Bewegungen bei den ohnehin Bewegten

Susanne Spindler (RLS NRW) über das Thema Migration auf dem WSF. Ziel der AktivistInnen ist es, die Perspektive von MigrantInnen als Opfer zu ändern und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir es vielmehr mit einem „neuen sozialen Akteur“ zu tun haben.

Migration ist in Lateinamerika ein umfassendes Thema, das keineswegs auf Einwanderung in die USA beschränkt werden kann: 87 Millionen Menschen, die inner- und interkontinental migrieren, beispielsweise 2 Millionen AuswanderInnen aus Ecuador, 1 Millionen nach Argentinien migrierte BolivianerInnen, politisch verfolgte KolumbianerInnen, die in die nächste politische und ökonomische Unsicherheit nach Ecuador flüchten oder es nach Uruguay schaffen, ebenso wie ArbeitsmigrantInnen aus Chile. Täglich versuchen 100 NicaraguanerInnen nach Costa Rica zu kommen, 50 davon schaffen es. Grenzen zwischen Ein- und Auswanderungsländern können nicht klar gezogen werden: In Mexiko beispielsweise findet Ein- und Auswanderung und Transit zugleich statt. Die Behandlung der guatemaltekischen EinwanderInnen nach Mexiko sei mindestens genauso brutal wie die der USA an ihrer Südgrenze, so Joél Magallán, Mitbegründer des Netzwerkes National Coalition for Dignitiy and Amnesty, das für eine Legalisierung der ca. 11 Millionen sans papier in den USA eintritt. Zunehmend schalten sich MigrantInnenselbstorganisationen in das umstrittene Politikum ein. Auch beim WSF initiierten sie einige Treffen zum Thema Migration. Für die Bewegung steht das Recht auf Mobilität, gerechten Lohn, gleiche Rechte und die Anerkennung als Subjekt an oberster Stelle. Die Selbstorganisationen reichten eine Resolution ein, die sich gegen die Kriminalisierung von Migration aussprach und für internationale Standards, die den Schutz von MigrantInnen garantieren; gegen Diskriminierung und für Einwanderungsgesetze, die MigrantInnen respektieren und die Integration in den Arbeitsmarkt erlauben. Ziel der AktivistInnen ist auch, die Perspektive von MigrantInnen als Opfer zu ändern und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir es vielmehr mit einem „neuen sozialen Akteur“ zu tun haben, wie es ein Teilnehmer eines Strategietreffens ausdrückte. Und diesem Akteur misst er ein hohes politisches Potenzial bei: „Estamos aqui y allá y donde más le duele, al imperio“ („wir sind hier und dort und da, wo es ihnen am meisten wehtut, am Imperium“). Das hat auch was mit der Finanzkraft vor allem von ArbeitsmigrantInnen zu tun, die einen großen Teil ihres Geldes in die Heimatländer zurück überweisen. Um dieses Kapital besser zu nutzen, gab es auch findige Ideen: Dora Aguirre Hidalgo von der Asociación Ruminahui Hispano Ecuatoriana in Madrid erzählte von der Idee, eine eigene Bank von und für MigrantInnen zu gründen. Diskutiert wurde auch über nicht vorhandene Strukturen, wie beispielsweise die Frage, wie Hilfestellung dazu gegeben werden kann, dass die Menschen ihre Zielorte erreichen. Stategisch-organisatorische Zusammenhänge gibt es nicht, die Migration selber bleibt noch eine individuelle Leistung, die erst am Zielort durch Anlaufstellen und Kontakte zu den Migrantencommunities im Einwanderungsland erleichtert wird. AkteurInnen Im Vorfeld des WSF, vom 23.01.