An das werktätige Volk!
Aufruf der Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte Berlins vom 10. November 1918
Das alte Deutschland ist nicht mehr. Das deutsche Volk hat erkannt, daß es jahrelang in Lug und Trug gehüllt war.
Der vielgerühmte, der ganzen Welt zur Nachahmung empfohlene Militarismus ist zusammengebrochen. Die Revolution hat von Kiel ihren Siegesmarsch angetreten und hat sich siegreich durchgesetzt. Die Dynastien haben ihre Existenz verwirkt. Die Träger der Krone sind ihrer Macht entkleidet.
Deutschland ist Republik geworden, eine sozialistische Republik. Sofort haben sich die Gefängnis-, Arrest- und Zuchthausmauern für die wegen politischer und militärischer Verbrechen Verurteilten und Verhafteten geöffnet.
Die Träger der politischen Macht sind jetzt die Arbeiter- und Soldatenräte. In allen Garnisonen und Städten, in denen keine Arbeiter- und Soldatenräte bestehen, wird sich die Bildung solche Räte rasch vollziehen. Auf dem flachen Lande werden sich Bauernräte zu demselben Zwecke bilden.
Die Aufgabe der provisorischen Regierung, die von dem Arbeiter- und Soldatenrat Berlin bestätigt ist, wird in erster Linie sein, den Waffenstillstand abzuschließen und dem blutigen Gemetzel ein Ende zu machen.
Sofortiger Friede ist die Parole der Revolution. Wie auch der Friede aussehen wird, er ist besser als die Fortsetzung des ungeheuren Massenschlachtens.
Die rasche und konsequente Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel ist nach der sozialen Struktur Deutschlands und dem Reifegrad seiner wirtschaftlichen und politischen Organisation ohne starke Erschütterung durchführbar. Sie ist notwendig, um aus den blutgetränkten Trümmern eine neue Wirtschaftsordnung aufzubauen, um die wirtschaftliche Versklavung der Volksmassen, den Untergang der Kultur zu verhüten. Alle Arbeiter, Kopf- und Handarbeiter, welche von diesem Ideal erfüllt sind, welche aufrichtig für seine Verwirklichung eintreten, sind zu seiner Mitarbeit aufgerufen.
Der Arbeiter- und Soldatenrat ist von der Überzeugung durchdrungen, daß in der ganzen Welt sich eine Umwälzung in der gleichen Richtung vorbereitet. Er erwartet mit Zuversicht, daß das Proletariat der anderen Länder seine ganze Kraft einsetzen wird, um eine Vergewaltigung des deutschen Volkes bei Abschluß des Krieges zu verhindern.
Er gedenkt mit Bewunderung der russischen Arbeiter und Soldaten, die auf dem Wege der Revolution vorangeschritten sind, er ist stolz, daß die deutschen Arbeiter und Soldaten ihnen gefolgt sind und damit den alten Ruhm, Vorkämpfer der Internationalen zu sein, wahren. Er sendet der russischen Arbeiter- und Soldatenregierung seine brüderlichen Grüße.
Er beschließt, daß die deutsche republikanische Regierung sofort die völkerrechtlichen Beziehungen zu der russischen Regierung aufnimmt, und erwartet die Vertreter dieser Regierung in Berlin.
Durch den entsetzlichen, über vier Jahre währenden Krieg ist Deutschland auf das fürchterlichste verwüstet. Unersetzliche materielle und moralische Güter sind vernichtet. Aus diesen Verwüstungen und Zerstörungen neues Leben hervorzurufen, ist eine Riesenaufgabe.
Der Arbeiter- und Soldatenrat ist sich dessen bewußt, daß die revolutionäre Macht Verbrechen und Fehler des alten Regimes und der besitzenden Klassen nicht mit einem Schlage gutmachen, daß sie den Massen nicht sofort eine glänzende Lage verschaffen kann. Aber diese revolutionäre Macht ist die einzige, die noch retten kann, was zu retten ist. Die sozialistische Republik ist allein imstande, die Kräfte des internationalen Sozialismus zur Herbeiführung eines demokratischen Dauerfriedens auszulösen.
Es lebe die deutsche sozialistische Republik!
Zuerst veröffentlicht in: Vossische Zeitung, Nr. 577 vom 11. November 1918.
Hier zitiert nach Dokumente und Materialien der deutschen Arbeiterbewegung, Band 2 November 1917 - Dezember 1918, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus bei ZK der SED, Berlin, 1957, S. 348f.