Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg «Zwei große Verluste»

Leo Trotzki 18. Januar 1919

Der unbeugsame Karl Liebknecht.

     Wir haben einen der schwersten Verluste, richtiger auf einmal zwei schwere Verluste erlitten. Aus unseren Reihen sind zwei Führer ausgeschieden, deren Namen für immer in das große Buch der proletarischen Revolution eingetragen sind, – die Namen Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs.

     Der Name Karl Liebknecht hat seit den ersten Monaten des furchtbaren Blutbades in Europa eine Weltbedeutung erworben.

     In jenen ersten Wochen, als der deutsche Militarismus seine ersten Siege, die ersten blutigen Orgien feierte, in jenen ersten Wochen, als die deutschen Truppen durch Belgien heranrückten, die belgischen Festungen zerstörte, als die 420-Millimeter-Geschütze, wie es schien, die ganze übrige Welt Wilhelm zu unterwerfen und zu unterjochen drohten, in jenen Tagen und Wochen, als die offizielle deutschen Sozialdemokratie mit ihrem Scheidemann und Ebert an der Spitze das Knie beugte vor dem deutschen Kapitalismus und Militarismus, der, wie es damals schien, alles eroberte: die äußere Welt – Frankreich mit seinem von den Deutschen ergriffenen Norden – und die innere Welt – nicht nur das deutsche Junkertum, die deutsche Bourgeoisie, sondern auch die offiziell anerkannte Partei der deutschen Arbeiterklasse – in jenen dunklen, tragischen Tagen erklang in Deutschland eine einzige Stimme des Protests, der Empörung, der Verdammung, – das war die Stimme Karl Liebknechts.

     Und sie durchdrang die ganze Welt.

     In Frankreich, wo sich die Stimmung der großen Arbeitermassen damals im Zeichen der deutschen Okkupation befand, in Frankreich, wo die herrschenden Parteien der französischen Sozialpatrioten die Notwendigkeit des Kampfes auf Leben und Tod gerade dadurch erklärten, dass in Deutschland das ganze Volk bestrebt sei, Paris zu erobern, erkannten sogar die französische Bourgeoisie und die französischen Chauvinisten offen an, dass Liebknecht allein in dieser Beziehung eine Ausnahme bildete.

     Tatsächlich war er übrigens nicht mehr allein, denn Hand in Hand mit ihm arbeitete die mutige Rosa Luxemburg. Die Rechtlosigkeit des deutschen bürgerlichen Parlamentarismus gab ihr nicht die Möglichkeit, ihren Protest von der Parlamentsbühne herabzuschleudern, was Liebknecht in Deutschland tat.

     Es muss auch auf das Bewusstsein der besten Elemente der deutschen Arbeiterklasse hingedeutet werden, wo das Wort und der Gedanke Rosa Luxemburgs ein machtvolles Werk vollbrachten.

     Diese zwei Menschen, diese zwei Genossen ergänzten einander und schritten unerbittlich gemeinsamen Endzielen zu.

     Karl Liebknecht stellte überhaupt die echte und vollendete Verkörperung eines unbeugsamen Revolutionärs dar. Über seine Person – meldet die Presse – wurden in den letzten Tagen und Monaten unzählige Legenden geschaffen, die seinen Namen mit Nachrichten und Mitteilungen umgaben, deren es bei uns so viel gab, als die Bourgeoisie noch als herrschende Klasse existierte.

     Karl Liebknecht war – leider können wir nur noch sagen war – im persönlichen Leben, im persönlichen Verkehr die Verkörperung der Güte und Brüderlichkeit. Man kann sagen, dass seinem Wesen eine rein-weibliche Weichheit im besten Sinne dieses Wortes eigen war, und zugleich neben dieser weiblichen Weichheit – ein außergewöhnlich gestählter revolutionärer Wille, der fähig war, bis zum letzten Blutstropfen im Namen dessen zu kämpfen, was er für Recht und Wahrheit hielt. Er hat es bewiesen, als er seine protestierende Stimme gegen alle Vertreter der Bourgeoisie und die verräterische Sozialdemokratie des deutschen Reichstags erhob, wo die ganze Atmosphäre von den Miasmen des Chauvinismus und des siegreichen Militarismus geschwängert war. Er hat es als Soldat bewiesen, als er auf dem Potsdamer Platz in Berlin das Banner offenen Aufruhrs gegen die Hohenzollern und den bürgerlichen Militarismus erhob.

