News | Partizipation / Bürgerrechte - Türkei «Unsere Abgeordneten sitzen seit acht Jahren im Gefängnis»

Die Unterdrückung der demokratischen Opposition in der Türkei. Interview mit Sibel Yiğitalp

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Das Hochsicherheitsgefängnis in Kocaeli, in dem viele politische Gefangene der HDP inhaftiert sind. Bild aus der Dokumentation «Tearing Walls Down»

Der Dokumentarfilm «Tearing Walls Down» thematisiert die Repressionen gegen die demokratisch gewählten Politiker*innen Aysel Tugluk, Figen Yüksekdag und Gültan Kışanak in der Türkei. Deren Schicksale stehen exemplarisch für die Repressionen gegen oppositionelle Stimmen in der Türkei. Wie ist die aktuelle Situation von Aysel, Figen und Gültan?

Sibel Yiğitalp war vom 2015 bis 2018 für zwei Legislaturperioden Abgeordnete der HDP für Diyarbakır in der Großen Nationalversammlung der Türkei. Sie wirkt mit in der Dokumentation «Tearing Walls Down» von Serif Çiçek und Hebun Polat. Adil Demirci führte das Interview und übernahm die Übersetzung.

Zunächst möchte ich mich bei allen am Film beteiligten Personen bedanken, da sie mit dem Film auf die Situation in den Gefängnissen in der Türkei aufmerksam machen und damit für uns Menschen im Exil eine Stimme und ein Sprachrohr sind.

Gesundheitlich geht es Aysel leider nicht gut. Sie leidet an einer schweren Demenzkrankheit, die sich durch die Situation in den Gefängnissen weiter verschlechtert hat. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich jemals wieder ganz erholen wird. Die laufenden Behandlungen zielen darauf ab, eine Verschlimmerung ihres Gesundheitszustands zu verhindern.

Unsere Abgeordneten Figen und Gültan befinden sich bereits seit fast acht Jahren im Gefängnis, obwohl sie ihre Haftstrafe abgesessen haben. Ihre Fälle verdeutlichen, dass die geltende Verfassung nicht mehr respektiert wird und dass ein Staatsystem existiert, in dem Gesetze keine Bedeutung mehr zu haben scheinen. Neben Figen und Gültan sind derzeit viele Genoss*innen in ähnlichen Situationen inhaftiert, was auf eine besorgniserregende Entwicklung hindeutet.

Vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr waren die Hoffnungen der Opposition hoch, Recep Tayyip Erdogan und seine Regierung abzuwählen. Auch in Deutschland hatten viele auf einen Wechsel gehofft. Wie ist der erneute Erfolg Erdogans zu erklären? Gab es strategische Fehler, die die Opposition im Vorfeld der Wahlen gemacht hat?

Meiner Ansicht nach spielte die «Halkların Demokratik Partisi» (HDP) eine entscheidende Rolle bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Sie verfügt über eine Wählerbasis von sechs Millionen Menschen und setzt sich aktiv für die Demokratisierung der Türkei ein. Dennoch hat das größten Oppositionsbündnisses das «Bündnis der Nationen» oder der «Sechser-Tisch», wie wir es nennen, wenig Beachtung auf die sozialen Forderungen und Demokratisierungsvorschläge der HDP gelegt. Auch war die HDP nicht teil des Bündnisses.

Ein Hauptproblem des "Sechser Tisches" war, dass er nicht über die notwendige Transparenz und Organisationsfähigkeit verfügte, um den Prozess eines Regierungswechsels effektiv voranzutreiben. Es herrschte großes Misstrauen gegenüber diesem Bündnis und somit auch gegenüber dem Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu. Insbesondere das Treffen von Kılıçdaroğlu mit der rassistischen «Zafer Partisi» von Ümit Özdag führte zu einer ernsthaften Vertrauenskrise.
Ein entscheidender Fehler der Opposition war auch, dass sie grundlegende Fragen, insbesondere bezüglich der Kurd*innen und anderer Minderheiten, nicht angemessen ansprachen und keine klaren Änderungsvorschläge zur aktuellen Politik machten. Der «Sechser-Tisch» schützte die Politik des Nationalstaates in hohem Maße und wollte keinen grundlegenden Politikwechsel. Dies führte dazu, dass die AKP erneut an die Macht kam.

Ein weiterer schwerwiegender Fehler der Opposition war das Fehlen einer klaren Anti-Kriegshaltung und eine unzureichende Standhaftigkeit gegenüber der «Zwangsverwaltungspolitik» der Regierung, mit der die Absetzung gewählter Bürgermeister*innen nach den letzten Kommunalwahlen gemeint ist. Dadurch entstand ein erhebliches Vertrauensproblem bei den Wähler*innen. Die AKP-Regierung nutzte alle verfügbaren Machtmittel zu ihren Gunsten, einschließlich staatlicher Repression gegenüber den Kurd*innen, wie beispielsweise Verhaftungswellen.

Am 31.03.2024 stehen Kommunalwahlen in der Türkei an. Welche Bedeutung haben sie? Welche Strategien verfolgt die Opposition und insbesondere die Nachfolgepartei der HDP, die DEM-Partei bei den anstehenden Wahlen?

Die bevorstehenden Kommunalwahlen am 31. März 2024 in der Türkei sind für die DEM-Partei von besonderer Bedeutung. Unsere Vorbereitungen für diese Wahlen sind äußerst ernsthaft, und wir verfolgen dabei die Politik des «dritten Wegs». Deren Hauptziel besteht darin, die Kommunalverwaltungen zu stärken, unser Mitspracherecht zu festigen und einen eigenen Haushalt zu führen. Durch diese Maßnahmen möchten wir ein starkes Zeichen gegen das aktuelle türkische Staatssystem setzen. Bereits bei den Kommunalwahlen von 2019 haben wir als HDP unsere eigenen Kandidat:innen aufgestellt und uns aktiv an den Entscheidungsmechanismen der Kommunalverwaltungen beteiligt.

Allerdings reagierte die AKP-Regierung auf unseren Erfolg mit der sogenannten «Zwangsverwaltungspolitik». Insbesondere in den kurdischen Gebieten, wo sie keine Wahlerfolge erzielen konnten, wurden unsere gewählten Bürgermeister*innen abgesetzt. Die «Zwangsverwalter» brachten den Menschen in diesen Gebieten wenig Nutzen und setzten die Politik der AKP-Regierung fort, was zu erheblichem Unmut führte.
Gerade jetzt betonen wir vehement die Schädlichkeit der Zwangsverwaltung und der Regierungspolitik in unseren Kommunen. Unsere politische Ausrichtung bleibt die «demokratische Autonomie», und wir setzen uns dafür ein, die Gemeindeautonomie zu stärken und die Interessen unserer Gemeinden effektiv zu vertreten.