1. Dezember 2022 Diskussion/Vortrag Fackel im Ohr

Seismographen des Wandels VII: Die dritte Generation nach der Shoah

Information

Veranstaltungsort

Rosa-Luxemburg-Stiftung
Bibliothek
Straße der Pariser Kommune 8A
10243 Berlin

Zeit

01.12.2022, 19:00 - 21:00 Uhr

Themenbereiche

Deutsche / Europäische Geschichte, Erinnerungspolitik / Antifaschismus, Migration / Flucht

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Fackel im Ohr
Eine niederländische Lehrerin führt eine Gruppe von geflüchteten Kindern an, die gerade aus einem Schiff in den Tilbury Docks in Essex ausgestiegen sind (1945).

«Fackel im Ohr» ist der Titel des zweiten Bandes der Autobiographie des Literaturnobelpreisträgers Elias Canetti, der den Einfluss Wiens auf sein Leben beschreibt, eine Metropole, die die Vorfahren der Autorin Shelly Kupferberg und der Filmemacherin Ruth Bendl prägte. Der Titel ist eine Anspielung auf Karl Kraus und dessen Zeitung «Die Fackel“, der scharf das heraufkommende Katastrophenzeitalter erkannte. 
Wer überlebte, war zumeist emigriert und geriet zuweilen in andere Diktaturen. So überlebte Elisabeth Markstein, eine Großmutter von Ruth Bendl, den Stalinismus in der Sowjetunion. Später übersetzte sie den «Archipel Gulag» von Alexander Solschenizyn ins Deutsche. Auszüge aus einer filmischer Annäherung an ihre Großeltern zeigt Ruth Bendl und wir unterhalten uns über ihre Vorfahren, die aus dem Exil in ein grundlegend verändertes Wien zurückkehrten. Der Historiker Walter Grab, ein Großvater von Shelly Kupferberg, blieb wie Elias Canetti der deutschen Sprache verbunden, aber kehrte wie dieser in die Länder der Täter nur als Gast zurück. Lange Zeit waren für alle die Mörder noch unter uns und die Opfer blieben verschwiegen. Nach den Hauptkriegsverbrecherprozessen lebten viele Täter nicht nur unbehelligt, sondern starben als betuchte Bürger teilweise mit geraubten Möbeln und Kunstwerken, die bis heute vererbt werden.

Ihren Urgroßonkel porträtiert Shelly Kupferberg im Buch «Isidor. Ein jüdischen Leben.» und betrachtet dabei nicht nur eine Welt von Gestern. Aus der Armut Galiziens stieg Isidor Geller zum Wiener Millionär und Dandy auf, der zu lange die Nazis unterschätzte. Beraubt und gedemütigt stirbt er bevor die Schrecken der Shoah sich voll entfalten.

Beide Autorinnen zählen sich zur dritten Generation nach der Shoah. Sie erfuhren von den Schrecken nicht zuletzt durch Erlebnisse und Erzählungen der geflohenen Überlebenden als «Fackel im Ohr». Nicht zuletzt von dieser dritten Generation hängt ab, wie Erinnerungen und Erfahrungen tradiert werden können und was sie uns sagen angesichts heutiger Gefahren. Es stellen sich Fragen: Wie erzählen von der Shoah? Welche neuen Bereiche sind noch auszuleuchten? Welche Verbindungen gibt es zwischen dem Antisemitismus gestern mit dem von heute?

  • Ruth Bendl, Drehbuchautorin, zeigt Ausschnitte aus ihrem Studentenfilm über ihre Großeltern Heinz und Elisabeth Markstein, berichtet von ihrer Arbeit und liest aus den Erinnerungen von Elisabeth Markstein «Moskau ist viel schöner als Paris» (Milena Verlag).
  • Shelly Kupferberg, Journalistin und Autorin, liest aus «Isidor. Ein jüdisches Leben» (Diogenes) und diskutiert.
  • Achim Engelberg, Publizist, liest aus «An den Rändern Europas» (DVA/Penguiun Random House), diskutiert und moderiert.


Seismographen des Wandels

Geschichten von Fliehenden ähneln den Botenberichten des klassischen Dramas: In ihnen verdichten sich planetarische Konflikte, gestern wie heute. Bereits Bertolt Brecht, der vom sowjetischen Wladiwostok im Juni 1941 den Pazifik überquert hatte und im kalifornischen Santa Monica angekommen war, sah «auf dem letzten Boot» eine neue «Landschaft des Exils», so der Titel seines Ankunftsgedichts, in dem er sich und seinesgleichen als «Boten des Unglücks» bezeichnete. Als solche sind Flüchtlinge nicht nur Seismographen einer Epoche, die von jeher durch historische Ereignisse und Unglücke gekennzeichnet ist, sondern sie prägen zunehmend die Erinnerungskulturen in den großen Städten, die dem Turm von Babel ähneln. Oft flieht man dorthin, wohin andere zuvor ausgewandert sind.

Die bisherigen Veranstaltungen der Reihe «Seismographen des Wandels» sind auf unserer Website dokumentiert: Teil 1Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5 | Teil 6.

Standort

Kontakt

Dr. Uwe Sonnenberg

Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Telefon: +49 30 44310 425