     Er wurde verhaftet. Aber Gefängnis und Zuchthaus beugten seinen Geist nicht und durch die Revolution, die im November ausbrach, befreit, stellte sich Liebknecht an die Spitze der besten Elemente der deutschen Arbeiterklasse.

Rosa Luxemburg und die eiserne Macht ihres Gedankens.

     Der Name Rosa Luxemburg ist weniger bekannt in anderen Ländern und auch bei uns in Russland. Aber man kann in fester Überzeugung sagen, dass sie durchaus keine weniger bedeutende Persönlichkeit war als Karl Liebknecht. Klein von Wuchs, zart gebaut, kränklich, überraschte sie durch den Mut ihres Gedankens.

     Ich sagte, dass diese beiden Führer einander ergänzten. Wenn dem unbeugsamen Revolutionär Karl Liebknecht die Weichheit eines Frauencharakters eigen war, so war dieser zarte Frau eiserne Kraft des Gedankens eigen. Ferdinand Lassalle sprach einmal von der physischen Kraft des Gedankens, von der Spannung des menschlichen Gedankens, wenn er durch seinen Drang und Ansturm physische und materielle Hindernisse überwinden kann. Und einen solchen Eindruck machte es auf uns, wenn Rosa Luxemburg von der Tribüne gegen ihre Feinde redete; und sie hatte viele Feinde. Sie mit ihrem kleinen Wuchs und ihrer zarten Gestalt konnte ein riesengroßes mächtiges Auditorium bezwingen, das gegen sie feindlich gestimmt war.

     Durch die Macht ihrer Logik verstand sie ihre geschworensten Gegner zum Schweigen zu bringen, besonders wenn ihre Worte in die großen Massen drangen.

Der verräterische Schlag der Reaktion.

     Kaum hatte Liebknecht das Zuchthaus verlassen, als sie beide, dieser Revolutionär und diese Revolutionärin, einander bei der Hand fassten und zusammen in den ersten Reihen, an der Spitze der deutschen Arbeiterklasse und zugleich alles dessen, was es Leuchtendes, Erhabenes, Bewusstes in den Reihen dieser Klasse gab, der neuen proletarischen Revolution entgegenschritten. Und auf diesem Wege traf der verräterische Schlag beide an dem gleichen Tage. Die Reaktion konnte keine würdigeren Opfer und keine gefährlicheren Feinde wählen.

     Diese Reaktion ist in Person der gewesenen Führer der gewesenen Partei der Arbeiterklasse, Scheidemann und Ebert, verkörpert, deren Namen für immer in das Buch der Arbeiterbewegung der ganzen Welt, das Buch der Weltrevolution geschrieben sind als die Namen der verantwortlichen Organisatoren dieses verräterischen Mordes.

     Freilich haben wir eine offizielle Mitteilung aus Deutschland erhalten, welche den Mord an Liebknecht und Luxemburg als „Missverständnis auf der Straße“ schildert, das vielleicht durch einige Nachlässigkeit der Wache, durch ein Attentat der Feinde der Kommunistischen Partei, ein Attentat auf ihre Führer, bedingt wurde. Es ist sogar eine gerichtliche Untersuchung aus diesem Anlass eingeleitet worden …

Was bei uns in den Julitagen hätte geschehen können.

