An die Proletarier aller Länder

Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin (im Namen des Spartakusbundes) am 25. November 1918

Proletarier! Männer und Frauen der Arbeit! Genossen!

      In Deutschland hat die Revolution ihren Einzug gehalten. Die Massen der Soldaten, die vier Jahre lang zur Schlachtbank getrieben wurden um kapitalistischer Profite willen, die Massen der Arbeiter, die vier Jahre lang ausgesogen, ausgepreßt, ausgehungert wurden, sie haben sich erhoben. Das furchtbare Werkzeug der Unterdrückung: der preußische Militarismus, diese Geißel der Menschheit, liegt zerbrochen am Boden; seine sichtbarsten Vertreter und damit die sichtbarsten Schuldigen an diesem Kriege, der Kaiser und der Kronprinz, sind außer Landes geflüchtet. Überall haben sich Arbeiter- und Soldatenräte gebildet.

     Proletarier aller Länder, wir sagen nicht, daß in Deutschland alle Macht wirklich in die Hände des arbeitenden Volkes gelangt, daß der volle Sieg der proletarischen Revolution bereits errungen sei. Noch sitzen in der Regierung alle jene Sozialisten, die im August 1914 unser kostbarstes Gut, die Internationale, preisgegeben, die vier Jahre lang die deutsche Arbeiterklasse und die Internationale zugleich verraten haben.

     Aber, Proletarier aller Länder, jetzt spricht der deutsche Proletarier selbst zu Euch. Wir glauben das Recht zu haben, in seinem Namen vor Euer Forum zu treten. Wir haben vom ersten Tage dieses Krieges uns bemüht, unsere internationalen Pflichten zu erfüllen, indem wir jene verbrecherische Regierung mit allen Kräften bekämpften und sie als wahre Schuldige des Krieges brandmarkten.

     Jetzt, in dieser Stunde, sind wir gerechtfertigt vor der Geschichte, vor der Internationale und vor dem deutschen Proletariat. Die Massen stimmen uns begeistert zu, immer weitere Kreise des Proletariats teilen die Erkenntnis, daß die Stunde der Abrechnung mit der kapitalistischen Klassenherrschaft geschlagen hat.

     Dies große Werk aber kann das deutsche Proletariat allein nicht vollbringen, es kann nur kämpfen und siegen, indem es die Solidarität der Proletarier der ganzen Welt anruft.

     Genossen der kriegführenden Länder, wir kennen Eure Lage. Wohl wissen wir, daß Eure Regierungen nun, da sie den Sieg errungen haben, manche Volksschichten durch den äußern Glanz des Sieges blenden. Wir wissen, daß es ihnen so gelingt, durch den Erfolg des Mordens dessen Ursachen und Ziele vergessen zu machen.

     Aber wir wissen auch ein anderes. Wir wissen, daß auch in Euren Ländern das Proletariat die furchtbarsten Opfer an Fleisch und Gut gebracht hat, daß es des grauenhaften Gemetzels müde ist, daß der Proletarier jetzt nach Hause zurückkehrt und zu Hause Not und Elend findet, während in der Hand weniger Kapitalisten Milliardenvermögen aufgehäuft sind. Er hat erkannt und wird weiter erkennen, daß der Krieg auch von Euren Regierungen geführt worden ist um der großen Geldsäcke willen. Und er wird weiter erkennen, daß Eure Regierung, als sie von «Recht und Zivilisation» und vom «Schutz der kleinen Nationen» sprach, ebenso die Kapitalprofite meinte wie die unsere, als sie von «Verteidigung der Heimat» redete; daß der Frieden des «Rechts» und des «Völkerbundes» auf die gleiche niederträchtige Räuberei hinausläuft wie der Frieden von Brest-Litowsk1. Hier wie dort dieselbe schamlose Raubgier, derselbe Wille zur Unterdrückung, derselbe Entschluß, die brutale Obermacht des Mordeisens bis zum äußersten auszunutzen.

     Der Imperialismus aller Länder kennt keine «Verständigung», er kennt nur ein Recht: den Kapitalprofit, nur eine Sprache: das Schwert, nur ein Mittel: die Gewalt. Und wenn er jetzt in allen Ländern, bei Euch wie bei uns, von «Völkerbund», «Abrüstung», «Recht der kleinen Nationen», «Selbstbestimmung der Völker» redet, so sind das nur die üblichen verlogenen Redensarten der Herrschenden, um die Wachsamkeit des Proletariats einzuschläfern.

     Proletarier aller Länder! Dieser Krieg muß der letzte sein! Das sind wir den 12 Millionen hingemordeter Opfer, das sind wir unseren Kindern, das sind wir der Menschheit schuldig.

     Europa ist durch den verruchten Völkermord ruiniert. Zwölf Millionen Leichen bedecken die grausigen Stätten des imperialistischen Verbrechens. Die Blüte der Jugend und die beste Manneskraft der Völker ist dahingemäht. Ungezählte Produktivkräfte sind vernichtet. Die Menschheit ist nahe daran zu verbluten an dem beispiellosen Aderlaß der Weltgeschichte. Sieger wie Besiegte stehen am Rande des Abgrundes. Der Menschheit drohen die furchtbarste Hungersnot, Stockung des ganzen Produktionsmechanismus, Seuchen und Degeneration.

