Wie hältst Du`s mit der Revolution, Compañera/o?

Bist Du nun für die bessere Welt oder für das, was sie als solche verkaufen und manchmal Reform nennen? Wie soll das werden? Sollen etwa die Reichen von selbst auf Reichtum und Macht verzichten? Und: Es ist doch recht einfach über Reformen zu sprechen, wenn man aus einem reichen Land kommt. Hier in Lateinamerika sieht es anders aus, hier geht es um Wasser, um den Zugang zu Strom, um die Ausgrenzung und Vertreibung indigener Völker. Und hatte Marx nicht etwas ganz anderes geschrieben als er über Emanzipation schrieb? Heiß war es im Zelt und das nicht nur, weil die pralle Sonne auf dem Zeltdach die Temperaturen hoch steigen ließ. Heiß war es, weil über 700 Menschen nach den vier Vorträgen zu Reform oder Revolution aufgewühlt waren angesichts der Antworten, die so sperrig waren und anders klangen als: Viva la Revolución!  Wie schön wäre es, wenn die Antworten so einfach wären. Aber sie sind es nicht und deshalb macht es ihnen auch Emir Sader, einer der bekanntesten Intellektuellen hier in Brasilien, den man kennt, schätzt und stürmisch begrüßt nicht leicht. Er versucht, die so einfache und doch so schwierige Frage “Reform oder Revolution“ zu beantworten: wir wollen Revolutionen und wir wollen Reformen. Wir wollen aber vor allem eine andere Welt, die beides brauchen wird, weil nur so ein Prozess der Transformation durchsetzbar ist. Gebraucht wird dazu ein neues Subjekt im Kampf gegen die neoliberale, neoimperiale Welt. Der Kampf muss antikapitalistisch sein, denn es geht gegen die Hegemonie des Kapitals, die komplexer ist, als wir es in der Vergangenheit oft beschrieben haben. Und dieser Kampf muss verbunden sein mit neuen Organisationsformen, mit einer neuen Führung, mit einer anderen Kultur. Der Kampf muss demokratisch sein, weil er nur so zur Demokratisierung der Gesellschaft, auch zur Demokratisierung des Staates führt. Und wir müssen neu nachdenken über unsere Theorien. Klassenkampf  ist noch immer wichtig, aber das Proletariat hat sich verändert. Es ist ein neues Proletariat entstanden, mit jenen, die sozial, politisch und kulturell völlig ausgeschlossen sind. Und sie – die Ausgeschlossenen sind nicht unter uns – sagt Emir Sader. Wir erreichen sie nicht, die sozialen Bewegungen nicht und auch nicht die politischen Parteien. Das ist ein Problem, erklärt er. Sie sind nicht organisiert, sie sprechen nicht für sich selbst, sondern sind konvertiert in Nichtsubjekte. Wie aber kann man sie so erreichen, dass sie sich ihrer Diskriminierung und Instrumentalisierung bewusst werden, dass sie selbst sich zu einem neuen emanzipativen Subjekt entwickeln und damit eine der Voraussetzungen menschlicher Emanzipation schaffen. Conny Hildebrandt nennt in ihrem Beitrag in Bezug auf Marx zwei weitere: die Aufhebung des Privateigentums als Aneignung menschlichen Lebens und hohe Produktivität. Notwendig ist die Suche nach neuen Strategien alternativer Ökonomie. Solidarische Ökonomie muss auch einer Produktionsweise gerecht werden, bei der hohe Produktivität mit Demokratie und sozialem Fortschritt unmittelbar verbunden ist. Deshalb ist auch die Frage nach dem Zugang zur Erwerbsarbeit von grundlegender Bedeutung. Sie entscheidet letztlich über Möglichkeiten politischer, sozialer und wirtschaftlicher Partizipation, über Integration, Verletzbarkeit, Marginalisierung oder Exklusion. Diesen Gedanken weiterführend nennt sie vier Gruppen eines neuen möglichen Blocks der Subalternen, der politisch bisher nicht wirksam ist: 1. die Fraktion der lohnabhängigen Mittelschichten, der aristokratischen Facharbeiterschichten, einen Teil