Der Titel stammt aus Christa Wolfs Buch «Kindheitsmuster» und behandelt Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen nach 1945 aus dem Osten, wo sie oft seit Generationen gelebt hatten. Es war lange ein heikles Thema, ein Stoff, der wenig gestaltet worden ist. Nicht zuletzt die enorme Schuld Deutschlands ließ selbst Betroffene lange schweigen. Mit der Enkelgeneration gehört dieses dramatische Kapitel zur allgemeinen Erinnerungskultur.
Weniger bekannt ist noch immer, dass - im Gegensatz zu anderen Gebieten wie etwa auf dem Westbalkan - im heutigen Polen die neuen Bewohner auch Vertriebene waren. Polen, das zunächst 1939 zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion in einer dritten polnischen Aufteilung als Nationalstaat verschwand, wurde nach 1945 in einer imperialen Grenzziehung gen Westen verschoben. Karolina Kuszyk verbindet im neuen Buch «In den Häusern der Anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen» beide Enden dieser Geschichte und stellt - oftmals an konkreten Dingen bis hin zu zurückgelassenen Küchengeräten - übergreifende Fragen. Wie lange dauert es, in einer fremden Umgebung heimisch zu werden?
Geschichten von Fliehenden ähneln den Botenberichten des klassischen Dramas: In ihnen verdichten sich planetarische Konflikte, gestern wie heute. Bereits Bertolt Brecht, der vom sowjetischen Wladiwostok im Juni 1941 den Pazifik überquert hatte und im kalifornischen Santa Monica angekommen war, sah «auf dem letzten Boot» eine neue «Landschaft des Exils», so der Titel seines Ankunftsgedichts, in dem er sich und seinesgleichen als «Boten des Unglücks» bezeichnete. Als solche sind Flüchtlinge nicht nur Seismographen einer Epoche, die von jeher durch historische Ereignisse und Unglücke gekennzeichnet ist, sondern sie prägen zunehmend die Erinnerungskulturen in den großen Städten, die dem Turm von Babel ähneln. Oft flieht man dorthin, wohin andere zuvor ausgewandert sind.
Die bisherigen Veranstaltungen der Reihe «Seismographen des Wandels» sind auf unserer Website dokumentiert: Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5 | Teil 6 | Teil 7 | Teil 8.
Oder gilt für Ankommende, was Emine Sevgi Özdamar aus ihrer türkischen Erinnerungen und Gedanken schrieb: «Wenn man von seinem eigenen Land einmal weggegangen ist, dann kommt man in keinem neuen Land mehr an. Dann werden nur manche besonderen Menschen dein Land.»
Und erst die folgenden Generationen werden vielleicht heimisch. Andreas Kossert zeigte in seinem Standardwerk «Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945», dass diese bei ihren deutschen Landsleuten nicht willkommen waren. In seinem letzten Buch «Flucht. Eine Menschheitsgeschichte» stellt er die Flüchtlingsbewegung des frühen 21. Jahrhunderts in einen großen geschichtlichen Zusammenhang und zeigt, welche existenziellen Erfahrungen von Entwurzelung und Anfeindung mit dem Verlust der Heimat einhergehen - und warum es für Geflüchtete und Vertriebene zu allen Zeiten so schwer ist, in der Fremde neue Wurzeln zu schlagen.
Aufgrund der Erfahrungen mit europäischen Entwurzelten nach 1945 ist der UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) gegründet worden. Dieser spricht nun über die aus der Ukraine Fliehenden als der größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. So wird unser historisches Thema tagesaktuell.
- Karolina Kuszyk, Autorin, Übersetzerin, Lehrbeauftragte, diskutiert und liest aus ihrem vielbeachteten Buch «In den Häusern der Anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen» (Ch. Links Verlag).
- Andreas Kossert, Historiker und Autor, diskutiert und liest aus seinem Buch «Flucht. Eine Menschheitsgeschichte.» (Penguin/Random House)
- Achim Engelberg, Publizist und Buchautor, moderiert die Reihe; zuletzt erschien «An den Rändern Europas» (DVA/Penguin Random House) über Geflüchtete gestern und heute.
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Dr. Uwe Sonnenberg
Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik, Rosa-Luxemburg-Stiftung
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