Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - Demokratischer Sozialismus Fünfundfünfzig Jahre nach 1968

Wir müssen über den demokratischen Sozialismus sprechen

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Protest gegen die Invasion, 1968 © ČTK

Was 1968 in der Tschechoslowakei auf dem Spiel stand, wird seit vierundfünfzig Jahren als nicht aktuell dargestellt. Bereits ein Jahr nach der Okkupation sollte diese angebliche Nicht-Aktualität durch Schlagstöcke und Schüsse der Polizei und der Volksmiliz, die gegen Demonstrationen vorgingen, brutal unterstrichen werden. Die Gesellschaft sollte sich «normalisieren» und die Ideale des Prager Frühlings und sein gewaltsames Ende vergessen. Nach 1989 wurde der Versuch eines demokratischen Sozialismus erneut als Quadratur des Kreises dargestellt: In den tschechischen rechten Medien wurde gebetsmühlenartig wiederholt, dass es sich um einen Irrtum gehandelt habe, dass Demokratie und Sozialismus zusammen nicht funktionieren könnten, dass eben die Demokratie zum Kapitalismus gehöre.

Heute sehen wir, dass die Demokratie ein ernstes Problem mit dem Kapitalismus hat. Eine Reihe von Autoren wie Thomas Piketty und Branko Milanović zeigen auf, dass das Ausmaß der Ungleichheit über das hinausgeht, was für die Demokratie erträglich ist, und dass sich die Demokratie faktisch in eine Oligarchie wandelt. Dazu kommt es gerade zu dem Zeitpunkt, in dem das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht. Wir müssen zur Idee des demokratischen Sozialismus und zum Jahr 1968 zurückkehren. Wohl eher nicht aus dem Grund, um dort anzuknüpfen, wo wir damals aufgehört hatten, und auch nicht, um all dies unkritisch zu lobpreisen. Vielmehr aus dem Grund, dass der demokratische Sozialismus für uns heute unter den veränderten Bedingungen wieder aktuell ist. Was können wir nun vom «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» lernen?

Unmöglichkeit der Rückkehr

Ondřej Slačálek (*1982) ist Politikwissenschaftler und Journalist. In der Vergangenheit war er Redakteur von A-kontra, A2 und Nový Prostor, heute arbeitet er hauptsächlich für A2larm.cz und das Magazin Kontradikce/Contradictions. Zusammen mit Ágnes Gagyi war er Editor des Buches The Political Economy of Eastern Europe 30 years into the 'Transition'. New Left Perspectives from the Region (Palgrave, 2022). 

Alena Wagnerová (*1936) ist Schriftstellerin, Soziologin und Historikerin. In den 1960er Jahren arbeitete sie mit der Zeitschrift Plamen zusammen und veröffentlichte mit Vladimír Janovic das Buch Neohlížej se, zkameníš (1968, zweite Auflage Neklid 2022) über die Widerstandsgruppe Předvoj. Sie lebt seit 1969 in Saarbrücken und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Die Frau im Sozialismus (1974, tschechisch: Karolinum 2021) und Das Leben der Sidonie Nádherný. Eine Biographie (2003, tschechisch: Sidonie Nádherná a konec střední Evropy 2010). Sie arbeitet insbesondere mit der Zeitschrift Listy zusammen.

Das enorme Ausmaß des Scheiterns des Staatssozialismus darf nicht unterschätzt werden, denn ohne das können wir 1968 nicht erklären. Aber wir können dies auch nicht erklären, ohne die oft weniger sichtbaren Errungenschaften des Staatssozialismus zu sehen. In den 1950er Jahren kam es in der tschechoslowakischen Gesellschaft zu einer sozialen Revolution mit zahlreichen Begleiterscheinungen: Justizmorde und andere Verbrechen, rasche und oft drastische Umgestaltung der Sozialstruktur, Diktatur und Einschränkung der Rechte großer Teile der Gesellschaft. Gleichzeitig wurde jedoch mit der staatlichen Krankenversicherung für alle die Gesundheitsversorgung erheblich verbessert und demokratisiert. Zum politischen Programm des Sozialismus gehörte auch die Emanzipation der Frau. Neben dem Paragraphen über die Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung wurde dies zur Grundlage des sog. Familiengesetzes aus dem Jahr 1949. In Westdeutschland mussten die Frauen noch dreißig Jahre auf die Gleichstellung mit den Männern warten.