der Informationsarbeiter mit hohen Qualifikationen – den Gewinnern des Postfordismus,  2. der industrielle Kern der Arbeiterklasse, der zunehmend geprägt wird durch  Deregulierung und Flexibilisierung von Arbeit. Als 3. Gruppe nennt sie das sich entwickelnde Dienstleistungsproletariat mit unterqualifizierten, schlecht bezahlten, oft nur teilzeitbeschäftigten Angestellten. Die 4. Gruppe die Underclass, die sozial, kulturell und politisch Ausgrenzten. Sie sind nicht politisiert, kaum zu erreichen, oft resigniert wie die in Brasilien noch fast wie Sklaven lebenden 300.000 Menschen. Wie aber ist unter diesen Bedingungen der Ausdifferenzierung, sozialen und kulturellen Polarisierung innerhalb der Subalternen die Herausbildung eines neuen, eines emanzipativen Subjekts möglich. Lässt sich unter diesen Bedingungen ein neuer historischer Block schaffen und was hält ihn zusammen? Ist es notwendig, Gegenhegemonien aufzubauen oder besteht die eigentliche Aufgabe darin, hegemoniefreie Räume und Zusammenhänge zu schaffen, weil nur so Macht- und Herrschaftsverhältnisse wirklich in Frage gestellt werden können. Dieser Ansatz wird vor allem im Beitrag von Uli Brand ausgeführt. Er verweist auf die Differenzen des Diskurses: Gegen- oder Antihegemonie. Was aber bedeutet es, wenn von Hegemonie, und vor allem neoliberaler Hegemonie gesprochen wird? Er benennt einige Faktoren wie die sich neu herausbildende neoimperiale Herrschaft, wie sie auch in der europäischen Verfassung festgeschrieben wird, die Tendenz der Kommodifizierung, der Privatisierung des Nahverkehrs oder des Wassers verbunden mit neuen Formen der Repression. Neu nachzudenken ist auch über die Frage der Macht und über die Rolle des Staates. Ist er nun Bollwerk gegen die sich weiter durchsetzende neoliberale Politik oder Teil von ihr oder beides? Wichtig ist auch, in Europa Produktivität als soziale Produktivität zu verstehen, also in den Diskursen einen anderen Begriff von Produktivität zu entwickeln. Das Kapital ist nicht produktiv, wenn es Menschen und Natur zerstört. Um dieser Zerstörung Einhalt zu gebieten brauchen wir gerade auch in Europa rebellische Subjekte, erklärt Uli Brand. Subjekte, die in den Bewegungen verwurzelt sind aus ihrem Alltag heraus Strategien gegen den Neoliberalismus entwickeln. Auch Edgardo Lander beschreibt die selbstzerstörerischen Potentiale des kapitalistischen Systems. 30 % der Ressourcen werden vergeudet, darunter das Trinkwasser. Die ökologische Krise bedroht die Natur, heute vor allem sichtbar als Zerstörung der Biodiversität. Zu den Ressourcen der Menschen gehört ebenso ihr Wissen um die Welt, die das Wissen um die Natur, das Wissen der Völker, ihre Traditionen, Erfahrungen und Gemeinschaften einschließt. Alternativen sind möglich, wenn sich das Wissen um diese Welt aus den unzähligen Quellen speist und sich ein neues kollektives Wissen herausbildet. Wissen hat dabei vielfältige Formen und so brauchen wir auch vielfältige Formen und Räume, es sichtbar zu machen, sagt Lander. Und er sagt: Wir sollen, wir müssen die Revolution neu denken. Gut Companero. Und wie denkt man sie nun, die Revolution? - Das ist so, Companero, je mehr man über sie nachdenkt, desto mehr fächert sie sich auf und es finden sich immer mehr Fragen. Zu einigen haben wir dazu in unserem Buch „Reform oder Revolution“ geschrieben. Nimm es mit und lass uns Deine Fragen hier, damit auch wir weiterdenken und weiterschreiben. Nach der Veranstaltung möchten viele dieses Buch mitnehmen. Und sie möchten es mit den Unterschriften der Autoren. Vielleicht lesen sie ja einige Texte mit dem Klang ihrer eigenen Stimmen.