Brief an Julio Álvarez del Vayo
Mathilde Jacob am 5. März 1928
Werter Genosse del Vayo,1
es ist zwar bald Mitternacht, aber ich möchte Ihnen doch schnell ein paar Erinnerungen an die Januar-Tage 1919 aufzuzeichnen versuchen. Denn lege ich Ihren Brief erst einmal zu späterer Beantwortung beiseite, so ist leicht die mir festgesetzte Frist verstrichen.
Zuerst bestätige ich Ihnen den Scheck von 20 Mark. Die Luxemburg-Bücher gehen morgen ab. Ob ich noch Januar-Broschüren in der kurzen Zeit auftreiben kann, bezweifle ich. Dieselben sind meist vergriffen. Ich will morgen nochmals versuchen, durch Theodor Liebknecht und ev[entuell] bei der »Roten Fahne« Material für Sie zu bekommen. Wenn ich nichts mehr auftreiben kann, so werde ich den verbleibenden Rest des Geldes der SPW2 gutschreiben und Ihnen über die verbuchte Summe Mitteilung machen.
Rosa war fast über den ganzen Krieg im Gefängnis, abwechselnd in Berlin, Wronke und Breslau. Sie hat unter den größten Qualen stets ihre Direktiven aus dem Gefängnis gegeben. Sie schrieb uns auf illegalem Wege Briefe, Beiträge für die SPARTAKUSBRIEFE, die während des Krieges erschienen. Sie verfaßte die Flugblätter, die der Spartakusbund herausgab, und sie schrieb ihre Junius-Broschüre, mit der sie mit der Taktik der Sozialdemokratischen Partei abrechnete.
Als die Bolschewiki zur Macht kamen, war sie mit ihrer Taktik nicht zufrieden. Sie verfaßte eine Broschüre, in der sie die Fehler der Bolschewiki aufzeigte, die sie aber nicht vollendete (die Broschüre). Als die Novemberrevolution 1918 auch Rosa Luxemburg als einer der letzten die Gefängnistüren öffnete, konnte sie nicht sofort zu uns nach Berlin fahren, weil der Zugverkehr unterbunden war. Ich blieb auf Anordnung von Leo Jogiches in meiner Wohnung, und Rosa und ich telephonierten alle paar Stunden. Wir verabredeten, daß wir Rosa am nächsten Tage (10. oder 11.) mit dem Auto abholen sollten. Das Auto machte sich auf den Weg, bekam aber eine Panne. Mit den Autos, die wir requirierten, kamen wir auch nicht weit, und so gaben wir die Reise im Auto auf. Inzwischen war der Zugverkehr wieder hergestellt worden und Rosa war in meine Wohnung zu meiner Mutter gegangen. Hier plauderte sie vergnügt, wusch und erfrischte sich, und als ich sie zu meinem Erstaunen zu Hause antraf, fuhr ich sogleich mit ihr in den »Lokal-Anzeiger«. Dieses Blatt hatten unsere Genossen beschlagnahmt und die Redaktion besetzt. Sie druckten hier eine Nummer der »Roten Fahne«. Die Redaktion wurde bald von den Spartakisten durch die Polizei und die Regierungstruppen gesäubert, und nun ging die Jagd nach einer Druckerei los. Rosa hetzte den ganzen Tag mit herum und sagte einmal zu mir: »Die ›Rote Fahne‹ wird auf meinem Grabe wehen.« Endlich erklärte sich »Das Kleine Journal« zum Drucken der »Roten Fahne« bereit. Man mietete Redaktionsräume und fing an zu arbeiten. Rosa brach unter der Last der zu bewältigenden Arbeit fast zusammen.