     Wir wissen allzu gut, wie die Reaktion derartige elementare Ausbrüche zustande bringt; wir erinnern uns sehr gut der Julitag, die wir hier in den Mauern Petrograds durchlebten; wir erinnern uns allzu gut, wie die ultrareaktionären Gruppen und Banden, die Kerenski und Zeretelli zum Kampf gegen die Bolschewiki gerufen hatten, organisiert und plangemäß die Arbeiter beschossen, ihre Führer mordeten, einzelne Arbeiter auf den Straßen niederschossen und niederstachen. Die Namen solcher Arbeiter wie Woinow sind der Mehrheit von uns erinnerlich. Wenn es uns damals gelang, Lenin zu bewahren, wenn wir Sinowjew bewahrten, so nur deshalb, weil sie sich nicht in den Händen dieser wutschnaubenden Banden befanden. Damals gab es unter den Menschewiki und Sozialrevolutionären Leute, die behaupteten, gegen Lenin und gegen Sinowjew lägen Anklagen vor, dass die deutsche Spione seien, und obgleich sie wussten, dass es ihnen ein Leichtes wäre, diese Verleumdung zu widerlegen, erschienen sie dennoch nicht vor Gericht … Das wurde ihnen als besondere Schuld angerechnet. Vor welchem Gericht? Vor dem Gericht auf dem Wege zu welchem Lenin und Sinowjew einen „Fluchtversuch gemacht hätten“, wie es Liebknecht getan haben soll, d. h. auf dem man sie niedergeschossen und dann offiziell mitgeteilt hätte, dass sie beim Fluchtversuch von der Wache getötet wurden? Nein, jetzt, nach dieser furchtbaren Berliner Erfahrung haben wir unsere guten Gründe, zufrieden zu sein, dass weder Lenin noch Sinowjew sich damals dem Henkergericht der bürgerlichen Regierung stellten.

Eine geschichtliche Verdrehung.

     Welch ein Unglück! Welch ein Verrat! Die wahren Führer der Kommunistischen Partei Deutschlands sind nicht mehr, unsere großen Brüder sind nicht mehr. Ihre Mörder stehen aber unter dem Banner der sozialdemokratischen Partei, die die Unverschämtheit hat, ihren Stammbaum auf niemand anders, als auf Karl Marx zurückzuführen.

     Bedenkt bloß, Genossen, dass die Partei, die seit den ersten Kriegstagen die Interessen der Arbeiterklasse verkaufte, die den deutschen Militarismus unterstützte, die die Zerstörung Belgiens und die Besetzung der nördlichen Provinzen Frankreichs guthieß, die Partei, deren Führer uns in den Tagen des Brester Friedens ihrem feindlichen deutschen Militarismus auslieferten, diese Führer, Scheidemann und Ebert, sich wie ehedem Marxisten nennen und reaktionäre Banden organisieren, welche die Helden der Internationale, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, morden!

     Wir haben gesehen, dass eine solche historische Verzerrung, ein solcher historischer Raub, dass das gleiche einst am Christentum verübt wurde … Wurde nicht das evangelische Christentum, die Lehre der unterdrückten Fischer, Sklaven, Werktätigen, die in der geknechteten Gesellschaft bis zur Erde niedergedrückt waren, diese historisch entstandene Lehre der Armen, nachher von den Monopolisten des Reichtums, den Königen, Metropoliten, Patriarchen, dem römischen Papst usurpiert?

     Es unterliegt keinem Zweifel, dass zwischen der wahren Lehre des ursprünglichen, antiken Christentums, wie es in dem Volksbewusstsein und dem Bewusstsein der werktätigen Unterschichten der Orthodoxie der gleiche Abgrund liegt, wie zwischen der Lehre von Marx, die ganz aus Lorbeeren des revolutionären Gedankens und der revolutionären Gefühle allein besteht, und jenen Abfällen der bürgerlichen Ideen und Stimmungen, für die jetzt die Scheidemänner und Ebert aller Länder leben und mit denen sie Handel treiben.

Das Blut der ermordeten Führer schreit gen Himmel.

