Der Anfang

Rosa Luxemburg am 18. November 1918

Die Revolution hat begonnen. Nicht Jubel über das Vollbrachte, nicht Triumph über den niedergeworfenen Feind ist am Platze, sondern strengste Selbstkritik und eiserne Zusammenhaltung der Energie, um das begonnene Werk weiterzuführen. Denn das Vollbrachte ist gering, und der Feind ist nicht niedergeworfen.

     Was ist erreicht? Die Monarchie ist hinweggefegt, die oberste Regierungsgewalt ist in die Hände von Arbeiter- und Soldatenvertretern übergegangen. Aber die Monarchie war nie der eigentliche Feind, sie war nur Fassade, sie war das Aushängeschild des Imperialismus. Nicht der Hohenzoller hat den Weltkrieg entfacht, die Welt an allen Ecken in Brand gesteckt und Deutschland an den Rand des Abgrundes gebracht. Die Monarchie war wie jede bürgerliche Regierung die Geschäftsführerin der herrschenden Klassen. Die imperialistische Bourgeoisie, die kapitalistische Klassenherrschaft — das ist der Verbrecher, der für den Völkermord verantwortlich gemacht werden muß.

     Die Abschaffung der Kapitalsherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung — dies und nichts Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution. Ein gewaltiges Werk, das nicht im Handumdrehen durch ein paar Dekrete von oben herab vollbracht, das nur durch die eigene bewußte Aktion der Masse der Arbeitenden in Stadt und Land ins Leben gerufen, das nur durch höchste geistige Reife und unerschöpflichen Idealismus der Volksmassen durch alle Stürme glücklich in den Hafen gebracht werden kann.

     Aus dem Ziel der Revolution ergibt sich klar ihr Weg, aus der Aufgabe ergibt sich die Methode. Die ganze Macht in die Hände der arbeitenden Masse, in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte, Sicherung des Revolutionswerks vor seinen lauernden Feinden: dies die Richtlinie für alle Maßnahmen der revolutionären Regierung.

     Jeder Schritt, jede Tat der Regierung müßte wie ein Kompaß nach dieser Richtung weisen:
     Ausbau und Wiederwahl der lokalen Arbeiter- und Soldatenräte, damit die erste chaotische und impulsive Geste ihrer Entstehung durch bewußten Prozeß der Selbstverständigung über Ziele, Aufgaben und Wege der Revolution ersetzt wird;
     ständige Tagung dieser Vertretungen der Masse und Übertragung der eigentlichen politischen Macht aus dem kleinen Komitee des Vollzugsrates in die breitere Basis des A.- u. S.-Rates;
     schleunigste Einberufung des Reichsparlamentes der Arbeiter und Soldaten, um die Proletarier ganz Deutschlands als Klasse, als kompakte politische Macht zu konstituieren und hinter das Werk der Revolution als ihre Schutzwehr und ihre Stoßkraft zu stellen;
     unverzügliche Organisierung nicht der «Bauern», sondern der ländlichen Proletarier und Kleinbauern, die als Schicht bisher noch außerhalb der Revolution stehen;
     Bildung einer proletarischen Roten Garde zum ständigen Schutze der Revolution und Heranbildung der Arbeitermiliz, um das gesamte Proletariat zur jeder Zeit bereiten Wacht zu gestalten;
     Verdrängung der übernommenen Organe des absolutistischen militärischen Polizeistaates von der Verwaltung, Justiz und Armee;
     sofortige Konfiskation der dynastischen Vermögen und Besitzungen sowie des Großgrundbesitzes als vorläufige, erste Maßnahme zur Sicherung der Verpflegung des Volkes, da Hunger der gefährlichste Bundesgenosse der Gegenrevolution ist;                     sofortige Einberufung des Arbeiterweltkongresses nach Deutschland, um den sozialistischen und internationalen Charakter der Revolution scharf und klar hervorzukehren, denn in der Internationale, in der Weltrevolution des Proletariats allein ist die Zukunft der deutschen Revolution verankert.

