Nicht nach Schema F

Rosa Luxemburg am 8. Januar 1918

Es geht in Rußland entschieden nicht nach Schema F. Kautsky, der Theoretiker, vermißt in der Berufsstatistik Rußlands, das ein vorwiegend agrarisches Land ist, den Nachweis für seine ökonomische Reife zur sozialen Revolution. Er vergißt, daß nach der Berufsstatistik sowohl die große Revolution in Frankreich wie die Märzrevolution in Deutschland gar nicht hätte stattfinden dürfen.

     Was ist’s also mit der Statistik und mit dem historischen Materialismus? In Deutschland, wo nach der Statistik das volle Reifeattest für die proletarische Machtergreifung vorliegt, erlebt ein mittelalterlicher Halbabsolutismus die schönsten Tage. In Rußland, das nach der Statistik ökonomisch und sozial rückständig ist, hat das städtische Proletariat, gestützt auf das Bauerntum, bereits das Staatsruder ergriffen.

     Der große Theoretiker des Sumpfes und alle, so mit ihm voller Wohlwollen, aber zugleich voller Pessimismus im Herzen auf den Umsturz in Rußland blicken, hätten vielleicht recht, wenn Rußland auf dem Monde wäre. Rußland ist aber wirtschaftlich wie politisch nur ein Teil Europas. In der blauen Luft der Abstraktion lieben es die marxistischen Theoretiker vom Schlage Kautskys über die Weltwirtschaft, die internationale Entwicklung und ihre Zusammenhänge zu spintisieren. Sobald sie jedoch auf der flachen Erde mit der Nase auf diese Zusammenhänge gestoßen werden, fallen sie unversehens in rein bürgerliche Denkweise zurück: Die Staatsgrenze bildet für sie auch die Grenze sozialer Kräfte und Wirkungen. Rußland tritt für sich als isolierte Welt auf, Deutschland für sich usw.

     Ob Rußland für die soziale Revolution reif sei? Eine höchst geniale Frage dies! Als ob die soziale Revolution eine «nationale» Angelegenheit wäre, die in den Grenzen Rußlands ihre Triebkräfte und ihre Erledigung findet.

     Was von diesen wohlwollenden Gönnern der russischen Umwälzung vergessen wird, ist, daß diese Umwälzung in ihrem besonderen Verlauf nur als ein Produkt nicht der russischen allein, sondern der Weltentwicklung des Kapitalismus und seiner Klassengegensätze möglich war.

     Es ist stets mehr oder weniger Sache des sogen[annten] Zufalls, d.h. der äußerlich verborgenen Zusammenwirkung vieler historischer Umstände, welches Land in jeder zur Revolution reifen Epoche die Initiative und die Führung übernimmt. Im letzten Drittel des 18. und bis Mitte des 19. Jahrhunderts war England, genau wie heute, kapitalistisch viel weiter entwickelt als Frankreich. Und doch hat nicht England, sondern Frankreich die politische Führung Europas in dieser Periode übernommen, ihm durch jede seiner Zuckungen neue Impulse mitgeteilt.

     Jetzt hat Rußland die Initiative der sozialen Erneuerung Europas zum Teil gerade, weil es mit der eigenen sozialen Entwicklung bedeutend im Nachtrab ist. In Rußland vereinigt sich die so lange unter dem Druck des Absolutismus zurückgedämmte revolutionäre Energie der modernen kapitalistischen Klassengegensätze: einerseits mit der gewaltigen Spannung der ungelösten – und im Rahmen des bürgerlichen Staates unlösbaren – Agrarfrage, andererseits mit der reifsten proletarischen Ideologie, die der Westen produziert hat: mit dem wissenschaftlichen Sozialismus.

     Just in dem Moment, wo diese Ideologie in ihrem Wiegenland, in Deutschland, sich als toter Buchstabe ohne jede belebende Wirkung auf das Denken und Fühlen der Massen erweist, lodert sie drüben wie eine Feuersäule in einer der mächtigsten Taten der Weltgeschichte auf und legt so gerade für ihren Grundgedanken ein flammendes Zeugnis ab: für ihre Internationalität.

     Das russische Proletariat ist eben nur als Avantgarde des Weltproletariats aufzufassen, die in ihren Bewegungen den Reifegrad der internationalen Klassengegensätze zum Ausdruck bringt. Es ist Deutschlands Entwicklung, Englands Entwicklung, Frankreichs Entwicklung, was jetzt in Petersburg zum Wort kommt. Darin liegt das Schicksal der russischen Revolution, darin ihr Glück und Ende eingeschlossen. Sie kann lediglich als Prolog der europäischen Revolution des Proletariats ihr Ziel erreichen. Werden hingegen die europäischen, die deutschen Arbeiter dem spannenden Schauspiel weiter wohlwollend zuschauen und nur die Zaungäste spielen, dann darf die russische Sowjetherrschaft nichts anderes gewärtigen als das Geschick der Pariser Kommune.

     Diese inneren Zusammenhänge äußern sich schon jetzt in allerlei sichtbaren Hemmungen der bolschewistischen Politik.

     Nur aus dem verzweifelten Tasten nach irgendwelchen Ansatzpunkten für eine proletarische Aktion in Deutschland kann man es z. B. erklären, wenn auch nicht entschuldigen, daß die Bolschewisten sich zu guter Letzt sogar mit dem deutschen Regierungssozialismus in ein Techtelmechtel eingelassen haben. Daß sie mit den Hindenburg und Hertling verhandeln, mag in ihren Augen nicht mehr als traurige Notwendigkeit erscheinen, die zwar ein grelles Licht auf die deutschen Zustände, aber keinen Schatten auf die Petersburger Machthaber werfe. Daß sie aber die revolutionäre Infizierung der deutschen Massen durch so schmutzige Kanäle wie Parvus-Scheidemann versuchten, sollte auch für sie eine zerfahrene Zweideutigkeit bedeuten, die zu der sonstigen äußersten Sittenstrenge und Unduldsamkeit der Bolschewisten wie die Faust aufs Auge paßt.