     Ich zweifle aber nicht, Genossen, dass dieses entsetzliche Verbrechen das letzte an der Zahl seitens der Scheidemänner und Ebert sein wird. Denn das Proletariat Deutschlands hat nun genug von denen gelitten, die historisch an seine Spitze gestellt waren; aber diese Tat geht nicht spurlos vorüber. Das Blut Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs schreit gen Himmel, dieses Blut zwingt die Steine Berlins und die Steine des Potsdamer Platzes, wo Karl Liebknecht als erster das Banner des Aufstandes gegen die Hohenzollern erhob, zum Reden. Und man kann nicht daran zweifeln, dass aus diesen Steinen auf den Straßen Berlins neue Barrikaden gegen die treuesten Knechte und Kettenhunde der bürgerlichen Gesellschaft, gegen die Ebert-Scheidemann errichtet werden.

Es gab ja noch keinen rechten Kampf.

     Jetzt haben Scheidemann und Ebert in Berlin die Spartakusbewegung, die Bewegung der deutschen Kommunisten unterdrückt; sie haben die zwei besten Führer dieser Bewegung ermordet und sie feiern heute vielleicht noch ihren Sieg; aber es ist kein Sieg, denn es gab noch keinen direkten und rechten Kampf; es gab noch keinen Aufstand des deutschen Proletariats im Namen der Eroberung der politischen Macht. Das war nur eine machtvolle Rekognoszierung, das war eine tiefgehende Auskundschaftung ins Lager des Gegners; das geht der Schlacht voraus, das ist aber noch keine Schlacht. Und das deutsche Proletariat bedurfte einer tiefgehenden Auskundschaftung, wie wir einer solchen bedurften in den Julitagen.

Die historische Bedeutung der Julitage.

     Ihr kennt den Gang der Ereignisse und ihre innere Logik. Ende Februar alten Stils stürzten die Volksmassen den alten Zarenthron, und im Lauf der ersten Wochen war die Stimmung eine derartige, als ob die Hauptsache schon vollbracht wäre; neue Menschen, die sich aus anderen Parteien hervorgetan hatten, aus Parteien, die bei uns niemals an der Macht gestanden hatten – diese Menschen erwarben sich in der ersten Zeit das Vertrauen der großen Volksmassen.

     Petrograd marschierte jedoch an der Spitze, wie es ihm auch gebührte; sowohl im Februar wie im Juli bildete es die vorausschreitende Vorhut der großen Massen, und diese Vorhut, welche die Volksmassen zu offenem Kampf gegen die bürgerliche Regierung, gegen die Kompromissler rief, diese Vorhut vollführte eine tiefgehende Auskundschaftung.

     So kam es in den Julitagen zum Zusammenstoß mit der Regierung Kerenskis. Es war noch kein Aufstand, wie wir ihn im Oktober vollführten, es war ein Versuch, über dessen Sinn die großen Massen selbst sich noch keine volle Rechenschaft ablegten. Die Petrograder Arbeiter erklärten nur der Regierung Kerenski den Krieg, es kam zu einem Zusammenstoß mit derselben, und durch diesen Zusammenstoß zeigten sie den Volksmassen aller Länder, dass Kerenski über keinerlei selbständige revolutionäre Kräfte verfügte, die Kräfte aber, die für ihn einstanden, die Kräfte der Bourgeoisie, der weißen Garde und der Gegenrevolution waren.

     Wie Ihr wisst, erlitten wir damals im Juli formell eine Niederlage; Genosse Lenin und Genosse Sinowjew mussten sich verbergen; so manche von  uns saßen im Gefängnis, unsere Zeitungen wurden erwürgt, der Petrograder Sowjet wurde in einen Schraubstock gepresst, die Druckereien der Arbeiter wurden zertrümmert, die Häuser und Räume der Arbeiterorganisationen mit Beschlag belegt; überall trieben die Ultrareaktionäre ihr Wesen; es geschah das gleiche, was jetzt in den Straßen Berlins vor sich geht, und nichtsdestoweniger bezweifelte niemand von uns im geringsten, dass die Julitage nur das Vorspiel zu unserem Triumph wären.

