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Verfassungsreform in Jujuy erleichtert extraktivistische Tätigkeiten transnationaler Konzerne

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Foto: Susi Maresca (Marcha / Latfem)

In Argentinien hat die Regionalregierung von Jujuy jüngst eine Verfassungsreform verabschiedet, die das Ziel verfolgt, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, um die sozialen Proteste zu kriminalisieren und den Abbau von Lithium durch transnationale Unternehmen in der Region zu erleichtern.

Gegen die Regionalregierung und ihre Vorhaben formierte sich ein breiter Protest. Eine wichtige Stütze dieses Protestes war zum einen die indigene Bewegung, die die fehlende Transparenz und Beteiligung der Bevölkerung bei der Verfassungsreform kritisierte. Zum anderen beteiligten sich Lehrer*innen, die vor dem Hintergrund von Inflation und Wirtschaftskrise mit einem 15tägigen Streik gegen ihre niedrigen Löhne (die niedrigsten in ganz Argentinien mit weniger als 150 US-Dollar im Monat) protestierten. Auch Angestellte im öffentlichen Dienst, Bergbauarbeiter*innen und Bankangestellte solidarisierten sich mit den Protesten und bildeten damit eine sektorenübergreifende Widerstandsbewegung – quasi einen Volksaufstand – gegen die Enteignung und Unterdrückung der Bevölkerung.

Dr. Melisa Argento ist Mitglied der Studiengruppe für Geopolitik und Gemeingüter am Nationalen Wissenschaftlichen und Technischen Forschungsrat (CONICET) und des Aktionskollektivs für ökosoziale Gerechtigkeit (CAJE). 

Florencia Puente M.A. ist Projektkoordinatorin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires. Sie ist Mitglied im Red Energía y Poder Popular en América Latina (Netzwerk für Energie und Basismacht in Lateinamerika).

Lithiumabbau in Argentinien: dominiert durch transnationale Konzerne

In den letzten Jahren wurde der Lithiumabbau in Argentinien immer weiter forciert. Derzeit gibt es zwischen 38 und 50 Projekte zur Lithiumgewinnung, die unterschiedlich weit fortgeschritten sind. Einige sind noch in der Erkundung von Rohstoffvorkommen, andere bereiten bereits den Abbau vor. Insgesamt sind erst drei Minen in Betrieb: Zwei in der Provinz Jujuy und eine in Catamarca. In Jujuy baut ein Konsortium aus internationalen Konzernen im «Salar de Olaroz» Lithium ab. Beteiligt sind der australische Konzern Allkem (ehemals Orocobre), der japanische Autokonzern Toyota sowie mit einem Anteil von 8,5% auch der landeseigene Konzern JEMSE. In Catamarca ist es das US-Unternehmen Livent, das seit 25 Jahren die Lithiummine Fénix betreibt. Nun haben die Firmen Allkem und Livent vor wenigen Monaten ihre Fusionierung bekannt gegeben. Unter dem Namen New-co wird so einer der größten Player auf dem Lithiummarkt entstehen und so den Prozess der Korporatisierung und des extraktivistischen Drucks weiter akzentuieren. Die Dominanz der Konzerne ist oft so groß, dass nationale und regionale Regierungen in eine Abhängigkeit geraten und kaum Spielräume für souveränes politischen Handeln oder zumindest für eine schärfere Steuer- und Abgabenpolitik bleiben.

Der dritte Lithium-Abbau in Jujuy hat vor kurzem seinen Betrieb in den Salzgebieten von Olaroz-Cauchari aufgenommen. Auch hier kontrolliert mit der chinesisch-kanadischen Frima Minera Exar transnationales Kapital den Rohstoffabbau.

Die Schwäche der staatlichen Kontrolle zeigt sich in zwei zentralen Aspekten. Zum einen in der mangelnden Regulierung der sozialen und ökologischen Folgen des Abbaus. In Jujuy wird das Lithium mit Hilfe von Verdampfung gewonnen; einer Technik, die nicht nur auf dem massiven Einsatz von Chemikalien bei der Aufbereitung des Lithiums beruht, sondern auch auf einem enormen Wasserverbrauch – und das im anfälligen Ökosystem der wüstenhaften Hochebene von Puna de Atacama.