Der tschechoslowakische Sozialismus unterschied sich vom Großteil des Ostblocks durch das Maß an demokratischer Legitimation. Während des Krieges hat sich die tschechische Gesellschaft weitgehend nach links entwickelt. Die demokratisch-sozialistischen Vorstellungen wurden z. B. im Widerstandsprogramm «Für eine neue Tschechoslowakei» aus dem Jahr 1941 formuliert, an dem sich ein breites Spektrum der linken Intelligenz (z. B. Milada Horáková) beteiligte, und eine Rückkehr zum System der Republik vor dem Münchner Abkommen wurde für unmöglich gehalten. So gewann der tschechische Teil der Kommunistischen Partei die freien Wahlen von 1946, die nicht völlig offen waren (die Agrarier-Partei und andere Parteien waren nicht zugelassen), aber sie stieß dort gleich auf mehrere Alternativen: die sozialdemokratische, die christdemokratische und nationalsozialistische. Die Kommunistische Partei versprach einen demokratischen, tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus und zitierte Masaryk auf einigen Wahlplakaten. Die Kommunisten und ein großer Teil ihrer Gegner waren sich einig über die Idee eines demokratischen Sozialismus, der in der tschechoslowakischen demokratischen Tradition verankert war. Gottwalds Kommunistische Partei verriet diese Idee 1948 zugunsten des Stalinismus. Aber sie konnte nicht begraben werden, und während der Entstalinisierung nach 1956 kam diese Idee wieder zu Wort.

Sozialismus und Menschlichkeit

Der Stalinismus ist in zweierlei Hinsicht gescheitert: Erstens hat er Unmenschlichkeiten begangen, und zweitens hat er in vielerlei Hinsicht praktisch nicht funktioniert. Dies legte auch die doppelte Kritik am Stalinismus nahe, die nach 1956 einsetzte und die man vereinfacht als technokratisch und humanistisch bezeichnen kann. Die Ökonomen oder Zukunftsforscher reagierten auf die Fehlfunktionen des Sozialismus - Ota Šik versuchte, einige Marktelemente in die sozialistische Wirtschaft einzuführen, Radovan Richta entwickelte ein umfassendes Konzept einer wissenschaftlich-technischen Revolution.

Humanistische Philosophen und Schriftsteller der 1960er Jahre betonten, dass ein sinnvoller Sozialismus ein Umdenken in der Frage des Menschen erfordere. Beim jungen Marx fanden sie das Thema der «Entfremdung» und verbanden es mit einigen Motiven der existenzialistischen Philosophie. Wenn bei Marx das Problem der Entfremdung mit der kapitalistischen Gesellschaft verbunden war, fragten sie jedoch, was es über die Situation des Menschen aussagt, wenn die Entfremdung im «realen Sozialismus» fortbesteht oder sogar zunimmt.

Seit zwanzig Jahren ist in unserem Land keine menschliche Frage mehr gelöst worden

Auf der Kafka-Konferenz 1963 in Liblice, die sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern des Prager Frühlings als dessen erster Vorbote gesehen wurde, hieß es ebenfalls, dass es notwendig sei, «im sozialistischen Leben alle Bedingungen dafür zu schaffen, was das menschliche Herz begehrt, was das menschliche Herz zum Leben braucht». Die menschliche Dimension war auch später von Schlüsselbedeutung: Der Schriftsteller Milan Kundera griff auf das Vermächtnis des bedeutenden Avantgardedichters und Kommunisten Vítězslav Nezval zurück und stellte dessen Idee des «ganzen Menschen» der stalinistischen Vision des «neuen Menschen» gegenüber; gegen den ideologisch motivierten Puritanismus hob er die Entwicklung aller Möglichkeiten des Menschen und die Idee einer «neuen Renaissance» hervor. Die sog. «Neue Welle» des tschechoslowakischen Films, zu deren Lehrmeistern auch Kundera gehörte, zeigte viele - auch grenzwertige oder groteske - Formen des Menschseins im Konflikt zu den Absurditäten der bürokratischen Macht auf. Die Vertiefung der Herangehensweise an den Menschen um das Verständnis der geistlichen Problematik war Inhalt von Dialogen zwischen Christen und Marxisten, die mit Josef L. Hromádka, Milan Machovec, Egon Bondy und Vítězslav Gardavský verbunden sind. Marxistische Philosophinnen wie Irena Dubská haben die Frage gestellt, was die männliche und weibliche Variante für das Menschsein bedeuten. Der Philosoph Karel Kosík dachte in seiner «Dialektik des Konkreten» (1966) über die menschliche Problematik gegenüber dem «Pseudokonkreten» nach, und Ludvík Vaculík leitete seine Kritik auf dem Schriftstellerkongress 1967 mit den Worten ein: «Seit zwanzig Jahren ist in unserem Land keine menschliche Frage mehr gelöst worden».

