«Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.»

Auschwitz und das Ringen um die Erinnerung

27. Januar 1945: Sowjetische Ärztinnen und Vertreterinnen  des Roten Kreuzes unter Kinderhäftlingen des Vernichtungslagers Auschwitz kurz nach der Befreiung durch die Rote Armee. picture alliance/B.Fishman/Sputnik/dpa

Von Henning Obens und Anika Taschke.

Der Name Auschwitz ist zur Chiffre des «präzedenzlosen» (Detlef Peukert) staatlich organisierten und industriell geplanten Massenmords an Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti und unzähligen weiteren Menschen geworden, die von der Nazi-Ideologie als «lebensunwert» deklariert wurden. Seit 1996 ist der Tag der Befreiung von Auschwitz offizieller Gedenktag in der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch wissen laut einer aktuellen Umfrage vier von zehn Schüler*innen ab 14 Jahren nichts mit dem Namen Auschwitz anzufangen. Während Politiker der AfD die NS-Verbrechen zu einem «Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte» (Gauland) erklären und eine «geschichtspolitische Wende um 180 Grad» (Höcke) fordern, steigt die Anzahl der Vorfälle von antisemitischer Hetze und gezielten Provokationen in NS-Gedenkstätten. Im vergangenen Jahr gab es in Halle sogar einen antisemitisch, rassistisch und antifeministisch motivierten Terrorangriff.  

Seit dem Kriegsende wurde in – und zwischen – beiden deutschen Gesellschaften über den Umgang mit der NS-Vergangenheit gestritten. Zwischen Relativierung und Leugnung der Dimension der Verbrechen und einer kritischen Auseinandersetzung entwickelte sich in der Bundesrepublik eine Vielzahl an geschichtspolitischen Kontroversen. Dieser Text versucht, mit vielen Auslassungen und komprimiert, wichtige erinnerungspolitische Stationen nachzuzeichnen, die zur Etablierung von Auschwitz als «Erinnerungsort» (Assmann) und zur Etablierung eines Gedenktages an die Befreiung des KZ Auschwitz geführt haben.  
 
Mit den Nürnberger Prozessen sollte bereits 1945 seitens der Alliierten eine Grundlage für eine juristisch und demokratisch fundierte Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen geschaffen werden. Die Anklagen gegen die NS-Haupttäter wurden durch das Internationale Militärtribunal geführt und etablierten den Begriff der «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» als juristischen Tatbestand, der die NS-Vernichtungspolitik als einen «Zivilisationsbruch» (Dan Diner) brandmarkte. Auch wenn gegen diesen Begriff zu argumentieren wäre, dass ohne die Geschichte der westlichen «Zivilisation» die Bedingungen der industriellen Massenvernichtung von Auschwitz nicht zu verstehen sind, sollten die Nürnberger Prozesse Geschichte schreiben. Sie sicherten Zeugenaussagen und zeigten der Welt die Dimensionen der deutschen Verbrechen. Aufgrund von politischen Auseinandersetzungen zwischen den Alliierten wurden die geplanten Folgeprozesse nicht mehr gemeinsam geführt. Für die Bundesregierung wurden mit dem Alliierten Kontrollratsgesetz Nr.10 Instrumentarien für eine weitere juristische Verfolgung der Mörder von Auschwitz geschaffen, jedoch lange nicht genutzt.

In der Vergangenheitspolitik der Regierungen Adenauers dominierten die Amnestierung vieler verurteilter NS-Verbrecher*innen und ein «kollektives Beschweigen» (Hermann Lübbe) der NS-Verbrechen. Bezeichnenderweise war das zweite Gesetz der Regierung Adenauer ein Amnestiegesetz für NS-Täter*innen. Der Antikommunismus wurde als Brückenideologie genutzt und diente als ideologischer Kitt der Nachkriegsjahre für die Westintegration. Doch es gab bereits in den 1950er Jahren geschichtspolitische Kontroversen, etwa um einen neuen Film des «Jud Süß»-Regisseurs Veit Harlan oder die Debatte um den Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, der zur Einrichtung der «Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen» führte.