     Als viel wichtiger und schwerer kann sich eine andere Schiefheit erweisen: «das Selbstbestimmungsrecht der Nationen», mit dem die Sowjetregierung so viel herumfuchtelt. 

     Es gibt in Wirklichkeit nur eine Form der Selbstbestimmung der Nationen, die kein Hohn auf dieses «Recht» ist: Das ist die Revolution des Proletariats als der Masse des Volkes in jeder Nation. Abgesehen von diesem Fall, im Rahmen des bürgerlichen Staates, ist das «Selbstbestimmungsrecht der Nationen» eine hohle Phrase, die in der Praxis stets die Volksmasse den herrschenden Klassen ausliefert.

     Es ist freilich Aufgabe des revolutionären Proletariats, überall die weitgehendste politische Demokratie und Gleichberechtigung der Nationalitäten durchzuführen, es kann aber am allerwenigsten seine Sorge sein, die Welt mit neugebackenen nationalen Klassenstaaten zu beglücken. An dem Apparat der staatlichen Selbständigkeit nach außen, die mit Demokratie gar nichts zu tun hat, ist nur die Bourgeoisie in jeder Nation interessiert. Ist doch die staatliche Selbständigkeit selbst ein schillerndes Ding, das oft genug zur Bemäntelung des Völkerschlachtens dient.

     So wird auch eine bei den Friedensverhandlungen oder später vollzogene Annexion Polens, Litauens und Kurlands durch die Mittelmächte ganz sicher als ein Wunsch der betreffenden Nationen ausstaffiert werden. Nichts leichter, als in jeder Nation die nötigen «Minister» vom Schlage Kucharzewskis1 und ähnlicher Krapülinskis2 zu finden, die gehorsame Mamelucken des deutschen Militarismus abgeben, weil sie mit seiner Hilfe hoffen dürfen, über das eigene Volk eine skrupellose Klassenherrschaft errichten zu können.

     Die Bolschewisten dürften deshalb im weiteren Verlauf der Dinge mannigfach an den Stacheln dieser von ihnen so unbedacht propagierten Phrase hängenbleiben.

     Ja, sie begehen manche Fehler und werden deren wahrscheinlich noch viel mehr begehen. Aber so pflegt es eben stets bei großen historischen Umwälzungen herzugehen. Tadellos und nach dem Schnürchen verlaufen die Dinge nur in Konventikeln oder auch bei Massenparteien, die ein politisches Scheindasein führen und Scheinkämpfe ausfechten wie die weiland deutsche Sozialdemokratie. Bei den unvergeßlichen Riesendemonstrationen für das preußische Wahlrecht im Treptower Park und im Tiergarten,3 wo wir unter Eugen Ernsts trefflicher Führung ein Dutzend Berliner Schutzleute so genial hinters Licht geführt haben, klappte freilich alles aufs glorreichste. Abgesehen etwa von der Kleinigkeit, daß die Riesenmassen schließlich vor demselben Dutzend berittener Schutzleute, sobald diese blankgezogen hatten, unter Eugen Ernsts Führung derart eiligen Reißaus nahmen, daß die Polizeigäule vor Staubwolken nicht aus dem Prusten kamen. Im übrigen verlief jedoch alles glänzend.

     So tadellos geht es aber gemeiniglich bei wirklichen großen historischen Auseinandersetzungen nicht zu. Die Bolschewisten mögen denn auch sicher noch viele Fehler begehen. Aber auf sie paßt das Wort Lessings von dem edlen Pferd, das nie mehr Funken aus den Steinen schlage, als wenn es stolpere. Und die spätere Geschichte wird über sie sicher urteilen, wie der alte Ziegler am Grabe Lassalles urteilte: «Er war ein Mensch mit tausend Fehlern, ja Lastern, aber er war ein ganzer Mensch.» 

     Wie wird die Geschichte über die russische Arbeiterklasse urteilen?


1 Jan Kucharzewski war, von den deutschen Okkupanten eingesetzt und durch deutsche Bajonette geschützt, zwischen November 1917 und Februar 1918 Ministerpräsident Polens.

2 Figur in Heinrich Heines Gedicht «Zwei Ritter», ein sein Geld vergeudender polnischer Adliger.

3 «Für den 6. März 1910 hatte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands zu einer Großkundgebung für ein demokratisches Wahlrecht, zu dem sogenannten Wahlrechtsspaziergang, aufgerufen. Um die preußischen Behörden irrezuführen, wurde der Treptower Park in Berlin als Versammlungsort angekündigt. Der Berliner Polizeipräsident verbot die Kundgebung und ließ den Treptower Park durch ein starkes Polizeiaufgebot besetzen. Inzwischen versammelten sich aber etwa 150000 Personen im Tiergarten und demonstrierten in Richtung Brandenburger Tor. Berittene Polizei ging mit Säbeln gegen die Demonstranten vor und verletzte einige von ihnen. Am gleichen Tage fanden auch in zahlreichen anderen Städten Preußens und der übrigen Bundesländer machtvolle Demonstrationen für das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht statt.» Spartakusbriefe, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1958, S. 417, FN 1.


Zuerst veröffentlicht in: Spartacus, Nr. 8, Januar 1918.

Hier zitiert nach Paul Levi: Spartakus, Bd. 1, Das Leben bis zur Ermordung des Leo Jogiches, Berlin, S. 445-449.