EU, am Militarismus und an der Sparpolitik ebenso verurteilte wie die Position, dass faschistische Gewalt Ausdruck der strukturellen Gewalt des Kapitalismus ist.

Die neuen Sozialist*innen verfügen allerdings noch über keine politische Partei. Aktuell bestehen sie lediglich als loses Netzwerk von Einzelpersonen und informellen Gruppen. Und obwohl sie, zumindest im Moment, nicht als Wahlalternative fungieren können, sind sie derzeit die einzigen Stimmen, die eine internationalistische, antifaschistische und antimilitaristische sozialistische Alternative zum turbulenten und dem Verfall anheimfallenden Status quo vorschlagen. In diesem Sinne stellen sie Rumäniens beste Hoffnung dar, eines Tages aus der binären Betrachtung im Stile von Liberalismus vs. Faschismus oder Neoliberalismus vs. Nationalismus auszubrechen, die heute die Politik beherrscht.

Übersetzung von Sebastian Landsberger und Cornelia Gritzner für Gegensatz Translation Collective.

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