LNG: Energiesicherheit oder neue fossile Abhängigkeit?
Fragen und Antworten zum Streit über Flüssiggas-Terminals und die deutsche LNG-Strategie
Mitte Dezember trifft sich die weltweite Gas-Lobby in Berlin im Edelhotel Adlon. Den aus diesem Grund am 8. und 9. Dezember 2024 in der Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung stattfindenden Gas-Gegen-Gipfel von Umweltverbänden und aktivistischen Initiativen haben wir zum Anlass genommen, unser zwei Jahre altes «Kurz & bündig» zur LNG-Problematik zu aktualisieren.
Der Autor Uwe Witt hat Volkswirtschaft studiert und arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referent für Klimaschutz und Strukturwandel.
Was ist LNG?
Flüssigerdgas (Abkürzung LNG für englisch: liquefied natural gas) ist durch starke Komprimierung und Abkühlung auf -161 bis -164 °C verflüssigtes Erdgas. Dafür muss das das Gas speziell aufbereitet werden, damit es fast ausschließlich aus Methan besteht. LNG weist nur etwa ein Sechshundertstel des Volumens von gasförmigem Erdgas auf. So lässt es sich mit Spezial-Tankschiffen transportieren. Am Zielhafen wird das LNG zurück in den gasförmigen Zustand versetzt («regasifiziert») und in Pipelines eingespeist. Beim Verflüssigen und Transport entstehen Energieverluste von 10 bis 25 Prozent. Aufgrund der verlustreichen Umwandlungsschritte und des Transports per Schiff hat LNG-Gas in der Regel höhere Herstellungskosten als Pipelinegas. Allerdings spielten die Entstehungskosten am Gasmarkt in der jüngsten Energiekrise keine Rolle. Die Knappheit an Gas trieb die Preise am Spotmarkt in astronomische Höhen – egal ob LNG oder Pipelinegas. Mittlerweile liegen die Großhandelspreise für Gas deutlich niedriger, aber immer noch höher als vor dem Ukraine-Krieg. Die höheren Erzeugungs- und Transportkosten von LNG dürften dabei eine Rolle spielen.
Woher kommt das Flüssiggas, wer verbraucht es?
LNG deckte im letzten Jahr 35 Prozent des EU-Gasbedarfs. Der wichtigste LNG-Lieferant der EU im ersten Halbjahr 2024 ist die USA (48 Prozent der LNG-Importe), gefolgt von Russland (16 Prozent), Algerien (11 Prozent) und Katar (10 Prozent). Andere Lieferländer sind Nigeria und Norwegen. In selben Zeitraum gingen die LNG-Importe der EU im Vergleich zum Vorjahr um 11 Prozent zurück. Die größten LNG-Importländer Europas waren im ersten Halbjahr 2024 Frankreich (19 Prozent der Gesamtmenge), Spanien (14 Prozent), die Niederlande (14 Prozent), Italien (10 Prozent), die Türkei (9 Prozent), das Vereinigte Königreich (8 Prozent), Belgien (7 Prozent) und Deutschland (5 Prozent).
In Bezug auf die Bundesrepublik ist anzumerken: Deutschland importiert über Pipelines unter anderem Gas aus den Niederlanden und Belgien. Dort wird auch LNG über die dortigen Terminals der Nordseehäfen ins europäische Fernleitungsnetz eingespeist. Insofern liegt der LNG-Anteil Deutschlands deutlich höher als 5 Prozent (dieser Wert bezieht sich eben nur auf die direkten LNG-Importe der Bundesrepublik über die neuen deutschen LNG-Terminals). Der gesamte LNG-Anteil Deutschlands an den EU-Importen lässt sich leider nicht bestimmen, da beim Handel an den Märkten und über die Gas-Zwischen-Speicher Belgiens und den Niederlanden nicht mehr zu unterscheiden ist, ob LNG oder Erdgas die ursprüngliche Quelle des Gases war, welches über das Pipeline-Netz von Westeuropa nach Deutschland fließt.
Warum bezieht Deutschland neuerdings Flüssiggas?
