Der Acheron in Bewegung

Rosa Luxemburg am 27. November 1918

Die hübschen Plänchen einer braven, zahmen, «verfassungsmäßigen» deutschen Revolution, die «Ordnung und Ruhe» wahrt und als ihre erste und dringendste Aufgabe den Schutz des kapitalistischen Privateigentums betrachtet, diese Plänchen gehen zum Teufel: Der Acheron ist in Bewegung gekommen! Während oben, in den Regierungskreisen, ein schiedlich-friedliches Auskommen mit der Bourgeoisie mit allen Mitteln aufrechterhalten wird, erhebt sich unten die Masse des Proletariats und schwingt die drohende Faust: Die Streiks haben begonnen! Es wird gestreikt in Oberschlesien, bei Daimler usw., es ist nur ein erster Anfang. Die Bewegung wird naturgemäß immer breitere und mächtigere Wellen schlagen.

     Wie könnte es auch anders sein. Eine Revolution hat stattgefunden. Arbeiter, Proletarier — im Waffenrock oder im Arbeitskittel — haben sie gemacht. In der Regierung sitzen Sozialisten, Arbeitervertreter.

     Und was hat sich für die Masse der Arbeitenden in ihrem täglichen Lohnverhältnis, in ihrem Lebensverhältnis verändert? Gar nichts oder so gut wie gar nichts! Kaum daß hie und da einige kümmerliche Zugeständnisse gemacht worden sind, sucht das Unternehmertum dem Proletariat auch das Geringe wieder zu eskamotieren.

     Man vertröstet die Massen auf die kommenden goldenen Früchte, die ihnen von der Nationalversammlung in den Schoß fallen sollen. Durch lange Debatten, durch Gerede und parlamentarische Mehrheitsbeschlüsse sollen wir sanft und «ruhig» in das gelobte Land des Sozialismus hineinschlüpfen.

     Der gesunde Klasseninstinkt des Proletariats bäumt sich gegen das Schema des parlamentarischen Kretinismus auf. Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein, heißt es im Kommunistischen Manifest. Und «Arbeiterklasse», das sind nicht ein paar hundert gewählte Vertreter, die durch Rede und Widerrede die Geschicke der Gesellschaft lenken, das sind noch weniger die zwei oder drei Dutzend Fahrer, die Regierungsämter besetzen. Arbeiterklasse, das ist die breiteste Masse selbst. Nur durch ihre tätige Mitwirkung an dem Umsturz des Kapitalsverhältnisses kann die Sozialisierung der Wirtschaft vorbereitet werden.

     Statt auf die beglückenden Dekrete der Regierung oder die Beschlüsse der famosen Nationalversammlung zu warten, greift die Masse instinktiv zu dem einzigen wirklichen Mittel, das zum Sozialismus führt: zum Kampf gegen das Kapital. Die Regierung hat bis jetzt alle Mühe darauf verwendet, die Revolution zu einer politischen zu kastrieren, unter dem Geschrei gegen jede Bedrohung der «Ordnung und Ruhe» die Harmonie der Klassen zu errichten.

     Die Masse des Proletariats wirft ruhig das Kartenhaus der revolutionären Klassenharmonie um und schwingt das gefürchtete Banner des Klassenkampfes.

     Die beginnende Streikbewegung ist ein Beweis, daß die politische Revolution in das soziale Fundament der Gesellschaft eingeschlagen hat. Die Revolution besinnt sich auf ihren eigenen Urgrund, sie schiebt die papierne Kulisse von Personenveränderungen und Erlassen, die an dem sozialen Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit noch nicht das allergeringste geändert haben, beiseite und betritt selbst die Bühne der Geschehnisse.

     Die Bourgeoisie fühlt wohl, daß hier ihre sterblichste Stelle berührt wird, daß hier der Spaß der Regierungsharmlosigkeiten aufhört und der furchtbare Ernst der Auseinandersetzung zweier Todfeinde von Angesicht zu Angesicht beginnt. Daher die bleiche Angst und die heisere Wut gegen die Streiks. Daher die fieberhaften Bemühungen der abhängigen Gewerkschaftsführer, den heraufziehenden Orkan in die Netze ihrer alten bürokratisch-instanzlichen Mittelchen zu fangen und die Masse zu lähmen und zu fesseln.

