Auf die Schanzen

Rosa Luxemburg am 15. Dezember 1918

Morgen wird in Berlin der Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte aus ganz Deutschland sich versammeln; es wird die Körperschaft zusammentreten, in der, organisatorisch jedenfalls, das revolutionäre Proletariat ganz Deutschlands, seien es Arbeiter, seien es Soldaten, die schönste Blüte an dem sich entfaltenden Baume der Revolution erblickt.

     Man mag sich diesen Zusammentritt anders vorgestellt haben. Man mag gedacht haben, daß schon die erste steigende WeIle der proletarischen Bewegung uns den Zentralrat brachte, daß auch in der Stunde seiner Geburt die Sterne der Revolution noch in dem hellsten Lichte strahlten, das in den Tagen des 9. November dem Proletariat die grause Nacht des Krieges und der Unfreiheit erhellte.

     In jenen ersten Stunden hat sich der Zentralrat nicht gefunden. An seine Stelle trat der Ersatz: Der Vollzugsrat des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates nahm die Aufgaben des Zentralrates in die Hände — in allzu schwache Hände.

     Und so tritt der Zentralrat zusammen in einer Stunde, in der die Revolution ihren ersten kometenhaften Glanz verloren hat, jenen Glanz, der in den ersten Tagen alle Gegner der Revolution blendete und — leider — auch ihre Anhänger. Auch diese hatten ja so vielfach geglaubt, daß mit den Wundern, die der 9. November gebracht habe, das Geschäft der Revolution beendet sei. Sie alle sind heute wieder sehend geworden. Denn sie, die geglaubt hatten, daß die alten historischen Mächte, daß die herrschenden Klassen einer jahrtausendealten Herrschaft könnten entsetzt werden durch jubelnde Menschenmassen, winkende Soldaten und flatternde rote Fahnen unter den Linden: sie alle müssen heute sehen, wie die Gegenrevolution, der Kapitalismus wieder zum Leben kommt. Er hatte sich in jenen Tagen, der Wanze gleich, nur totgestellt. Schon aber scheint ihm die Zeit und die Möglichkeit gegeben, von neuem Blut zu saugen.

     Die Machenschaften der Gegenrevolution liegen klar zutage. Sie setzten ein schon mit der Stunde, als es ihr gelang, die Ebert-Scheidemann als ihre Agenten in die Regierung zu delegieren, und damit deren ganze revolutionäre Energie zu lähmen und deren politische Energie zu leiten auf die Pfade der Gegenrevolution.

     Was hat nicht diese «sozialistische» Regierung geleistet! Tag um Tag ein Erlaß: ein Erlaß, der die alten Behördenorganisationen wiederherstellte; ein Erlaß, der versuchte, alle fortgejagten Landrate und Polizeipräsidenten und Bürgermeister wiederherzustellen; ein Erlaß, der das Privateigentum für unantastbar erklärte; ein Erlaß, der die Gerichte, die Organe der Klassenjustiz, für «unabhängig» erklärte, ihnen den Freibrief gab für fernere Klassenjustiz; ein Erlaß, der befahl, die Steuer zu zahlen wie bisher. Nulla dies sine linea, kein Tag ohne Erlaß, der nicht ein Steinchen, das aus dem Gebäude morscher Kapitalistenherrschaft zu fallen drohte, wieder festmauerte.

     Wer wollte es der Bourgeoisie verargen, daß sie unter ihr so erfreulichen Umstanden sich stark genug fühlt zu versuchen, ihre Agenten, die Regierung Ebert-Scheidemann-Haase, zu beseitigen und selbst die ihr verlorengegangenen Zügel wieder in die Hand zu bekommen? In ruhigem Tempo, Schritt für Schritt geht sie vor. Erst hat sie ihre Agenten dafür gewonnen, auf dem Umweg über die Nationalversammlung ihr die Macht wieder in die Hände zu spielen. Mit dem Feuereifer der Renegaten stürzten sich die Ebert-Scheidemann in ihre Aufgabe: Sie arbeiteten für die Nationalversammlung Tag und Nacht, auf allen Straßen und Plätzen, sie mühten sich für die Bourgeoisie nach allen Kräften, sie veranstalteten Putsche und ließen Proletarier niederschießen, sie huldigten vor Militärs und salutierten der schwarzweißroten Fahne — und haben sich mit alledem den Dank der Brotherren, des Kapitalismus, doch nicht verdient.

     Der Herr ist ungeduldig geworden, er ist des Dieners müde, die Zeit drängt, er hält seinen Tag wieder für gekommen, er pfeift auf die Nationalversammlung: Er will den alten Reichstag wieder.

     So ist die Stunde beschaffen, in der der Zentralrat für Deutschland zusammentritt. Neu gestärkt, zu Taten bereit, steht der Kapitalismus.

     Und die Revolution? Man soll sich darüber nicht täuschen: Ginge die Revolution vor sich in jenen revolutionären Organen, die die ersten Tage geschaffen haben, in den A.- und S.-Räten, wäre deren Stand und Bedeutung Gradmesser für Stand und Bedeutung der Revolution, so wäre es um die Revolution schlimm bestellt.