An ein Wohnen in ihrer Wohnung in Südende war nicht zu denken, alle Genossen glaubten, dicht beisammen sein zu müssen, um schnell miteinander beraten zu können. Man logierte sich also gleich vom ersten Tage an in Hotels ein. Man zog ein wie ein Sieger und wurde sehr bald aus dem ersten Hotel, in dem fast alle beieinander wohnten, dem Hotel Excelsior am Anhalter Bahnhof, hinauskomplimentiert. Jetzt ging täglich die Jagd nach einem neuen Hotel los. In den ersten Januar-Tagen bereits war die Sicherheit unserer Genossen nicht mehr gewährleistet, und man war gezwungen, sie illegal unterzubringen. Aber es war eine solche Pogromstimmung in Berlin, daß niemand Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg aufnehmen wollte. Sie waren zuerst bei einem Arzt untergebracht (Dr. Bernstein) in der Nähe des Halleschen Tores. Von dort mußten sie plötzlich weg, weil Leute gemerkt haben sollten, daß sie da waren. Sie wurden jetzt nach Neukölln zu Arbeitern gebracht. Die Hausfrau war sehr ängstlich, denn es kamen den ganzen Tag Leute, was eigentlich nicht nötig war. Als ich kam, um Essen zu bringen, sagte die Frau zu mir: »Sehen Sie, wenn Sie mal mit einem Korb Essen kommen, so fällt das nicht auf. Aber wenn den ganzen Tag Leute kommen, so muß das ›Hof 4 Treppen‹ eben den Leuten auffallen. Ich habe zu große Angst, daß etwas bei mir passieren kann, ich möchte Karl und Rosa nicht behalten.«
Ich blieb den Abend über dort, Karl las einem Kinde, das der Hausfrau gehörte, Märchen vor, man aß zu Abend, dann war eine politische Sitzung, und ich dachte mir, es wäre doch besser, wenn Karl und Rosa jeder für sich wohnten. Als ich Rosa das sagte, meinte sie, Karl ginge nicht von ihr fort, sie sei machtlos, sie habe diese ganze verrückte Sache satt mit den vielen Leuten, die geradesogut wegbleiben könnten. Ich bat Karl, Rosa getrennt von sich leben zu lassen, er aber wies das mit aller Entschiedenheit von sich.
Am nächsten Tage brachten die Genossen [Hugo] Eberlein und [Wilhelm] Pieck Rosa und Karl in eine Wohnung nach dem Westen, wo sie verhaftet und später ermordet wurden.
Die Vorgänge bei der Ermordung werden Ihnen bekannt sein. Wir alle wissen, daß die Genossen Pieck und Eberlein leichtfertig bei der Unterbringung von Karl und Rosa vorgegangen sind. Aber wir gaben uns nachher alle selbst schuld, daß wir es gelitten hatten.
Rosa hatte ihren abweichenden Standpunkt zu der Politik der Bolschewiki auch nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis nicht aufgegeben. Sie hatte ständig Debatten mit den Genossen über ihre abweichende Meinung. Anders Karl Liebknecht. Er hatte sich sofort einfangen lassen. War Rosa unerkannt und ohne jeden Empfang in Berlin eingetroffen, so erwartete Karl Liebknecht, der einige Tage vor Rosa aus dem Gefängnis gekommen war, eine große Menschenmenge auf dem Anhalter Bahnhof, als er aus dem Zuchthaus in Luckau kam. Feldgraue hoben ihn auf ihre Schultern und trugen ihn zum Wagen. Karl rief sogleich von den Schultern der Feldgrauen: »Nieder mit der Regierung! Nieder mit dem Krieg!« Der Wagen fuhr Karl sofort zur Russischen Botschaft, und einige Tage darauf gaben die Russen für Karl ein Fest. Man aß vom Geschirr der Zarenbotschaft, man trank den Wein aus ihren einstigen Weinkelchen, und auch das Tischzeug trug wie das Geschirr das Monogramm des Zaren. Mir kam dieser Abend wie ein Gespensterspuk vor. Die Reden, die gehalten wurden, waren außer der von Marchlewski recht unbedeutend, aber fast alle fühlten sich sehr gehoben. Karl war vollständig von den Russen eingewickelt und ging mit ihnen durch dick und dünn.
Rosa und Leo Jogiches billigten nicht die Taktik der Russen. Rosa schrieb das Spartakus-Programm (Haben Sie es?), in dem sie die Taktik der Kommunistischen Partei Deutschlands nach marxistischen Grundsätzen vorschreibt.
Dann kam der Gründungsparteitag der KPD. Die Mehrzahl der Delegierten waren unklare Köpfe, sie gaben den Ausschlag, daß sich die KPD nicht an den Wahlen zur Nationalversammlung beteiligte. Vergebens traten Rosa Luxemburg, Paul Levi und Leo Jogiches dagegen auf. Rosa hielt ihre Rede zum Programm (Haben Sie sie?), in der sie die Putschtaktik der Delegierten verwarf und den Weg der Kommunistischen Partei aufzeigte. Rosa, Paul und Leo blieben isoliert, die Dummheit und Unerfahrenheit siegte, was Rosa und Karl mit dem Leben zu büßen hatten.