     Vergebliche Mühe! Die kleinen Fesseln der gewerkschaftlichen Diplomatie im Dienste der Kapitalsherrschaft haben sich in der Periode der politischen Stagnation, die dem Weltkriege voraufgegangen ist, trefflich bewährt. In der Periode der Revolution werden sie elend versagen. Schon jede bürgerliche Revolution der Neuzeit war von einer stürmischen Streikbewegung begleitet: sogut in Frankreich am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in der Juli- und der Februarrevolution wie in Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien. Jede große soziale Erschütterung ruft naturgemäß aus dem Boden einer auf Ausbeutung und Unterdrückung gegründeten Gesellschaft heftige Klassenkämpfe hervor. Solange die bürgerliche Klassengesellschaft im Gleichgewicht ihres parlamentarischen Alltags verharrt, geht auch der Proletarier geduldig in der Tretmühle des Lohnverhältnisses, und seine Streiks haben dann nur den Charakter schwacher Korrekturen an der als unerschütterlich geltenden Lohnsklaverei.

     Sobald das Gleichgewicht der Klassen durch einen revolutionären Sturm ausgerenkt ist, schlagen die Streiks aus sanftem Wellenspiel der Oberfläche in drohende Sturzwellen um; die Tiefe selbst kommt in Bewegung, der Sklave begehrt nicht bloß gegen den zu schmerzlichen Druck der Kette auf, er rebelliert gegen die Kette selbst.

     So in allen bisherigen bürgerlichen Revolutionen. Mit dem Ausgang der Revolutionen, die stets zur Befestigung der bürgerlichen Klassengesellschaft führen, pflegte auch die proletarische Sklavenrebellion in sich zusammenzufallen, der Proletarier kehrte mit gesenktem Haupte in die Tretmühle zurück.

     In der heutigen Revolution sind die eben ausgebrochenen Streiks keine «gewerkschaftliche» Auseinandersetzung um Lappalien, um das Drum und Dran des Lohnverhältnisses. Sie sind die natürliche Antwort der Massen auf die gewaltige Erschütterung, die das Kapitalsverhältnis durch den Zusammenbruch des deutschen Imperialismus und die kurze politische Revolution der Arbeiter und Soldaten erfahren hat. Sie sind der erste Anfang einer Generalauseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in Deutschland, sie lauten den Beginn des gewaltigen direkten Klassenkampfes ein, dessen Ausgang kein anderer als die Beseitigung des Lohnverhältnisses und Einführung der sozialistischen Wirtschaft sein kann. Sie Iösen die lebendige soziale Kraft der gegenwärtigen Revolution aus: die revolutionäre Klassenenergie der proletarischen Massen. Sie eröffnen die Periode der unmittelbaren Aktivität der breitesten Massen, jener Aktivität, zu der die Sozialisierungsdekrete und Maßnahmen irgendwelcher Vertretungskörperschaften oder der Regierung nur die Begleitmusik bilden können.

     Diese beginnende Streikbewegung ist zugleich die lapidarste Kritik der Masse auf die Chimäre ihrer sogenannten «Führer» über die «Nationalversammlung». Sie haben ja schon die «Majorität», die streikenden Proletarier in den Fabriken und Gruben! Die Tölpel! Warum laden sie nicht ihren Unternehmer zu einer kleinen «Debatte» ein, um ihn dann durch «erdrückende Mehrheit» zu überstimmen und all ihre Forderungen glatt und  «ordnungsgemäß» durchzusetzen? Handelt es sich doch zunächst und formal um wahre Lappalien, um reine Äußerlichkeiten des Lohnverhältnisses!

     Herr Ebert oder Haase versuche doch, mit diesem läppischen Plan dem streikenden Kohlengräber Oberschlesiens zu kommen, eine schlagende Antwort ist ihm sicher. Doch was bei Lappalien wie Seifenblasen zerschellt, soll bei dem Stürzen des gesamten sozialen Baues stichhalten!

     Die proletarische Masse ist durch ihr bloßes Erscheinen auf der Bildfläche des sozialen Klassenkampfes über alle bisherigen Unzulänglichkeiten, Halbheiten und Feigheiten der Revolution zur Tagesordnung übergegangen. Der Acheron ist in Bewegung geraten, und die Knirpse, die an der Spitze der Revolution ihr kleines Spiel treiben, werden purzeln, oder sie werden endlich das Kolossalformat des weltgeschichtlichen Dramas, an dem sie mitspielen, verstehen lernen.

 


Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 12 vom 27. November 1918.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 419-422.