-25.01 fand ein Forum Migration stattfand. Hauptorganisator war der katholische Servicio Pastoral dos Migrantes in Zusammenarbeit mit beispielsweise dem brasilianischen Movimento de los Trabalhadores Rurais sem terra (MST) oder Grito de los Excluidos, ein auf dem gesamten Kontinent agierendes Netzwerk, das sich für Arbeit und Gerechtigkeit einsetzt. Im Forum Migration gab es - angelehnt an die 11 Panels des WSF - ebenfalls 11 Themenbereiche, die von Diskriminierung und Gewalt über kulturelle Vielfalt hin zur Situation von Flüchtlingen, Illegalisierten und ArbeitsmigrantInnen reichten. Beim WSF selber war dann nicht so besonders viel zum Thema Migration zu finden. Vielleicht war ein Grund, dass eben dieses spezielle Forum Migration stattgefunden hatte, andererseits zeigt sich daran auch, dass sich die Linke mit dem Thema schwer tut und es in vielen Debatten nicht mitdenkt. Die Akteure der Seminare beim WSF waren Organisationen wie die National Alliance of Latin American and Carribean Communities (NALACC), in der mehr als 92 Initiativen und Organisationen zusammengeschlossen sind, gemeinsam mit Enlaces América, die Latino-Selbstorganisationen unterstützen und es einigen AktivistInnen finanziell ermöglichten, das WSF zu besuchen. Die Arbeitszusammenhänge dieser Organisationen beschränken sich längst nicht mehr auch nationale Allianzen, sondern sie agieren transnational. Neben der Zusammenarbeit auf dem amerikanischen Kontinent heißt das auch, dass einige der Selbstorganisationen sowohl im Herkunftsland als auch im Zielland Anlaufstellen haben, wie Ecuador Llactacaru, die in Barcelona und Quito zu finden sind. Die Veranstaltungen der MigrantInnenselbstorganisationen auf dem WSF waren meist politisch-strategischer Art, es ging um vor allem um Vernetzungsarbeit. Ein wichtiges Anliegen ist die Organisation eines Migrationsgipfels, dessen Sinn, Inhalte und Ziele diskutiert wurden. Weitere Workshops anderer, z.B. universitärer Institute, beschäftigten sich mit Diskursen zu Geschlecht und Migration, ihre Funktionalisierung für innenpolitische Entwicklungen oder mit der Rolle von MigrantInnen für Arbeiterstreiks. Auffällig war die Präsenz von Frauen auf den Podien, die selbstverständlicher Teil der Bewegung sind. Im Kontext, dass das WSF ansonsten eher an einer stark männerzentrierten Debatte litt, zeigt dies eine egalitäre Arbeit trotz oder gerade ob der prekären Situation. Frauen treiben Debatten voran, indem sie die Arbeit zwischen Frauenorganisationen und MigrantInnenselbstorganisationen vernetzen. Die Rolle des WSF Beim Thema Migration blieben auf dem WSF die „großen“ Podien aus und viele Themen wurden weder in speziellen Seminaren noch als Querschnitt anderer Themen bearbeitet, einen wirklichen Transport der Thematik in den Gesamtkontext des Forums (falls man von einem solchen überhaupt sprechen kann) blieb schwierig.  Die Arbeit in den kleinen Workshops empfand ich allerdings als produktiv. Langsam scheint sich eine innerkontinentale Vernetzung zu bilden und zu stabilisieren, bei der gemeinsame Aktionsformen erdacht werden. Teilte sich die Debatte auf dem ersten WSF in Porto Alegre noch ein in die Diskussion um Latinos und Latinas in den USA und MigrantInnen auf dem restlichen Kontinent, so entwickelten sich im 2. und 3. Forum partielle Zusammenarbeiten, wie Mónica Santana vom Latinos Workers Center in New York erzählt. Die Idee eines Migrationsgipfels entstand beim 4. WSF in Mumbai. Und trotzdem bleibt Migration noch ein Randthema im Forum. Die stärkere Repräsentation forderten Selbstorganisationen dann auch in ihrer Abschlussresolution, wo es heißt: “That migrant, refugee and displaced peoples’ rights and the issues surrounding these, be acknowledged as a central matter and be reflected as such in the World Social Forum processes and its programmatic agenda and themes.” Und angesichts der globalen Problematik ist das auch dringend nötig. Denn, wie Mónica Santana feststellte: Die Debatte sei eigentlich überall die gleiche. Man könne die Situation von ArbeitsmigrantInnen in Europa durchaus mit der in den USA vergleichen, was Arbeitsbedingungen betrifft und Diskriminierungen und Zwänge, denen die MigrantInnen im Alltag ausgesetzt sind. Von daher bleibt zu hoffen, dass eine Öffnung für das Thema Migration in den Bewegungen stattfindet.