Resümee in der Piscina

Wenigstens am letzten Tag will ich mich in der „Piscina“, im Swimmingpool im vierzehnten Stock unseres Hotels von den unerträglichen über dreißig Grad noch nach Mitternacht erfrischen. Eine normale, perverse Situation: Ich liege in der großen Badewanne auf dem Dach, über mir das Kreuz des Südens, auch wenn ich es durch die Wolkenschleier nicht sehen kann. Ich lasse das fórum social mundial 2005 Revue passieren. Was wird bleiben von diesen sechs Tagen in einer anderen Welt? Die manchmal flachen und propagandistischen Reden? Der Eindruck von der großen leidenschaftlichen Zersplitterung der brasilianischen Linken, die die Abschlusskundgebung in viele kleine Kundgebungen verklingen lässt? Das eine, unerträgliche T-Shirt mit Stalin? Der Ärger mit den fehlenden Übersetzungen, die so viele, darunter mich, so häufig ausschlossen und damit eigentlich dem Charakter des Forums zuwider liefen? Nein, vieles von den negativen Seiten ist fast schon vergessen. Nicht, weil ich es gern so hätte, sondern weil anderes viel mächtiger, viel prägender war. Auch die vor Müdigkeit brennenden Augen und die schmerzenden Füße werden sich wohl schnell erholen. Nur der Verstand und das Herz werden noch lange zu tun haben, das alles zu verarbeiten. Bleiben wird der Blick vom Dach der Usina do Gasômetro, dem zum Kulturhaus umgebauten alten Gaswerk direkt am Ufer, dessen Schornstein weithin Orientierung gibt. Das Kulturhaus, ein Kind des Bürgerhaushaltes, war Sitz des Organisationskomitees und nicht nur geographisch Mittelpunkt des Forums. Steht man auf dem Dach, die sich auftürmende Stadt und die Favelas in ihrem Umland im Rücken, geht der Blick über die weiten Wasser der Lagune von Porto Alegre in die Ferne. Nach rechts blickt man auf die alten Hafenanlagen, deren langen, stillgelegten Hallen den ersten vier Schwerpunkten des Forums Raum boten. In einem der davor und dahinter aufgestellten Zelte fand unser Rosa-Luxemburg-Seminar statt, an dem so unglaublich viele junge Leute teilgenommen hatten, dass einige nur von draußen zuhören konnten. Auf der Abschlussdemonstration heute Vormittag sah ich viele, viele Beutel unserer Rosa-Luxemburg-Stiftung. Vielleicht hat nicht nur der Name dieser ermordeten demokratischen Kommunistin, sondern inzwischen auch der unserer Organisation einen guten Klang in Lateinamerika. Vielleicht waren die Beutel auch nur praktisch, vielleicht auch alles zusammen, egal. Die große Delegation der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat sich in die weltweite Suche nach einer anderen, besseren Welt eingebracht und ist angenommen worden. Im Hafenbereich konnte man auch zahlreiche Kunstausstellungen anschauen, hauptsächlich Fotos. An einer Hafenmauer entdeckte ich zuerst das Lula-Plakat, dessen Aussage mich berührt hat. Das bärtige Gesicht ist nur angeschnitten. Offensichtlich sitzt die einstige Hoffnung der Armen Brasiliens, der jetzige Präsident des Landes in einem Flugzeug. Sein ernster, nachdenklicher Blick geht durch zwei Flugzeugfenster in die Weite. Er ist einsam. Er trägt die Verantwortung. So viele haben sich schon enttäuscht abgewandt. Er will Hoffnungen erfüllen. Will er? Kann er? Nach links blickt man vom Gasômeter kilometerweit den Strand entlang, der keiner ist, weil das Wasser zu verschmutzt ist, als dass man darin baden könnte. Überall stehen große weiße Zelte, dazwischen einige Lehmbauten mit Grasdach. Die sind am Computer konstruiert, wie man einigen Anschauungstafeln entnehmen kann. Auf halber Strecke finden sich auch die Wagen der „Nomaden der Galaxis“, die in ihren