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Leo Jogiches war gleichaltrig mit Rosa Luxemburg, er hatte sie als Studentin in Zürich kennengelernt. Es entspann sich zu jener Zeit ein Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden jungen Menschen, das das ganze Leben beider anhielt. In Zürich hatten sie die polnische Agitation für die Arbeiterpartei betrieben und Berichte darüber nach dem Westen gelangen lassen. Leo vertiefte sich in die polnische Bewegung und sprach bald gut Polnisch. Der Dritte im Bunde war Marchlewski, der auch in Zürich studierte.
Leo war einer der feinsten und gütigsten Menschen, die ich kenne. Streng in der Forderung von Pflichten, die zu erfüllen waren, hatte er für jeden menschliches Verständnis, außer für die, die nicht in der Bewegung arbeiten wollten. Er glänzte nicht nach außen hin, er begnügte sich, wie er sagte, der Motor zu sein. Rosa tat nichts, ohne seinen Rat gehört zu haben, sie hatten fast täglich politische Aussprachen miteinander, die immer auf einem sehr hohen Niveau standen.
Als Rosa ermordet war, konnte Leo ihren Tod nicht überwinden. Er selbst achtete nicht mehr auf seine Sicherheit, und so fiel auch er den Weißgardisten im März 1919 zum Opfer. Sie verhafteten ihn aus seiner Wohnung in Neukölln und erschossen ihn »auf der Flucht« im Moabiter Kriminalgebäude.
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Ich wohnte jetzt bei Rosa und holte sie allabendlich vom Bahnhof ab. Sie kam stets sehr müde und abgearbeitet heim, erholte sich dann aber bald wieder, wenn man ihr ein wenig zu essen gegeben hatte. Eine Tasse Chokolade oder eine Tasse Kaffee waren zu jener Zeit Kostbarkeiten, die wir nur dank der russischen Botschaft von dortigen Genossen hatten.
Wenn Rosa dann im Bett lag, streckte sie sich behaglich und sagte: »Jetzt werde ich gut schlafen, nachdem ich so meine Schuldigkeit getan habe.« Sie schlief dann wohl auch gut und morgens immer etwas länger.
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Einmal hatte ich abends schon alles zurechtgestellt, als Paul Levi telephonierte, ich solle Rosa von der Redaktion abholen. Ich versäumte gerade den Zug, der gegen 11 Uhr fuhr, und mußte auf den nächsten Zug warten, der erst wieder gegen ½ 12 Uhr nachts fuhr. Als ich zum Anhalter Bahnhof kam, standen Rosa und Paul bereits vor der Tür. Paul sagte, es sei wieder sehr unsicher, man könne Rosa aus der Wohnung verhaften, ich solle sie anderweit unterbringen. Wo sollte ich sie wohl um 12 Uhr nachts unterbringen? Ich nahm also für Rosa eine Droschke, Paul half uns noch, eine suchen, und wir fuhren in meine Wohnung. Ich hatte eine gebratene Ente mit, die uns eine Parteifreundin verschafft und die meine Mutter sehr schön gebraten hatte. In der Droschke sagte Rosa: »Gib mir ein Stückchen von der Ente, ich habe solchen Hunger. Ich weiß zwar, daß Leo sagen würde, man habe sich zu beherrschen, aber gib mir nur ein Stückchen.«
Ich schreibe Ihnen diese Kleinigkeit, weil sie mir so charakteristisch für die Disziplin erscheint, die Leo und Rosa von sich selbst verlangten, und von dem Mut beider, Entbehrungen ertragen zu wollen.
1 Julio Álvarez del Vayo (1891–1975) – war in der Zeit der spanischen Volksfront-Regierung (1936 bis 1939) u. a. Außenminister und General; bis zu seinem Tod lebte er im Exil.
2 SPW: »Sozialistische Politik und Wirtschaft«, eine Korrespondenz, die Paul Levi von Februar 1923 bis September 1928 herausgab und deren Chefredakteurin seit 1924 Mathilde Jacob war.
Hier zitiert nach: Friedrich-Ebert-Stiftung. Archiv der sozialen Demokratie, NL Paul Levi, 1/PLAA000049.