Das sozialistische Experiment von 1968 sollte sich nicht durch dieses oder jenes doktrinäre Allheilmittel, diesen oder jenen hinzugefügten Ismus von früheren Misserfolgen unterscheiden. Eine gründliche Aufarbeitung der vergangenen zwanzig Jahre Diktatur hat eher zur Mäßigkeit geführt. Es ist kein Zufall, dass der beredtste Slogan für das tschechoslowakische Experiment von 1968 «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» war. Aber auch der Literatur und der Publizistik, insbesondere in der Reportage, ging es um jenes menschliche Antlitz des Sozialismus. In den 1950er Jahren war es die Ideologie, die bestimmte, was gelebte Realität und wie darüber zu schreiben war. Der sozialistische Reporter sollte also «bewusst seine getreue Kenntnis der Realität mit seiner marxistischen Parteinahme verbinden». Und es war nicht nur die neue tschechische Prosa, sondern auch literarische Reportagen, deren eigentliches Ziel die Rekonstruktion der gelebten Wirklichkeit und die Befreiung von ideologischer Überwachung war. Und es waren eben gerade die Autoren der Reportagen, die direkt zu den Menschen, vor allem zu den sogenannten einfachen Menschen, gingen, mit ihnen sprachen und sie fragten, wie sie wirklich leben und arbeiten. Dies brachte ein Gefühl der persönlichen Freiheit in deren Leben.

Vereint durch Kriegserfahrung

Zwischen den Technokraten und Humanisten kam es zwar zu Spannungen und verschiedenen konkreten Streitigkeiten. Aber die Stärke des tschechoslowakischen Jahres 1968 lag auch darin, dass es gelang, sie zu vereinen. Es schuf einen Raum, in dem der Humanismus nicht nur leerer Protest war. Das Streben nach wirtschaftlicher Effizienz und Effektivität war in einen vom menschlichen Sinn dominierten Rahmen eingebettet.

Übrigens – Šik, Kosík und Richta und viele andere, oft Kommunisten und Nicht-Kommunisten, teilten ähnliche Kriegserfahrungen, sei es im Konzentrationslager (im Fall von Šik), im Totaleinsatz im Dritten Reich oder im Widerstandskampf. Die Generation, die in den 1920er Jahren in der Republik geboren und im Geiste der Demokratie aufgewachsen war, spielte eine wichtige Rolle. Für viele von ihnen bedeutete das Münchner Abkommen, der Verrat Englands und Frankreichs und das Ende der Republik einen Sturz in ein Wertevakuum, aus dem sie intensiv nach einem Ausweg, nach einer neuen Gesellschaftsidee suchten. Eher über marxistische Literatur und nicht etwa über die illegale Kommunistische Partei mit ihrer stalinistischen Ideologie kamen sie während des Krieges dazu, sich als Kommunisten zu verstehen. Die Schließung der Hochschulen im Herbst 1939 trieb die meisten Abiturienten in die Fabriken oder in den sogenannten Totaleinsatz im Dritten Reich, wo es an Arbeitern mangelte. Für diese Generation bedeutete dies einen noch nie dagewesenen Kontakt mit der Arbeiterklasse und ein Verständnis dafür, worum es in den Fabriken ging, was für Menschen die Arbeiter waren, was sie dachten und wie sie handelten. Vielleicht trug auch dieses Wissen zu den Bemühungen um die Bildung der sogenannten Arbeiterräte bei, die einen der wichtigsten Versuche zur Demokratisierung der Produktionsbedingungen während des Prager Frühlings darstellten.