Veranstaltungen viel mehr miteinander ratschlagen als sich gegenseitig etwas vorzutragen. Weit hinten sieht man die große Bühne, auf der das Eröffnungskonzert mit Gilbert Gil stattfand. Irgendwo auf dem Weg dorthin spielen die vier Leute der Gruppe Vientosur auf ihren lateinamerikanischen Instrumenten und singen mit wunderbar samtenen Stimmen. Sie spielen sehr verschiedene Lieder, sie spielen auch die Internationale, die so lange nicht mehr gehörte. Sie spielen sie so zärtlich, wie ich sie noch nie vernommen habe. Das alte Kampflied von Eugéne Pottier klingt wie ein Liebeslied. Verzaubert bleiben Leute stehen, alte und junge, weiße und schwarze, mandeläugige und blonde. An der Promenadenstraße stehen unzählige Verkaufsbuden und bieten Kitsch, Ramsch und kreatives Kunsthandwerk feil. An der Rückseite der Straße befindet sich das unüberschaubare Zeltlager der Jugend. Manchmal stehen die Zelte so dicht, dass man kaum einen Weg hindurch findet. Vierzigtausend junge Leute sollen es sein, die hier ihre ganz eigene Kultur leben. Alles wirkt noch ungezwungener, lebendiger und spannender, als es so schon auf dem Forum zugeht. Es halten sich aber auch hartnäckig Gerüchte über Überfälle und Vergewaltigungen. In den Veranstaltungszelten wird zu den restlichen sieben Schwerpunkten diskutiert. Hier habe ich neues Wissen gefunden und interessante Menschen getroffen, berühmte und nicht so bekannte. Wir haben Ideen, Erfahrungen und Email-Adressen ausgetauscht. Unser Netz, das die ganze Erde umspannt, ist wieder ein wenig dichter geworden. Gegenüber den Seminaren beim letzten Weltsozialforum in Mumbai waren die Debatten noch viel analytischer, konkreter, breiter und praxisorientierter, jedenfalls in den Veranstaltungen, die ich besucht habe. Man merkt deutlich, dass sich die Idee der partizipativen Demokratie ausbreitet und vertieft. Bei anderen Themen mag das besser oder schlechter gewesen sein, wie das immer so ist. Was wurde nicht alles diskutiert?! Frieden, Demilitarisierung, der Kampf gegen den Krieg und freier Handel. Menschenrechte und Würde! Souveräne Ökonomie für die Menschen! Internationale Demokratie und die Integration der Menschen! Soziale Kämpfe und demokratische Alternativen! Ethisches und Spirituelles. Mögen wir das Forum als links empfinden, tatsächlich ist es viel, viel breiter. Es eint viele, die sonst nebeneinander leben, ja zu oft sogar gegeneinander bekämpfen Leise plätschert das Wasser in der piscina. Was war das, was wir erleben durften? Ein großer Kirchentag, bei dem sich die Menschen ihres Glaubens versichern und beseelt nach Hause gehen? Das auch, aber es war noch viel mehr. Es war ebenso ein anspruchsvoller Kongress und ein Kulturfestival. Es war ein Volksfest, an dem – anders als in Mumbai – teilnehmen konnte, wer wollte. Hier wurde neues Wissen geboren und über Strategien geredet. Es ging um Visionen und praktische Vorschläge. Hier wurden neue Aktionen verabredet, zum Beispiel der globale Aktionstag gegen den Krieg am 19. bzw. 20. Mai. Das Forum lieferte erste Konstruktionspläne und Baustoffe für eine bessere Welt, vor allem jedoch eine tiefe Sehnsucht nach einer Welt, wie wir sie sechs Tage lang in Porto Alegre erahnen durften. Um outro mundo é possível, eine andere Welt ist mögliche. Eine andere Welt ist notwendig. Eine andere Welt ist voller Widersprüche, bunt, aufregend, kompliziert, solidarisch – sie ist lebenswert. Obrigado, danke, companheiros. Obrigado, Porto Alegre. Eine Gruppe junger Leute kommt hoch, um zu plaudern, zu singen und zu lachen. Ich lausche eine Weile und gehe dann meinen Rucksack packen.