Vor der Invasion Russlands hätte es in Europa weder zusätzliche LNG-Importe noch neue Pipelines gebraucht (etwa über die Nord-Stream-2-Trasse). Als Reaktion auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine hatte die Bundesregierung bereits im März 2022 angekündigt, bis Sommer 2024 den Import russischen Gases schrittweise auf nur noch 10 Prozent des deutschen Verbrauchs zu reduzieren (im Jahr 2021 betrug er 55 Prozent). Damit sollten die starke Gasabhängigkeit Deutschlands von Russland genauso verringert werden wie Einzahlungen in Putins Kriegskasse. Russland seinerseits verringerte die Gaslieferungen nach Europa, und zwar drastisch und schnell, um so auf die Sanktionspolitik des Westens zu reagieren. Nach Deutschland wurden die Lieferungen beispielsweise Anfang September 2022 vollständig eingestellt.
Zukunftsfähige Alternativen zum russischen Gas sind konsequente Energieeinsparung und der forcierte Ausbau Erneuerbarer Energien. Doch weil die letzten Bundesregierungen beides nicht ausreichend vorangetrieben, teils sogar ausgebremst haben, lässt sich das Gros dieses Potentials nur mittelfristig heben. Weil alternatives Pipelinegas, etwa aus Norwegen oder den Niederlanden, nur begrenzt zusätzlich verfügbar ist, setzt die Bundesregierung nun als weitere Lieferquelle auf den Import von LNG per Tankern. Strittig sind nun vor allem der Umfang von LNG-Importen und von zusätzlichen LNG-Terminals an Nord- und Ostsee zum Anlanden des Flüssiggases.
Wie ist die Umwelt- und Klimabilanz von LNG?
LNG kann verflüssigtes konventionelles Erdgas sein. Vor allem wenn es aus den USA und Kanada kommt, besteht es jedoch großenteils aus umweltschädlich gefracktem Erdgas. Dort werden unter hohem Druck Wasser und Chemikalien in tiefe Gesteinsschichten gepresst. So wird Erdgas förderfähig gemacht, welches bei konventioneller Förderung in der Erde bleiben müsste. Deshalb gibt es beispielsweise gegen den LNG-Exporte aus dem Westen Kanadas oder aus dem Küstengebiet von Louisiana entsprechende Proteste von dortigen indigenen Gruppen und Menschenrechtsaktivisten.
Nach Angaben von Greenpeace ist LNG mit hohem Fracking-Anteil aus den USA über sechsmal und aus Australien rund 7,5-mal klimaschädlicher als Pipeline-Gas aus Norwegen.
Was sind LNG-Terminals, welche Arten gibt es und auf welcher gesetzlichen Grundlage werden sie gebaut und betrieben?
Flüssiggas-Tanker landen an LNG-Terminals an, wo das verflüssigte Erdgas wieder gasförmig gemacht und ins landseitige Gasnetz eingespeist wird. Als Alternative zu festen LNG-Terminals sind auch schwimmende verfügbar, so genannte Floating Storage and Regasifaction Unit (FSRU). Momentan sind in der EU 44 LNG-Terminals in Betrieb, weitere sind geplant oder in Bau.
Die Bundesrepublik verfügte bis vor dem Jahr 2022 nicht über LNG-Terminals, auch weil vorhandene LNG-Terminals in den Niederlanden und Belgien, die über Pipelines für Deutschland erreichbar sind, stark unterausgelastet waren (und weiter sind). Im Mai 2022 hat die Bundesregierung mit dem LNG-Beschleunigungsgesetz (LNGG) dennoch eine wahre Flut von Terminal-Standorten an Nord- und Ostsee ausgewiesen und stellte für Bau bzw. Mietkosten knapp drei Milliarden Euro bereit (teils als Bürgschaften). Mit dem LNGG entfallen für schwimmende Terminals sowie die Anbindungspipelines die sonst verpflichtende Umweltverträglichkeitsprüfungen. Ferner sind Beteiligungsprozesse während der Genehmigungsverfahren deutlich verkürzt, was die zivilgesellschaftliche Partizipation erschwert.
Welche Standorte planen Bundesregierung und private Betreiber, was ist in bereits Betrieb?
Nach dem LNGG sind Standorte für insgesamt acht schwimmende (FSRU) und drei feste Terminals vorgesehenen. Es handelt sich um Wilhelmshaven, Brunsbüttel, Stade, Mukran und Lubmin. Die FSRU sind «optioniert» oder es wurden vom Bund bereits Charterverträge abgeschlossen, drei davon sind privat finanzierte Anlagen (Deutsche Regas).