Nach dem Krieg wurden sie eine Zeit lang zu dogmatischen Handlangern der Partei und nach 1956 schrittweise zu Reformkommunisten, die eine sehr aktive kulturelle, wissenschaftliche und soziale Front bildeten und Einfluss auf den Reformprozess in der Kommunistischen Partei nahmen, die ebenfalls auf der Suche nach dem verlorenen Sinn der sozialistischen Revolution war. Den Humanisten (und nach 1968 verbotenen Philosophen) Karel Kosík und den Technokraten (und nach 1968 sog. «Normalisierer») Radovan Richta verband die Teilnahme an der Widerstandsgruppe Předvoj während des Krieges.

Zögerlicher Teil der Weltrevolution

Das Jahr 1968 war in der Tschechoslowakei noch keine Demokratie. Die Abschaffung der Zensur und die Wiederherstellung des freien öffentlichen Raums in Verbindung mit der sozialistischen Wirtschaft bedeuteten jedoch einen grundlegenden Wandel.

Das tschechoslowakische Jahr 1968 war Teil der «Weltrevolution von 1968» (Immanuel Wallerstein). Es war jedoch ein anderer Bestandteil. Die gesammelten Erfahrungen riefen in den Tschechoslowaken eine gewisse Vorsicht gegenüber dem klassischen Utopismus hervor. Die tschechoslowakische Jugend konnte sich nicht, wie ein Teil der Pariser Jugend, für die Bilder der chinesischen Kulturrevolution begeistern, und nur eine Minderheit fühlte sich von dem westdeutschen Studentenführer Rudi Dutschke angezogen. Diese Zurückhaltung bedeutete jedoch keine Ablehnung oder Ignoranz. In gewisser Hinsicht waren die tschechischen Kommunisten mit menschlichem Antlitz gut zwanzig Jahre weiter als die Studenten und Menschen aus dem Westen. Sie hatten bereits genug Erfahrung mit radikalen Änderungen und Rhetorik gesammelt. Sie suchten einen Sozialismus für das Leben der realen Menschen.

Was hat sich seit 1968 getan? Im Nachhinein können wir sagen, dass das folgende halbe Jahrhundert vor allem von einem Rückgang des Interesses an menschlichen Themen geprägt war. Das Problem der «Entfremdung» ist weitgehend als philosophischer Krempel abgetan worden, dessen Entwicklung nur allzu leicht zu naiven Vorstellungen eines «nicht-entfremdeten», authentischen Menschseins führt.

Gesellschaft des dezentralen Spektakels

Der Neoliberalismus gewann eine gewisse Unterstützung, indem er versprach, einige der Forderungen der 68er-Bewegung zu erfüllen, insbesondere die individuelle Freiheit und die Schwächung der Bürokratie. Aber die individuelle Freiheit wurde durch die Herabsetzung des Menschen durch den Markt zu reinen Konsumenten erkauft. Freiheit bedeutete oft vor allem Leere. Ein Obdachloser, für den sie vor allem Entbehrung bedeutete, konnte sie ebenso erlangen wie ein Oligarch, für den seine Freiheit zum Recht auf absolute Macht wurde. Ohne die Verbindung von Freiheit mit Gleichheit und Brüderlichkeit kann keine Demokratie das erfüllen, was wir von ihr erwarten: die Verwirklichung der Menschenwürde für alle.

Die Bürokratie wurde verwaschen, mit dem Markt verbunden und digitalisiert. Wie jedoch David Graeber in seinem Buch «The Utopia of Rules» in Erinnerung ruft, hat sich deren Ausmaß eher noch erweitert. Wir können uns nun fragen, ob etwas Ähnliches auch auf die Entfremdung zutrifft. Im «realen Sozialismus» war sie umfangreich und tief. Aber wie sieht es im heutigen «realen Individualismus», gepaart mit einer Kultur der ständigen Selbstdarstellung auf digitalen Plattformen aus? Hat sich der Mensch in dieser Situation selbst gefunden, oder hat die Entfremdung eher neue Dimensionen angenommen, sich verstärkt und ist noch mehr unter die Haut gegangen? Guy Debord sprach in den 1960er Jahren davon, dass der Kapitalismus zu einer «Gesellschaft des Spektakels» geworden sei. Wir leben heute in einer Gesellschaft des dezentralen Spektakels, in das wir ständig hineingezogen werden. Unsere Entfremdung ist um nichts geringer, weil wir sie mitproduzieren. Ganz im Gegenteil.

