Mein Tag (28.1.2005)

Gleich nach dem Frühstück mache ich mich auf die Suche nach dem Bürgerhaushalt, der hier partizipativer Haushalt heißt. Immerhin bin ich in der „Hauptstadt des Bürgerhaushaltes“, wie Porto Alegre für sich selbst wirbt. Zu recht. Im Rathaus wird meine Bitte nach Materialien freundlich aufgenommen. Ich kann zwar nur zwei Worte Portugiesisch, aber es sind die beiden entscheidenden: Orçanamento participativo. Später findet sich eine junge Frau, die ein wenig Englisch kann. Mein Anliegen wird wie das aller anderen, die mit mir warten, in angenehm leiser und unaufgeregter Weise erledigt. Ich verlasse das Rathaus mit einigen Broschüren und einer Adresse, bei der ich weitere Informationen bekommen kann. Heute ist dafür  keine Zeit mehr. Schnell noch in die große Markthalle gleich neben dem Rathaus und etwas Mate gekauft. Mate ist eine Art Tee, die aus spezielenden Behältern besonders in dieser Region getrunken wird. Dann über den indianischen Trödelmarkt in der Hoffnung auf ein Mitbringsel für Zuhause, noch eine CD von Gilbert Gil gekauft, dem großen brasilianischen Sänger und jetzigem Kulturminister. Zurück im Hotel ein Kurzinterview mit der Märkischen Allgemeinen, von dem ich nicht weiß, ob jemals etwas erscheint, - und dann ab zum Forum. Als erstes will ich mir Frei Betto anhören, den brasilianischen Befreiungstheologen, der auch durch seine eindringlichen und sensibel-kritischen Gespräche mit Fidel Castro weltbekannt wurde. Da sich mir die Systematik der Zeltanordnung nicht sofort erschließt, komme ich fast eine halbe Stunde zu spät. Zum Glück waren sie so freundlich, auf mich zu warten, so wie auf viele andere, die noch später kommen. Eine Stunde später erklärt jemand ganz charmant, dass die Veranstaltung nicht stattfinden kann. Warum? Er hat es nur auf Portugiesisch gesagt. Da alle ähnlichen Themen örtlich nah beieinander gruppiert sind, finde ich schnell ein anderes interessantes Seminar über neue Bildungsideen, insbesondere über partizipative Bildung, ein  anderes interessantes Modell neben dem des Pisa-Siegers Finnland. Statt der üblichen Vorträge und anschließenden Diskussionen arbeiten wir diesmal in kleinen Gruppen und reden miteinander. Während dessen heizt die Sonne das Zelt immer mehr auf, selbst die Brasilianer stöhnen. Mit dem Hut, den ich mir gegen den Sonnenbrand gekauft habe, wedle ich mir jetzt warme Luft zu. Nach dem Seminar gehe ich dem erlösenden Ruf „Agua! Agua!“ – „Wasser! Wasser“ entgegen, den mir unzählige fliegende Händler mit heiseren kehligen Stimmen zurufe. Wasser! Eisgekühlt! Eine andere Welt mag ja möglich sein, für den Moment wäre ich mit einer kühleren schon zufrieden. Aber gut, konzentrieren wir uns auf das Machbare. Ich gehe zu dem brasilianisch-deutschen Seminar, auf dem ich selbst reden soll. Es geht um konkrete Modelle für eine andere Welt. Vielleicht ist alles etwas breit gestreut, aber am Ende fügen sich die verschiedenen Sichtweisen und Erfahrungen in wunderbarer Weise zusammen. Mein Vortrag fällt ein klein wenig aus dem Rahmen. Ich berichte über neuere naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse, die zeigen, dass für so komplexe Systeme wie unsere Gesellschaft Organisationsformen wie das Weltsozialforum und der Bürgerhaushalt nicht nur demokratischer, humaner und spannender, sondern auch auf Dauer wesentlich effektiver sind. Große Versicherungen und Planungsbüros bedienen sich längst solcher Methoden der Biokybernetik. Wir diskutieren so lange miteinander, bis uns die Nachfolger immer hartnäckiger auf einem Schild bedeuten: „Time over!“ Später begebe ich mich an den Rand des Forums und gerate in einen andächtig spirituellen Auftakt eines Seminars. Das Forum ist wirklich bunt. Es gleicht zuweilen einem beschwingten Tanz, dessen Drehungen einen fort und fort treiben. Wir diskutieren am Strand, während die Sonne in der Lagune vor Porto Alegre versinkt. Oder in einem Straßenkaffee bei einigen Caipirinhas, während noch tief in der Nacht die Stadt lautstark um uns herum pulsiert. Das Leben erscheint plötzlich unheimlich leicht. Doch nachts um drei, als ich endlich zum Schreiben komme, verschwimmt mir der Bildschirm vor den Augen.