     Die großen Verbrecher dieser grauenhaften Anarchie, dieses entfesselten Chaos: die herrschenden Klassen, sind nicht fähig, ihres eigenen Werkes Herr zu werden. Die Bestie Kapital, die die Hölle des Weltkrieges heraufbeschworen hat, ist nicht imstande, sie wieder zu bannen, wirkliche Ordnung herzustellen, der gequälten Menschheit Brot und Arbeit, Frieden und Kultur, Recht und Freiheit zu sichern.

     Das, was von den herrschenden Klassen als Friede und Recht vorbereitet wird, ist nur ein neues Werk der brutalen Gewalt, aus dem die Hydra der Unterdrückung, des Hasses und neuer blutiger Kriege ihre tausend Häupter erhebt.

     Der Sozialismus allein ist imstande, das große Werk des dauernden Friedens zu vollbringen, die tausend blutenden Wunden der Menschheit zu heilen, die vom Zuge der Apokalyptischen Reiter des Krieges niedergestampften Fluren Europas in blühende Gärten zu verwandeln, an Stelle der vernichteten Produktivkräfte verzehnfachte neue hervorzuzaubern, alle physischen und sittlichen Energien der Menschheit zu wecken und an Stelle des Hasses und der Zwietracht brüderliche Solidarität zu setzen, Eintracht und Achtung für alles, was Menschenantlitz trägt.

     Wenn sich Vertreter der Proletarier aller Länder unter dem Banner des Sozialismus die Hand reichen, um den Frieden zu machen, dann ist der Friede in wenigen Stunden gemacht. Dann gibt es keine Streitfragen um das linke Rheinufer, Mesopotamien, Ägypten oder Kolonien. Dann gibt es nur ein Volk: die arbeitende Menschheit aller Rassen und Zungen. Dann gibt es nur ein Recht: die Gleichheit aller Menschen. Dann gibt es nur ein Ziel: Wohlfahrt und Fortschritt für alle.

     Die Menschheit steht von der Alternative: Auflösung und Untergang in der kapitalistischen Anarchie oder Wiedergeburt durch soziale Revolution. Die Stunde der Entscheidung hat geschlagen. Wenn Ihr an Sozialismus glaubt, jetzt ist Zeit, es durch Taten zu zeigen. Wenn Ihr Sozialisten seid, jetzt gilt es zu handeln.

     Proletarier aller Länder, wenn wir Euch jetzt zum gemeinsamen Kampf aufrufen, so geschieht es nicht um der deutschen Kapitalisten willen, die unter der Firma «deutsche Nation» den Folgen ihrer eigenen Verbrechen zu entgehen suchen; es geschieht um unserer wie um Eurer willen. Bedenket: Eure siegreichen Kapitalisten stehen bereit, unsere Revolution, die sie wie die eigene fürchten, blutig zu unterdrücken. Ihr selbst seid durch den «Sieg» nicht freier, Ihr seid nur noch versklavter geworden. Gelingt es Euren herrschenden Klassen, die proletarische Revolution in Deutschland wie in Rußland abzuwürgen, dann werden sie sich mit doppelter Wucht gegen Euch wenden. Eure Kapitalisten hoffen, daß der Sieg über uns wie über das revolutionäre Rußland ihnen die Macht geben werde, Euch mit Skorpionen zu züchtigen und das tausendjährige Reich der Ausbeutung auf dem Grabe des internationalen Sozialismus zu errichten.

     Darum blickt das Proletariat Deutschlands in dieser Stunde auf Euch. Deutschland ist schwanger mit der sozialen Revolution, aber den Sozialismus kann nur das Weltproletariat verwirklichen.

     Und darum rufen wir Euch zu: Auf zum Kampf! Auf zur Tat! Die Zeit der leeren Manifeste, platonischen Resolutionen und tonenden Worte ist vorbei: Die Stunde der Tat hat für die Internationale geschlagen. Wir fordern Euch auf: Wählet überall Arbeiter- und Soldatenräte, die die politische Macht ergreifen und die zusammen mit uns den Frieden herstellen werden.

     Nicht Lloyd George und Poincaré, nicht Sonnino, Wilson und Erzberger oder Scheidemann dürfen den Frieden schließen. Unter dem wehenden Banner der sozialistischen Weltrevolution soll der Frieden geschlossen werden.

     Proletarier aller Länder! Wir rufen Euch auf, das Werk der sozialistischen Befreiung zu vollbringen, der geschändeten Welt wieder Menschenantlitz zu verleihen und jenes Wort wahr zu machen, mit dem wir uns in alten Tagen oft begrüßen und mit dem wir auseinandergingen:

     Die Internationale wird die Menschheit sein!

     Es lebe die Weltrevolution des Proletariats!

     Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

     Im Namen des Spartakusbundes
     Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin


Dieser Aufruf des Spartakusbundes verfasste Rosa Luxemburg. Gleichzeitig mit der Veröffentlichung in der «Roten Fahne» (Nr. 10 vom 25. November 1918) wurde er auch als Flugblatt verbreitet.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 415-418.