Judenprogrome

Rosa Luxemburg am 1. Dezember 1918

Von der Rechten bis zum «Vorwärts» erhebt die nationalistische Presse in Deutschland die Errungenschaften der Neuzeit in den Himmel, die da heißen «Selbstbestimmungsrecht der Nationen» und «Verbrüderung der Völker», und sie verdammt mit demselben Grade von Haß und Verachtung die «Diktatur von Links» und die damit verbundene Anarchie, Unordnung, Bruderkrieg, Bürgerkrieg usw. Gesegnetere Himmelstriche erfreuen sich bereits des «Selbstbestimmungsrechtes», und ungehemmt vermag der nationale Gedanke sich dort auszuleben.Das «Berliner Tageblatt» meldet über die Judenpogrome in Lemberg:

      «Es hat sich in Lemberg um einen zielbewußten nationalpolitischenTerrorismus gehandelt. Die Pogrome wurden in dem Augenblick eingestellt, wo die Lemberger Judenschaft durch ihre Vertreter die Erklärung abgab, daß sie sich zum Polentum bekenne. Seit Jahrzehnten wird die Fiktion, daß im ukrainischen Ost-Galizien das Städtewesen polnisch sei, dadurch aufrechterhalten, daß die Juden als Polen gezählt werden. In den jüngsten Kämpfen zwischen Polen und Ukrainern haben sich die Juden jedoch fast überall in Ost-Galizien neutral erklärt. Die polnische Politik könnte ihren  Anspruch auf Ost-Galizien nicht aufrechterhalten, wenn sie den Juden das Recht und die Neutralität im polnisch-ukrainischen Streit zuerkennen würde. Die Pogrome haben den Zweck, dieses Neutralitätsbekenntnis umzustoßen.»

     Das sind die köstlichen Vorproben jener neuen Ordnung, die die Bourgeoisie aus den Trümmern Europas hervorzaubern will. Der Nationalismus ging aus dem Kriege heraus als dasselbe blutige Raubtier, als das er hineinging. Und alle Phrasen von der «Selbstbestimmung der Völker» werden daran nichts ändern. Die halb- und ganzverkohlten Leichen der Juden Lembergs geben ein besseres Bild dessen, was bei der Herrschaft des Kapitalismus unter «Völkerverbrüderung» zu verstehen ist als die schönste oder längste aller Reden von Scheidemann oder von Wilson.


Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne. Zentralorgan des Spartakusbundes, 1. Jg., Nr. 16, 1. Dezember 1918.

Hier zitiert nach Paul Levi: Spartakus, Bd. 1, Das Leben bis zur Ermordung des Leo Jogiches, Berlin,  S. 599.