Momentan sind bereits vier schwimmende Terminals in Regelbetrieb (vor Wilhelmshaven und Brunsbüttel sowie ein Doppelpack vor Mukran), ein LNG-Schiff liegt derzeit vor Lubmin still. Zwei weitere FSRU sollen diesen Winter an anderen Standorten in Betrieb gehen. Die Inbetriebnahme fester Terminals (momentan zwei konkret in Planung: Brunsbüttel und Stade) ist für 2026/2027 vorgesehen, wobei dafür aber nur ein Teil der FSRU außer Betrieb gehen soll. Die drei schwimmenden Terminals in Mukran und Wilhelmshaven würden dann laut Bundesregierung noch Jahre weiterbetrieben.
Brauchen wir so viel LNG-Kapazität?
Umweltverbände kritisieren das Mengengerüst, welches dem LNG-Beschleunigungsgesetz zugrunde liegt, und halten die Planungen für deutlich überdimensioniert. Alleine die sieben wahrscheinlichsten LNG-Projekte würden laut Deutscher Umwelthilfe (DUH) über eine Laufzeit von jeweils zehn Jahren bei FSRU oder bis zum zugelassenen Enddatum bei festen Terminals im Jahr 2043 insgesamt 2,1 Milliarden Tonnen CO2 verursachen. Sie würden damit drei Viertel des deutschen Treibhausgas-Restbudgets aufzehren.
Die Bundesregierung in Person des BMWK-Abteilungsleiters Philipp Steinberg argumentiert, die Gesamtkapazität der bestehenden und konkret geplanten LNG-Terminals betrage nur 35 bis 40 Mrd. Kubikmeter (m3) gegenüber 55 Mrd. m3 zu ersetzender Menge russischen Pipeline-Gases. Das sei ein sinnvoller Mittelweg angesichts sinkenden Gasverbrauchs. Constantin Zerger (DUH) hält dem entgegen, dass weder im vergangenen Winter Gasmangellage geherrscht habe, noch in diesem Winter voraussichtlich eine solche bestehen werde, obwohl bisher nur zwei der FSRU überhaupt nennenswerte Mengen ins deutsche Gasnetz einspeisten.
Überdies würden allein neun der nach LNG-Beschleunigungsgesetz ermöglichten LNG-Terminals bis 2030 eine Kapazität von 64 Mrd. m3 haben. Berücksichtige man auch jene Importmengen, die aus Norwegen, Belgien und den Niederlanden per Pipeline bezogen werden, käme man auf 130 Mrd. m3. Der deutsche Gasverbrauch läge zu dieser Zeit aber voraussichtlich unter 70 Mrd. m3, würden die gesetzlichen Klimaziele eingehalten. Eine Importkapazität zu schaffen, die fast das Doppelte des erwarteten Gasbedarfs betrage, sei so, «als würde man sich aus Angst vor einem Heizungsausfall eine zweite Heizung ins Haus bauen: unnötig, teuer und klimaschädlich», so das Fazit Zergers.
Muss Deutschland nicht seine LNG-Terminals überdimensionieren, um Zentraleuropa im Notfall versorgen zu können, etwa Österreich?
Tatsächlich lassen sich einige ost- und mitteleuropäische Länder aufgrund ihrer Binnenlage noch (teilweise) mit russischem Pipelinegas versorgen - es gibt bekanntlich keinen Erdgasimport-Boykott der EU gegen Russland. Ganz vorn in der Liste der Importeure stand eben noch Österreich. Das Land bezog von Gazprom zirka 10 Mrd. m3 (86 Prozent des Verbrauchs). Russland drehte Österreich aber im November den Gashahn zu, weil die Regierung in Wien gerichtlich unterstützt Schadensersatz von Gazprom eintreiben wollte. Tschechien bezieht aus Russland ungefähr 7 Mrd. m3, die Slowakei 0,5 Mrd. m3 und Ungarn 1 Mrd. m3. Zusammen mit Österreich sind das zirka 18,5 Mrd. m3 – und damit weniger als ein Drittel der geplanten deutschen Überkapazitäten.
Für Österreich zeigen sich aktuell keine schweren Folgen. Das Land hat nicht nur die Speicher gut gefüllt. Es kann für den nächsten Winter auch von italienischer Seite mit Gas beliefert werden. Zudem plant nicht nur Deutschland große Überkapazitäten. Auch andere EU-Länder (unter anderem Belgien, die Niederlande, Frankreich, Polen und die baltischen Staaten) weiten ihre Terminalkapazitäten aus. «Während Deutschland seinen LNG-Ausbau mit der Versorgung von Europa bzw. Osteuropa begründet, tun die Regierungen dieser Länder das auch», ordnet die LNG-Expertin Milena Pressentin auf Anfrage der RLS ein. Es entstehe der Eindruck, dass sich einige EU-Mitgliedstaaten als Reaktion auf eine vermeintliche Gasversorgungskrise zu Erdgas-Hubs entwickeln wollten. «In Summe geht das nicht auf, sondern kreiert massive Überkapazitäten und Fehlinvestitionen», so Pressentin.