Die Auseinandersetzung mit den NS-Vernichtungslagern und insbesondere Auschwitz wurde in den frühen 1960er Jahren drängender und gesellschaftlich relevanter. Mit dem Eichmann-Prozess, den Frankfurter Auschwitz-Prozessen und vielen biografischen Recherchen begann eine intensive Auseinandersetzung gegen das Beschweigen der Verbrechen und die bruchlose Integration der Täter*innen in Staat und Gesellschaft. Ausstellungen wie «ungesühnte Nazijustiz» und das Theaterstück «Die Ermittlung» von Peter Weiss führten zu Kontroversen und waren ein Vorbeben der 1968er Jahre und ihrer Auseinandersetzung mit «dem Muff von tausend Jahren». Diese Auseinandersetzung wurde aus der DDR durch Recherchen und Prozesse zur NS-Vergangenheit von prominenten Persönlichkeiten wie Kanzleramtschef Hans Globke und dem Bundesminister für Vertriebene, Theodor Oberländer, unterstützt.

In der DDR hatte bereits früh eine Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und auch dem Antisemitismus begonnen. Filme wie «Die Mörder sind unter uns» (1946) und «Ehe im Schatten» (1947) oder «Affaire Blum» (1948) zeugten von einer frühen Beschäftigung mit diesen Geschehnissen. Eine Auseinandersetzung mit dem Vorwurf der Verdrängung von Antisemitismus in der DDR legte Daniela Dahn jüngst vor. Die DDR verstand sich als antifaschistischer Staat und verurteilte in den Waldheimer Prozessen 1950 insgesamt 3324 Angeklagte wegen NS-Verbrechen, darunter 1327 wegen «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». 33 Todesurteile wurden gefällt. Die NS-Verbrecher*innen wurden binnen weniger Wochen unter juristisch fragwürdigen Bedingungen insgesamt abgeurteilt und der Prozess führte zu Protesten im Ausland. Das rigide Vorgehen der DDR erzeugte keine politische Legitimität für einen harten Umgang mit NS-Verbrechern. Auch in der DDR konnten viele ehemalige NS-Täter*innen unbescholten leben, wenn sie sich politisch dem neuen System anpassten.

Die DDR betonte – nicht zu Unrecht – die Verantwortung für Nationalsozialismus, Krieg und Antisemitismus im Handeln von Wirtschaftsverbänden, bürgerlichen Eliten und dem Junkertum. Durch die Enteignung von NS-Täter*innen in der Bodenreform 1945/46 und der Entmachtung der alten Eliten wurden die Grundbedingungen für eine Wiederholung aus der Perspektive der SED behoben und der Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung sollte angegangen werden. Die Auseinandersetzung mit der Kontinuität von ideologischen Elementen des Nationalsozialismus im Alltag, eine Konfrontation mit den Verbrechen der «ganz gewöhnlichen Deutschen» (Christopher Browning) und die Auseinandersetzung mit der Spezifik und Dimension des Vernichtungs-Antisemitismus blieb dabei jedoch vielfach auf der Strecke. Die Widerstandskämpfer*innen wurden in der DDR staatlich honoriert, während sie in der Bundesrepublik, insbesondere nach dem KPD-Verbot, häufig wieder in Gefängnisse gesteckt wurden.

In der Bundesrepublik wurden die restaurativen Adenauerjahre von der 1968er Bewegung erschüttert. Die Bewegung erzeugte ein Ende des «kollektiven Beschweigens» durch Aufklärung und politische Provokationen. Mit dem Kniefall vor dem Mahnmal für die Opfer des Ghettoaufstands in Warschau zeigte zeigte der Bundeskanzler der neuen sozial-liberalen Koalition Willy Brandt auch auf symbolische Weise seine Demut gegenüber den Opfern des deutschen Vernichtungskrieges. Die zunehmende Auseinandersetzung mit Auschwitz führte in der extremen Rechten zu verschiedenen Versuchen der Holocaustleugnung. Der Nazi Thies Christophersen veröffentlichte 1973 «Die Auschwitzlüge», die durch rechte Zeitungen verbreitet wurde.