Der zweite Aspekt ist die mangelnde Beteiligung des argentinischen Staates an den Deviseneinnahmen aus dem Lithiumabbau. Dabei wären diese für die Bekämpfung der staatlichen Schuldenkrise besonders wertvoll. Gerade einmal drei Prozent der Gewinne aus dem Rohstoffabbau führen die Unternehmen als Konzessionsgebühr ab. Dabei legen die Unternehmen die Zahlen aus ihrem eigenen Geschäftsbericht zugrunde, der nicht staatlich überprüft wird.  Außerdem ermöglicht das Bergbauinvestitionsgesetz die Befreiung von dieser Abgabe so wie eine Rückerstattung von etwa 1,5%. Auch die Exportsteuer auf Lithium ist besonders niedrig. Sie liegt mit 4,5% deutlich unter dem Satz für Sojabohnen, der in Argentinien rund 35% beträgt.  

Argentinien ist der viergrößte Exporteur von Lithium. Gemeinsam mit Chile und Bolivien bildet es das sogenannte «Lithiumdreieck», das 58% der heute bekannten weltweiten Lithiumreserven auf sich vereint. Dieser Anteil kann sich etwas verringern, je nachdem wie sich die Erschließung der Vorkommen in Sonora (Mexiko) und in Puno (Peru) entwickelt.

Grüner Extraktivismus für die Energiewende im Globalen Norden

Das große extraktivistische Interesse an diesen Gebieten liegt nicht nur am Lithium. Es geht auch um Kobalt, Mangan, Seltene Erden oder Kupfer; Rohstoffe, die durch die Transformation der Automobilindustrie hin zur Elektromobilität besonders in China, der EU und den USA gefragt sind. Lateinamerika – und nicht nur das Lithiumdreieck – wird zum zentralen Lieferanten von «kritischen» Rohstoffen für die Energiewende des Globalen Nordens, so wie es auch das europäische Gesetz zu kritischen Rohstoffen (Critical Raw Material Act), das die EU-Kommission vorgelegt hat, andeutet.

Das Wachstum des Bergbausektors in der argentinischen Provinz Jujuy ist ein Paradebeispiel für den Ausbau eines Extraktivismus, der sich an den Bedürfnissen der Energiewende des Globalen Nordens orientiert. 2015 erklärte der Gouverneur der Region, Gerardo Morales, Jujuy zu einer «Grünen Provinz», eine Vorreiterregion beim Ausbau der Lithiumförderung und erneuerbarer Energien. Ein Beispiel dafür ist der durch chinesisches Kapital finanzierte Bau von Cauchari 1, 2 und 3, einem der größten Solarparks der Welt.

Mit der extraktivistischen Logik geht die systematische Verletzung der Rechte indigener Gemeinschaften einher: Das Recht auf freie und informierte Vorabkonsultation vor der Genehmigung solcher Anlagen wird missachtet, indigene Gemeinschaften werden vertrieben und/oder ihre Landtitel nicht anerkannt. Dazu kommt die Zerschlagung der sozialen Bewegung mit der größten politischen Mobilisierungskraft in der Region, der Organización Barrial Túpac Amaru. Als unmissverständliches Signal für diesen Plan gilt die Verhaftung der Nachbarschafts- und Gewerkschaftsaktivistin Milagros Sala nur einen Tag nach Amtsantritt von Gerardo Morales als Gouverneur von Jujuy im Jahr 2016.

Der Widerstand gegen den Lithiumabbau, der sich bereits seit 2011 in der Region formierte, war sehr unterschiedlich erfolgreich: In Olaroz-Cauchari, wo aktuell zwei neue Lithiumförderungen in Betrieb gegangen sind, hat sich der Protest weitestgehend aufgelöst, während sich in Salinas Grandes und Laguna Guayatayoc Widerstandsbewegungen formierten, die bis heute aktiv sind. Doch auch in diesen Gebieten versucht nationales und internationales Kapital, extraktivistische Projekte durchzusetzen. Im Jahr 2019 startete das landeseigene Unternehmen JEMSE einen neuen Versuch, Land in Salinas Grandes und in Laguna Guayatayoc zu kaufen. Die lokalen Gemeinschaften blockierten daraufhin mehrere Tage lang zentrale Verbindungsstraßen.

Letztes Jahr verkaufte die Regierung der Provinz Jujuy schließlich 11.000 Hektar an transnationale Unternehmen (darunter der Ölkonzern Pan American Energy) für gerade einmal drei Millionen Dollar und zehn Prozent der Konzernaktien.

