Das Weltsozialforum beginnt.

Ankunft in Porto Alegre (25.1.) Zum fünften Mal findet das Weltsozialforum statt, diesmal wieder in Porto Alegre, Brasilien. Wieder werden sich über einhunderttausend Menschen treffen und beraten, wie sie sich eine bessere Welt vorstellen. Ich bin zum zweiten Mal dabei, zum ersten Mal in Porto Alegre. Die Stadt wirkt überraschend modern und urban. Noch erstaunlicher ist die Sauberkeit. Nirgends  liegt hier Müll herum, die Wände sind kaum beschmiert. Nur selten sind Straßenkinder zu sehen, die an Kreuzungen die Autoscheiben putzen wollen. Teilnehmer unserer Delegation der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Porto Alegre von früher her kennen, meinen, dass das nicht immer so war. Sie meinen, dass es vielleicht ist ein Erfolg der letzten Regierung und ihres Bürgerhaushaltes ist, der anderen weltweit Schule machenden politischen Erfindung aus Porto Alegre. Natürlich interessiert uns zuerst der Ort des künftigen Geschehens. Das Weltsozialforum wird in den stillgelegten Hafenanlagen stattfinden. Kulturelles und organisatorisches Zentrum wird ein ehemaliges Gaswerk sein. Die Veranstaltung wird gigantisch, kaum vorstellbar, wie das alles zusammengehalten werden soll. Fast dreitausend Konferenzen, Seminare und Workshops sollen in über zweihundert Räumen durchgeführt werden. Klar, dass die Stadt und ihr Umland stark an dem Forum interessiert sind. Auch die neue, konservative Regierung will diesen Wirtschaftsfaktor in der Stadt halten. Dennoch wird das Forum in den nächsten Jahren wohl auf andere Kontinente ziehen bzw. in vielen Orten weltweit zugleich stattfinden. So der aktuelle Stand, wie er auf dem traditionellen Treffen der deutschsprachigen Teilnehmer im Goethe-Institut bekannt gegeben wurde. Am Abend setzen wir uns trotz der Müdigkeit nach den insgesamt zwölf, dreizehn Stunden Flug noch in einer typischen Churrasceri zusammen. Man zahlt einen Festpreis, holt sich etwas Salat am Büfett, und dann kommt alle paar Augenblicke ein Kellner mit einem großen Spieß verschiedenster Fleischsorten vorbei, von dem man sich je nach Geschmack und Hunger abschneiden lässt. Das brasilianische Bier schmeckt. Morgen beginnt das Treffen.
Das Weltsozialforum beginnt (26.1.) Vormittag fahren wir nach einer kurzen Gruppenbesprechung zur MST, der großen brasilianischen Bewegung der Landlosen. Diese hatten viele Hoffnungen in den Wahlerfolg des jetzigen Präsidenten Lula vor zwei Jahren gesetzt. Für Brasilien ist das ein riesiges Problem. Obwohl es als fünftgrößtes Land der Welt eigentlich über genug Ländereien für seine 180 Millionen Bewohner verfügt, leben Millionen Familien ohne eigenes Land auf dem Land. Die MST organisiert Landbesetzungen, hält Schulen und fordert vor allem, brachliegende Ländereien der großen Latifundien an die Landlosen zu übergeben. Uns interessiert vor allem ein Problem, das wir auch aus Deutschland gut kennen. Wie verhält man sich zu einer Partei und ihren Führern, die man einst aus guten Gründen unterstützt hat, die aber in der Regierung in so viele scheinbare und tatsächliche Zwänge eingebunden sind, dass sie die ehemaligen Versprechungen nicht halten und berechtigte Forderungen nicht erfüllen will. Die MST, so scheint es, hat sich wieder auf ihren bisherigen Kampf besonnen. Sie sieht ihn jetzt auch als Unterstützung für die Regierung an. Noch, denn die versprochene Landreform verläuft äußerst schleppend. Obwohl der Minister für Agrarreform aus dem Bundesstaat kommt, in dem wir uns befinden, wurde hier noch nicht ein Hektar Land übergeben. Solche Widersprüche sind es, die gerade Brasilien zur Idee des Weltsozialforums brachte. Brasilien ist eines der Länder mit den größten sozialen Differenzen. Langsam bemerken wir das auch in Porto Alegre. Anders als in Mumbai, der Stadt des vorhergehenden Weltsozialforums, liegt das Elend nicht buchstäblich an jeder Ecke auf der Straße. Aber die hohen Zäune um jedes Grundstück und die Gitter vor jeder Tür sind nicht zu übersehen. Ebenso die Kinder, die sorgsam jede Blechbüchse aufsammeln. Das Forum kommt mit erstaunlich wenigen Mülltonnen aus. Am späten Nachmittag beginnt die große Demonstration vom zentralen Marktplatz zum Forumsgelände. Südliches Temperament mischt sich mit revolutionärem Elan. Differenzierungen haben es heute schwer, aber wer wollte es den Menschen angesichts der sonst einheitlich herrschenden Lügen verdenken. Fahnen, Transparente und Losungen bestimmen die Szene, Trommelrhythmen, tanzende Menschen und Kostüme. Die Menschen feiern sich und ihren Kampf. Brasilianische Trotzkisten und Kommunisten liefern sich mit Lautsprechern und Temperament eine kleine Schlacht um die begeisterndsten Losungen – und wir Häuflein linker deutscher Intellektueller dazwischen. Unter einer Brücke, über die wir ziehen, haben ein paar Obdachlose sich neben ihren Habseligkeiten in den Schatten gelagert. Währenddessen ist die Einkaufsmeile von Porto Alegre voll wie gestern auch. Trotz Weltsozialforum, die meisten Menschen müssen ihren Alltag meistern. Dennoch stellen sich am Rande der Demonstrationsstrecke Verkäuferinnen vor ihre Geschäfte und schwingen im Rhythmus der Musik mit. Mancher Kunde reiht sich ein stückweit in den Zug ein. Das Forum hat hier einen guten Klang bei den Leuten. Den hat auch der Name Rosa Luxemburg, nach den vielen jungen Frauen zu urteilen, die sich mit unserer Fahne (und uns) fotografieren wollen. Abends findet noch eine große Kulturveranstaltung statt. Aber da sitze ich über meinem Vortrag für übermorgen und freue mich über den gerade mal freien Internetzugang. Das riesige Veranstaltungsprogramm muss auch noch studiert werden. Heute war der Tag der überbordenden Lebensfreude und des phantasievollen Protestes, ab morgen geht es um klare Analysen, machbare Vorschläge und neue Kontakte.