Die bundesrepublikanische Gesellschaft wurde durch die Ausstrahlung US-Serie «Holocaust» 1979 stark bewegt. Zwanzig Millionen Zuschauer*innen sahen die vom WDR gekaufte Serie, obwohl sie – aufgrund von Protesten aus der ARD – nur in den dritten Programmen laufen durfte. Der WDR zeigte die Serie trotz zahlreicher Proteste, auch rechtsterroristischer Anschläge wie der Sprengung von Sendemasten. In der Bundesrepublik etablierte sich der Begriff «Holocaust». Der Politologe Peter Reichel sprach davon, dass die Serie den Beginn der Bereitschaft eines «Massenpublikums, sich mit der NS-Vergangenheit überhaupt auseinanderzusetzen» sei. In dieser gesellschaftlichen Atmosphäre wurde 1979 die Verjährungsfrist für Mord abgeschafft und damit die Grundlage von weiteren juristischen Ermittlungen und Anklagen gegenüber den NS-Mörder*innen gelegt.

Mit der Amtsübernahme von Helmut Kohl 1982 unter der Maxime einer «geistig-moralischen Wende» nahmen die geschichtspolitischen Kontroversen zu. Die Versöhnungsgeste mit US-Präsident Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg 1985 wurde zum Eklat, da dort auch SS-Angehörige begraben sind. Der «Historikerstreit» führte zu einer erbitterten Kontroverse um die Relativierung der NS-Verbrechen mit Hinweis auf die Verbrechen Stalins und letztlich auch die Frage der Kriegsschuld Deutschlands. Die extreme Rechte versuchte 1988 mit dem «Leuchter-Report» eine im «Leuchter-Prozess» als Gutachten getarnte pseudowissenschaftliche Version der Auschwitzleugnung zu präsentieren und die Existenz von Vernichtungslagern gänzlich abzustreiten – und nicht nur zu relativieren. Dies wurde auch durch eine Tournee des englischen Holocaustleugners David Irving 1990 weiter verbreitet.

In den 1990er Jahren versuchte die «neue Rechte» sich an der Konstruktion einer «selbstbewussten Nation» und bemühte sich, die deutsche Verantwortung für den Holocaust zu relativieren. Der 60. Jahrestag des Kriegsendes 1995 wurde zu einem weiteren Konfliktpunkt um die Erinnerung. Zahlreiche geschichtspolitische Kontroversen, wie der Streit um die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die erste «Wehrmachtsausstellung» und der Wettbewerb um das Holocaust-Mahnmal bildeten die Kulisse für das «Schwellenjahr der Erinnerungskultur» (Naumann). Das Jahr 1995 bildete den Abschluss eines Erinnerungszyklus, der mit dem 50. Jahrestag der Machtübertragung an Hitler im Januar 1983 begonnen hatte. Seitdem hatten zahlreiche Kontroversen, Buchveröffentlichungen und mediale Ereignisse das öffentliche Bedürfnis nach (NS-)Geschichte verstärkt. Durch die Proklamierung des 27. Januar als Gedenktag durch Bundespräsident Roman Herzog Anfang 1996 wurde eine erinnerungspolitische Lücke geschlossen. Dennoch fällt die Erinnerung an die Opfer der Vernichtungspolitik leichter als die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Täter*innen und die Frage, ob Grundlagen solch eines staatlich organisierten und gesellschaftlich mitgetragenen Mordplans weiterexistieren. Es bleibt zu hoffen, dass Jean Améry sich irrte, als er sagte:

«Aber die solcherart von einem hochzivilisierten Volk mit organisatorischer Verläßlichkeit und nahezu wissenschaftlicher Präzision vollzogene Ermordung von Millionen wird als bedauerlich, doch keineswegs einzigartig zu stehen kommen neben die mörderische Austreibung der Armenier durch die Türken oder die schändlichen Gewaltakte der Kolonialfranzosen. Alles wird untergehen in einem summarischen `Jahrhundert der Barbarei´. Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre im genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer.»