Die neue Verfassungsreform: verfassungswidrig und rückschrittlich

In den letzten Wochen haben sich unter dem Slogan «Hoch mit den Löhnen, weg mit der Reform» verschiedenste Akteure in ihrem Widerstand zusammengefunden. Gemeinsam problematisierten sie die rückschrittlichsten Absätze der neuen Verfassung: Das Verbot von Straßenblockaden (Artikel 67), die Verwaltung von Gemeingütern wie Wasser und Rohstoffen durch Unternehmen sowie die Passagen zum Land in Staatsbesitz (Artikel 74). Außerdem sollen die Rechte von Indigenen Gemeinschaften eingeschränkt werden. Stattdessen soll die Exekutive, also die Regierung der Provinz Jujuy, deutlich mehr Befugnisse erhalten.

Dabei verfügt die Regionalregierung bereits seit einer Reform im Jahr 1994 über die Bodenschätze in Jujuy, obwohl dies dem Recht der Nationalen Verfassung Argentiniens widerspricht. Dort ist in Artikel 75 (Absatz 17) festgehalten, dass die indigenen Gemeinschaften ein ursprüngliches Recht auf das Gebiet haben, in dem sie leben. Dazu kommen internationale Abkommen wie die ILO-Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, die die Rechte von Indigenen über ihr Gebiet garantiert.

Doch nun hebelt die neue Verfassungsreform von Jujuy die Paragraphen, die bisher die Indigenen Völker schützten, aus. Entscheidend ist dabei der neue Artikel 50, der festlegt, dass die Anerkennung des rechtlichen Status als «Indigene Gemeinschaft», die Anerkennung ihrer daraus hervorgehenden Rechte sowie die Anerkennung ihres Landbesitzes fortan in die alleinige Zuständigkeit der Regionalverwaltung von Jujuy fällt – also derselben Institution, die die Rechte indigener Gemeinschaften bereits in den letzten dreizehn Jahren verletzt hat. Ergänzend dazu erleichtert der neue Artikel 36 die Vertreibung von Dörfern in Gebieten, in denen es Lithium oder andere Rohstoffe gibt.

Im Prinzip schafft die Verfassungsreform – die eigentlich verfassungswidrig ist – einen auf die Bedürfnisse der Konzerne zugeschnittenen Rechtsrahmen. Außerdem legalisiert sie nachträglich die private Landnahme, die Übernutzung des Wassers, die Zerstörung der Ökosysteme wie der Salzwüsten oder der andinen Feuchtgebiete sowie die Verletzung sozialer, indigener und ökologischer Rechte der letzten Jahre.

Mit der Reform geht die Zentralisierung von Macht in der Exekutive sowie die Abschaffung von Zwischenwahlen einher; quasi ein Umbau des politischen Systems auf Regionalebene.

Die Verabschiedung der Verfassungsreform verlief außerdem auch unter formellen Gesichtspunkten äußerst zweifelhaft. Die beiden größten Parteien bildeten einen Pakt und arbeiteten die Reform in wenigen Wochen hinter verschlossenen Türen unter Ausschluss der restlichen Abgeordneten und der Bevölkerung aus.

Auch der Zeitraum von 90 Tagen, in dem die Zivilgesellschaft durch öffentliche Anhörungen beteiligt werden sollte, wurde nicht eingehalten. Nach nur zwei Wochen wurde die öffentliche Debatte für beendet erklärt und die Reform zur Abstimmung freigegeben. Die neue Verfassung wurde parallel zur Unterdrückung und zur blutigen Niederschlagung der Proteste verabschiedet. 

Die Protestbewegung macht Jujuy zu einem Beispiel für Widerstand und Würde. Ihr Rückgrat sind die Lehrer*innen und die indigenen Gemeinschaften, die auch den «tercer Malón de la Paz», einen Protestmarsch bis zur Hauptstadt Buenos Aires, organisierten. 

Auf die Widerstandsbewegung reagieren die hegemonialen politischen Kräfte mit einer Strategie der zunehmenden sozialen Polarisierung, die nicht nur den Graben zwischen Regierungspartei und Opposition vertieft, sondern auch auf rassistische Diskurse und Hassreden gegen die Bevölkerung setzt und so zu einem politischen Rechtsruck führt.

Übersetzt von Fabian Grieger.