     Nur die ersten notwendigsten Schritte haben wir aufgezählt. Was tut die jetzige revolutionäre Regierung?
     Sie beläßt den Staat als Verwaltungsorganismus von oben bis unten ruhig weiter in den Händen der gestrigen Stützen des Hohenzollerschen Absolutismus und der morgigen Werkzeuge der Gegenrevolution;
     sie beruft die Konstituierende Nationalversammlung ein, schafft damit ein bürgerliches Gegengewicht zur Arbeiter- und Soldatenvertretung, verschiebt damit die Revolution auf das Geleise einer bürgerlichen Revolution, eskamotiert die sozialistischen Ziele der Revolution;
     sie tut nichts, um die weiter bestehende Macht der kapitalistischen Klassenherrschaft zu zertrümmern;
     sie tut alles, um die Bourgeoisie zu beruhigen, um die Heiligkeit des Eigentums zu verkünden, um die Unantastbarkeit des Kapitalsverhältnisses zu sichern;
     sie läßt die sich auf Schritt und Tritt regende Gegenrevolution ruhig gewahren, ohne an die Masse zu appellieren, ohne das Volk laut zu warnen.

     Ruhe! Ordnung! Ordnung! Ruhe! So hallt es von allen Seiten, aus allen Kundgebungen der Regierung, so jubelt das Echo aus allen bürgerlichen Lagern. Das Gezeter gegen das Gespenst der «Anarchie» und des «Putschismus», die bekannte Höllenmusik des um Kassenschranke, Eigentum und Profite besorgten Bourgeois ist die lauteste Note des Tages, und die revolutionäre Arbeiter-und-Soldaten-Regierung — duldet ruhig diesen Generalmarsch zum Sturm gegen den Sozialismus, ja, sie beteiligt sich daran mit Wort und Tat. 

     Das Fazit der ersten Woche der Revolution heißt: Im Staate der Hohenzollern hat sich im wesentlichen nichts verändert, die Arbeiter-und-Soldaten-Regierung fungiert als Stellvertreterin der imperialistischen Regierung, die bankrott geworden ist. All ihr Tun und Lassen ist von der Furcht vor der Arbeitermasse getragen. Bevor die Revolution noch Kraft, Schwung, Anlauf genommen, wird ihre einzige Lebenskraft, ihr sozialistischer und proletarischer Charakter, eskamotiert.

     Alles ist in Ordnung. Der reaktionäre Staat der zivilisierten Welt wird nicht in 24 Stunden zum revolutionären Volksstaat. Soldaten, die gestern in Finnland, Rußland, der Ukraine, im Baltikum als Gendarmen der Reaktion revolutionäre Proletarier mordeten, und Arbeiter, die dies ruhig geschehen ließen, sind nicht in 24 Stunden zu zielklaren Trägern des Sozialismus geworden.

     Das Bild der deutschen Revolution entspricht der inneren Reife der deutschen Verhältnisse. Scheidemann-Ebert sind die berufene Regierung der deutschen Revolution in ihrem heutigen Stadium. Und die Unabhängigen, die mit Scheidemann-Ebert zusammen Sozialismus machen zu können glauben, die jenen in der «Freiheit» feierlich attestieren, daß man gemeinsam mit ihnen eine «rein sozialistische Regierung» bilde, qualifizieren sich damit selbst als die berufenen Mitträger der Firma in diesem ersten provisorischen Stadium.

     Aber die Revolutionen stehen nicht still. Ihr Lebensgesetz ist rasches Vorwärtsschreiten, über sich selbst Hinauswachsen. Das erste Stadium treibt schon durch seine inneren Widersprüche vorwärts. Die Lage ist als Anfang begreiflich, als Zustand auf die Dauer unhaltbar. Soll die Gegenrevolution nicht auf der ganzen Linie Oberhand gewinnen, müssen die Massen auf der Hut sein.

     Der Anfang ist gemacht. Das weitere ist nicht in der Hand der Zwerge, die den Lauf der Revolution aufhalten, dem Rad der Weltgeschichte in die Speichen fallen wollen. Die Tagesordnung der Weltgeschichte heißt heute: Verwirklichung des sozialistischen Endziels. Die deutsche Revolution ist in die Bahn dieses leuchtenden Gestirns geraten. Sie wird weiter Schritt um Schritt, durch Sturm und Drang, durch Kampf und Qual und Not und Sieg zum Ziel gelangen.

     Sie muß!



Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 3 vom 18. November 1918.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 397-400.