     Diese Tage deckten die Kräfte und den Bestand des Feindes auf und bewiesen, dass die Regierung Kerenski und Zeretellis nur ein Vollzugsorgan im Dienst der vereinten Gegenrevolution, der Großgrundbesitzer und der Bourgeoisie war.

Das gleiche geschah in Berlin.

     Das gleiche erwies sich in den letzten Tagen auch in Deutschland. Wie bei uns Petrograd, so schritt Berlin den übrigen Volksmassen voraus; wie bei uns riefen alle Feinde der Arbeiterklasse: Man kann nicht unter der Herrschaft Berlins bleiben; Berlin ist isoliert, man muss die Nationalversammlung einberufen und aus Berlin in eine gesundere Provinzstadt Deutschlands verlegen. Berlin ist durch die Propaganda Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs demoralisiert. Alles das, was bei uns an den Tag gelegt wurde, all die Agitation, all die Verleumdung, die wir hier zu hören bekamen, alles das verbreiteten Scheidemann und Ebert in deutscher Übersetzung bezüglich des Berliner Proletariats und der Führer der Kommunistischen Partei, Liebknecht und Rosa Luxemburg.

     Die Auskundschaftung nahm dort freilich größeren Umfang an als bei uns, jedoch nur deshalb, weil die Deutschen die gleiche Geschichte wiederholen, die wir schon einmal erlebt haben und weil die Klassenverhältnisse dort ausgeprägter sind als bei uns, und scharfe Widerspiegelungen ihrer politischen Verkörperung suchen.

     Bei uns, Genossen, vergingen von unserer Februarrevolution bis zu unseren Julitagen vier Monate; vier Monate brauchte Petrograd, um den unwiderstehlichen inneren Drang zu fühlen, hinaus auf die Straße zu gehen und zu versuchen, die Säulen, auf welche sich der Staatstempel Kerenskis und Zeretellis stützte, zu erschüttern.

     Nach den Julitagen vergingen vier Monate, bis die schwerfälligen Reserven der Provinz sich Petrograd anschlossen und wir mit fester Gewissheit auf Sieg im Oktober oder November neuen Stils 1917 die direkte Offensive gegen unsere Klassenfeinde aufnehmen und zum Sturm auf sie schreiten konnten.

     In Deutschland spielte sich die Revolution erst Anfang November ab, Anfang Januar aber gegen dort schon unsere Julitage vor sich. Das deutsche Proletariat lebt in seiner Revolution nach verkürztem Kalender. Da, wo wir vier Monate brauchten, bedurfte es zwei. Und man kann nicht zweifeln, dass derselbe Maßstab auch des Weiteren gültig bleibt. Von den deutschen Julitagen bis zum deutschen Oktober vergehen nicht vier Monate, wie bei uns, sondern weniger – es vergehen zwei Monate, vielleicht noch weniger. Und diese Schüsse, die Karl Liebknecht hinterrücks trafen, hallten zweifellos als machtvolles Echo in ganz Deutschland wieder.

     Und als Grabgeläute tönt es und musste es tönen in den Ohren der deutschen und anderen Ebert-Scheidemänner.