     Eine maßlose Hetze hat gegen die A.- und S.-Räte eingesetzt. Jeder kleine Mißgriff, der in unruhigen Zeiten eine Selbstverständlichkeit ist und unter dem alten Regime eine Tagtäglichkeit war, der früher eine Übung war, während er heute nur eine Ungeübtheit ist, wird zum Kapitalverbrechen aufgebauscht und zum endgültigen Beweis für die Untauglichkeit des Rätesystems gestempelt.

     Und dann hat man die Schatten der Entente heraufbeschworen, um den Räten vollständig den Garaus zu machen. Herr Ebert war der erste: Er war es, der Amerika den Kopf der Räte freiwillig anbot gegen Lebensmittel, ja der bat, die Lebensmittel nur zu liefern gegen den Kopf der A.- und S.-Räte. Die Ebert-Scheidemann-Haasesche Regierung drohte mit dem Hungergespenst in Deutschland; in alle Köpfe wurde der Gedanke gehämmert: entweder die Räte — oder das Brot.

     Dann kamen die Nachrichten, die Entente drohe mit dem Einmarsch in Deutschland, täglich eine Nachricht dieser Sorte: Die Entente rückt schon ein, die Entente droht, eine Note der Entente steht unmittelbar bevor, Clemenceau hat erklärt —, Lloyd George hat erklärt —, Tag für Tag eine neue Nachricht, Tag für Tag ein neuer Schwindel.

     Denn alles ist Schwindel gewesen. Kein Wort von allem war wahr, jedes Wort, das gedruckt ward, war erfunden im Auswärtigen Amt und in der Reichskanzlei. Es ist in diesem Punkte selbst das alte Regime noch übertroffen; unverfrorener, zäher, schamloser und niederträchtiger hat auch das alte Regime das deutsche Volk nicht belogen als diese Regierung.

     Und die Räte haben es nicht verstanden, dem entgegenzutreten. Sie haben den ganzen Apparat zur Beeinflussung der «öffentlichen Meinung» in den Händen der Regierung, der Gegenrevolution, gelassen und haben es schweigend mit angesehen, wie diese Regierung, dieser gegenrevolutionäre Klub, ihnen täglich Feuerbrände ins Haus warf.

     Aber die Schwäche der Räte ist nicht die Schwäche der Revolution. Sie  ist mit allen diesen Mittelchen nicht zu fassen und nicht zu vernichten. Sie ist im Wachsen und wird erst jetzt so eigentlich das, was sie ist: die proletarische Revolution. Die Streiks gehen wie Flugfeuer über das Land. Gestern in Oberschlesien, heute in Berlin, morgen in Rheinland-Westfalen, in Stuttgart, in Hamburg, stehen sie auf, die Proletarier; sie brechen alle Ketten, die Regierung, Partei und Gewerkschaft um sie geschmiedet, sie treten Aug in Auge ihrem Feinde gegenüber, dem Kapitalismus. Der «demokratische» Flitter, der manchem Auchsozialisten die ersten Tage der Revolution so köstlich gemacht, er ist hinweg, und aufsteht die Revolution in nackter Riesengestalt und zeigt die Muskeln, die die alte Welt zerbrechen, die neue formen sollen.

     Hier sind die Kräfte, auf die die versammelten Zentralräte sich stützen können, denen sie der willige Diener und der lebendige Führer zugleich sein müssen. Hier ist der Quell, aus dem allein ihnen Stärke und Leben fließen kann.

     Die Revolution wird leben ohne die Räte, die Räte ohne die Revolution sind tot.

     Vieles ist versäumt. Unklar und zaghaft oft sind die Räte ihren Weg gegangen, befangen von überkommenen Parteiformeln, den Blick künstlich verengt durch Schlagworte und Phrasen, die sie über die Bedeutung ihrer Rolle in den Geschehnissen, die sie über die Gewalt der Geschehnisse selbst hinwegtäuschen sollen.

     Vier dringendste Maßnahmen sind es, mit deren Erfüllung der Zentralrat das Versäumte nachholen kann und sich den Platz sichern, der ihm gebührt:

     1. Er muß das Nest der Gegenrevolution, er muß die Stelle, an der alle Fäden der gegenrevolutionären Verschwörung zusammenlaufen, er muß das Kabinett Ebert-Scheidemann-Haase beseitigen.

     2. Er muß die Entwaffnung aller Fronttruppen fordern, die nicht die höchste Gewalt der Arbeiter- und Soldatenräte bedingungslos anerkennen und zur persönlichen Leibgarde des Kabinetts Ebert-Haase werden.

     3. Er muß die Entwaffnung aller Offiziere und der von der Regierung Ebert-Haase gebildeten Weißen Garde fordern und die Rote Garde schaffen.

     4. Er muß die Nationalversammlung als ein Attentat auf die Revolution und die A.- und S.-Räte ablehnen.

     Noch können sich die A.- und S.-Räte, indem sie diese vier Maßnahmen unmittelbar zur Tat werden lassen, an die Spitze der Revolution setzen: Das Proletariat ist willig, sich von ihnen führen zu lassen, wenn sie ein starker Führer sein wollen gegen den Kapitalismus, das Proletariat ist bereit, ihnen alles zu geben und sie zur höchsten Höhe zu heben mit dem Rufe:

     Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten!


Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 30 vom 15. Dezember 1918.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 450-454.