Kann der LNG-Boom für die Bundesrepublik neue Abhängigkeiten schaffen?
Die DUH warnt zu recht vor neuen langfristigen Abhängigkeiten infolge des LNG-Booms. So habe die EU mit den USA eine langfristige Vereinbarung zum LNG-Import vereinbart – mit steigenden Mengen und extrem klima- und umweltschädlichem Fracking-Gas. Auch der LNG-Lieferant Katar verlange langfristige Verträge für Lieferungen ab 2026. Der Umweltverband warnt vor einer zuschnappenden fossilen Falle: Neue Gasfelder gehen in die Produktion, das bedeute neue Treibhausgasemissionen und neue langfristige fossile Abhängigkeiten von einem zweifelhaften Regime.
Die Erzählung übrigens, die LNG-Terminals könnten später für grünen Wasserstoff genutzt werden, ist eine Nebelkerze. Die Terminals dürfen nach dem LNG-Beschleunigungsgesetz bis ins Jahr 2043 für reines LNG genutzt werden. Eine Umrüstung auf Wasserstoff ist technisch kaum möglich. Einfacher wäre ein Umrüsten auf wasserstoffbasiertes Ammoniak. Aber auch dies hätte nach einer Fraunhofer-ISE-Studie Zusatzkosten in Höhe von 30 Prozent der ursprünglichen Investitionssumme zur Folge.
Welche Folgen kann der LNG-Boom für die Lieferländer haben, insbesondere im globalen Süden?
Der LNG-Boom hat einen Preis, den vielfach andere bezahlen: Russland ist aufgrund fehlender Infrastruktur nur sehr begrenzt in der Lage, in Europa nicht abgesetztes Erdgas in andere Teile der Welt umzuleiten (im Gegensatz zur Logistik beim Erdöl). Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die zusätzliche europäische Nachfrage nach LNG die globalen Erdgas-Preise nach oben treibt. Darunter litten vor allem in der Energiekrise vor drei Jahren die Menschen in Staaten, die weitaus ärmer sind als die EU-Länder, so etwa Pakistan, Sri Lanka oder Bangladesch. Zudem werden Länder des Globalen Südens, wie Senegal, dazu gedrängt, neue Gasfelder zu erschließen, statt sich den reichlich vorhandenen regenerativen Energien zuzuwenden. Zudem sind überall in den Staaten, die Fracking-Gas fördern, die Umweltwirkungen drastisch, siehe oben, auch in den USA.
Was fordert die Klimabewegung?
Aktuell fordert ein Bündnis von Umweltverbänden und aktivistischen Initiativen anlässlich von «Gaslobby stoppen» den Stopp aller neuen Gasprojekte, in Deutschland und weltweit, keine neue fossile Infrastruktur, keine langfristigen Lieferverträge sowie eine bezahlbare und klimafreundliche Strom- und Wärmeversorgung aus 100 Prozent erneuerbaren Energien für alle.
Die DUH konkretisiert und fordert ein Moratorium für den Ausbau von LNG-Infrastruktur und die Rückabwicklung nicht benötigter LNG-Terminals. Der Ausbau erneuerbarer Energien, von Speichertechnologien und die Steigerung der Energieeffizienz seien bessere Alternativen.
Wie kann der LNG-Verbrauch eingedämmt werden, wie lässt sich Gas sparen?
Der Umstieg auf erneuerbare Energien und eine höhere Energieeffizienz ist der größte Hebel. Im Wärmebereich geht es hier vor allem um die Installation von Wärmepumpen sowie um eine bessere Isolierung von Gebäuden. Auch beim Gaseinsatz im Strombereich lässt sich Gas einsparen, indem Stromspeicher Überschüsse von Ökostrom in jene Zeiten überführen, in denen Wind und Sonne zu wenig zur Stromerzeugung beitragen können. Hier laufen heute oft Gaskraftwerke. In solchen Spitzenzeiten kann zudem auch Biogas an Stelle von fossilem Gas einspringen – wenn es nicht wie heute sinnlos in Grundlast verfeuert wird.