     Hier wurde eben Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ein Requiem gesungen. Die Führer sind zugrunde gegangen. Lebend sehen wir sie nimmer. Aber haben viele von Euch, Genossen, sie jemals lebend gesehen? Eine verschwindende Minderheit. Und dennoch lebten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg immer unter Euch. Auf den Versammlungen der russischen Arbeiter, auf den Kongressen wählten wir Karl Liebknecht zum Ehrenpräsidenten. Er war nicht da, aber er weilte in Eurer Mitte, als Ehrengast an Euren Tischen, denn sein Name war nicht nur die einfache Benennung eines einzelnen Menschen, der Name Karl Liebknecht war für uns der Ausdruck alles Besten, Mutigsten, Edelsten, was es in der Arbeiterklasse gibt, was es in den Truppen der revolutionären Vorhut gibt; das waren wir gewohnt Karl Liebknecht zu nennen! Und wenn ein beliebiger von uns sich einen Menschen, stahlhart vom Kopf bis zu den Füssen, einen Menschen, der nie sein Banner neigte, vorstellen wollte, nannte er Karl Liebknecht. Er war nicht nur fähig, sein Blut zu vergießen (das ist vielleicht nicht das größte in ihm), aber er vermochte seine Stimme zu erheben, er hob im Lager wutschnaubende Feinde, in einer vom Dunst des Chauvinismus gesättigten Atmosphäre, als das ganze deutsche Volk schwieg, als, wie es schien, nirgends eine Stimme an die Öffentlichkeit dringen konnte, als der Militarismus alles niederdrückte, unter solchen Bedingungen erhob er seine Stimme und rief: Ihr, Kaiser, Generäle, Kapitalisten, ihr, Scheidemänner, würgt Belgien, ihr plündert die nördlichen Provinzen Frankreichs, ihr wollt die ganze Welt mit Füssen treten, ich aber sage euch: Ich verachte, ich hasse euch, ich erkläre euch den Krieg, und diesen Krieg führe ich bis zum Ende. Und wenn, Genossen, die materielle Hülle Karl Liebknechts auch nicht mehr ist, so bleibt sein Bild dennoch und schwindet nimmer.

     Aber zusammen mit Karl Liebknecht bleibt der Name Rosa Luxemburgs für immer bestehen in den Reihen der Arbeiterbewegung der ganzen Welt.

     Ihr wisst, worauf die Heiligenlegenden, die Legenden von ihrem ewigen Leben beruhen? Sie beruhen auf dem Bedürfnis der Menschen, das Andenken derjenigen zu wahren, die an ihrer Spitze standen, die ihnen dienten; und in dem Bestreben ihrer Persönlichkeit im Nimbus der Heiligkeit zu verewigen, entstehen die Legenden. Wir, Genossen, bedürfen keiner Legenden, wir bedürfen keiner Verwandlung unserer Helden und Kämpfer in Heilige, – und genügt die Wirklichkeit, in der wir jetzt leben, denn diese Wirklichkeit ist an und für sich legendenhaft. Sie erweckt legendenhafte Kräfte in der Seele der besten unserer Führer, sie schafft Gestalten, die sich über die ganze Menschheit erheben.

     Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind solche ewigen Gestalten. Und immer, auf allen Versammlungen, wo wir Liebknecht zu unserem Ehrenpräses wählten, nahmen wir seine und seiner Mitkämpferin Anwesenheit mit überraschender, fast körperlicher Deutlichkeit wahr; so empfinden wir auch den Sozialismus in dieser tragischen Stunde, wo wir uns im Geiste mit den besten Arbeitern Deutschlands, Englands, mit den Arbeitern der ganzen Welt, die vorübergehend in Kummer und Trauer gestürzt sind, vereinigen. Wir alle fühlen diesen Schlag gleich ihnen.

     In diesem Kampf, in diesem Erleben sind wir ebenso international, wie in allem anderen.

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind uns verwandt.

     Liebknecht ist für uns nicht der deutsche Führer, Rosa Luxemburg ist für uns nicht die polnische Sozialistin, die sich an die Spitze der deutschen Arbeiter stellte, sie beide sind die unsrigen, sind uns verwandt, mit ihnen verknüpfen uns unlösbare geistige Bande.

     Umso mehr, Genossen, müssen wir das sagen, da Liebknecht und Rosa Luxemburg dem russischen revolutionären Proletariat nahe standen.

     Die Wohnung Liebknechts war das Stabsquartier aller besten Emigranten in Berlin, in Deutschland; wenn im deutschen Parlament, in der deutschen Presse die Stimme des Protests gegen jene Dienste erhoben werden sollte, welche die deutschen Imperialisten der russischen Reaktion erwiesen, wandten wir uns an Karl Liebknecht, und er pochte an alle Türen, an alle Schädel, darunter auch an die Schädel Scheidemanns und Eberts, um sie zu zwingen, auf die Verbrechen des Imperialismus zu reagieren.

     Rosa Luxemburg stand an der Spitze jener polnischen Sozialdemokratie, die jetzt zusammen mit dem linken Flügel (polnische sozialistische Partei) sich in eine einheitliche kommunistische Partei vereinigt hat. In Deutschland bemächtigte sich Rosa Luxemburg mit dem ihr eigenen Talent der Technik der deutschen Sprache und des deutschen politischen Lebens und nahm sogar in der alten deutschen sozialdemokratischen Partei einen der hervorragendsten Plätze ein. Im Jahre 1905 aber erlebten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im wahren Sinne des Wortes alle Erlebnisse, alle Ereignisse der russischen Revolution mit uns. Rosa Luxemburg wurde sogar in Warschau als Kämpferin gegen den Zarismus verhaftet und kam, nachdem sie auf Bürgschaft aus der Warschauer Zitadelle befreit wurde, 1906 illegal nach Petersburg, wo sie in unseren Kreisen verkehrte und unter fremdem Namen diejenigen von uns, die damals verhaftet waren, in den Gefängnissen besuchte. Sie war im wahren Sinne des Wortes die Verkörperung unserer direkten und unmittelbaren Verbindung mit der damaligen sozialistischen Welt; aber abgesehen von den persönlichen Banden, bleibt für uns am wertvollsten das innige moralische Band, das uns mit ihr verknüpfte, das durch Einheit des Kampfes und die Gemeinschaft der großen Hoffnungen in allen historischen Prüfungen geschaffen war.

     Zusammen mit ihr überlebten wir auch das größte Unglück, das jemals die Arbeiterklasse der ganzen Welt betroffen hat; ich meine den schmachvollen Bankrott der Zweiten Internationale im August 1914. Zusammen mit ihr erhoben die besten von uns auch das Banner der Dritten Internationale, ohne es auf einen einzigen Augenblick aus den Händen zu lassen.

     Genossen, in dem Werk, dass wir vollführen, erfüllen wir den letzten Willen Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs; wenn wir hier, im kalten und hungrigen Petrograd, den Bau der neuen Sowjetordnung errichten, handeln wir im Geist Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs; wenn unsere Armee an allen Fronten vorrückt, handelt sie im Geist des letzten Willens von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

     Dort in Berlin gab es zum Schutz der Vorhuttruppen der Kommunistischen Partei Deutschlands noch keine organisierte mächtige Kraft, es gab keine rote Armee, wie wir in den Julitagen auch keine hatten, als die Bewegung noch elementar, noch nicht organisiert war, als die erste mächtige Woge sich an ganz unbedeutenden organisierten Banden zerschlug. Dort gibt es noch keine rote Armee; wir haben sie bereits, die Armee ist vorhanden, sie wird geschaffen und sie wächst.

     Jeder von uns wird es für seine Pflicht halten, jedem Soldaten mitzuteilen, wofür Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zugrunde gingen, was diese Menschen waren und was ihr Gedächtnis für jeden Soldaten, für jeden Arbeiter und Bauer sein soll. Diese beiden Gestalten sind auf immer unserem geistigen Inventar einverleibt.

     Ungeachtet dessen, dass die Flut der reaktionären Wogen sich in Deutschland verstärkt hat, verlieren wir keinen Augenblick die feste Zuversicht, dass dort der rote Oktober nahe ist.

     Zugleich können wir, indem wir uns an die Gestalten dieser zwei Verstorbenen wenden, sagen: „Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, ihr seid nicht mehr, aber ihr weilt unter uns; wir werden leben, wir werden unter dem Banner eurer Ideale, unter der Aureole eurer moralischen Bezauberung kämpfen! Und wir schwören, dass wir, wenn es sein muss, unter demselben unbeugsamen Banner zugrunde gehen werden, unter dem ihr, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zugrunde gingt!“


Rede gehalten von Leo Trotzki auf der Sitzung des Petrograder Sowjets am 18. Januar 1919, Petrograd 1920.