Die Erfahrung mit dem «realen Sozialismus» beeinflusste die liberale Kritik der Macht. Während der sogenannten Samtenen Revolution von 1989 gab es Stimmen, die nach einem demokratischen Sozialismus oder einfach einem «dritten Weg» riefen, der die Vorzüge beider Systeme in sich vereinen sollte. Der Anführer der tschechischen Neoliberalen, Václav Klaus, hat dies abgeschmettert: «Der dritte Weg ist der kürzeste Weg in die Dritte Welt». In der Tschechoslowakei gab es jedoch keine artikulierte Bewegung für einen demokratischen Sozialismus, wie sie in Ostdeutschland von der Schriftstellerin Christa Wolf vertreten und durch Runde Tische repräsentiert wurden. Antikommunistische Hetze wie gegen Christa Wolf kam aber auch gegen Vertreter des Vermächtnisses von 1968 auf (sei es Jaroslav Šabata, Zdeněk Mlynář oder Milan Kundera). Für das Jahr 1968 gibt es bis heute kein vergleichbares Gedenken wie für die polnische Solidarność-Bewegung im Europäischen Solidaritätszentrum in Gdansk. Das Gedenken fußt eher auf inoffiziellen Initiativen, wie der Veranstaltung tschechischer und russischer Künstler im Jahr 2008, die sich an einer künstlerischen Rekonstruktion des Vysočany-Kongresses versuchten, oder der Rückkehr der Literární noviny im selben Jahr zur Debatte zwischen Václav Havel und Milan Kundera zur Jahreswende 1968/69.

Das Ergebnis der globalen Bewegung seit den 1980er Jahren war Schwächung der politischen Institutionen und Freiraum für den Markt und die Oligarchen. Der «Liberalismus der Angst», der auf der Furcht vor Machtmissbrauch beruht, hatte gute Gründe. Aber nicht nur, dass ihm die Angst vor den Folgen des Marktes, dem Entstehen einer Wirtschaftsoligarchie und dem Missbrauch wirtschaftlicher Macht fehlten. Nicht nur, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Angst der 1980er und 1990er Jahre vor Machtmissbrauch allmählich durch die Angst vor unserer kollektiven Ohnmacht ersetzt wird. Wir können auch mit Ludvík Vaculík sagen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die seit vielen Jahren keine einzige menschliche Frage gelöst hat: Die Tatsache, dass die massenhafte Ausbreitung von psychischen Erkrankungen nun zu einem gesellschaftlichen und politischen Problem wird, spricht Bände. Der Weg zur Lösung führt zurück zum Menschen, zum Interesse an ihm und seinen Möglichkeiten, weg von der Verflachung, die ihm der Neoliberalismus und die mit ihm verbundenen Technologien auferlegt haben, weg von der einseitigen Individualisierung.

Wir brauchen einen ökosozialistischen Humanismus

In seinem 1993 erschienenen Rückblick auf den Prager Frühling nennt Karel Kosík zwei seiner Stärken: den Willen, die Grenzen des menschlichen Handelns zu erkennen, und die Initiative von unten. «Der Prager Frühling war kein vergeblicher Versuch eines 'dritten Weges', der zum Untergang, zum Scheitern und zum Vergessen verurteilt war, sondern er bleibt als Vorahnung des einzigen Weges bestehen, der die Menschheit vor der globalen Katastrophe bewahren kann, als ein zaghafter Hauch von Vorstellungskraft, aus dem eines Tages ein neues Paradigma geboren werden wird», so Kosík. Milan Kundera beschrieb dieses Paradigma bereits zu Weihnachten 1968 als Freiheit und Demokratie, die sich auf einem anderen als dem kapitalistischen Boden, dem Boden des hemmungslosen Profitstrebens entwickeln. Und dieser Boden der Freiheit und der Demokratie war während des Prager Frühlings der Boden des Sozialismus, jedoch mit der «Freiheit des geschriebenen und gesprochenen Wortes, einer öffentlichen Meinung, die gehört wird, und einer Politik, die sich darauf stützt; mit einer sich frei entwickelnden modernen Kultur und mit Menschen, die ihre Angst verloren haben».

Ende der 1960er Jahre steckten die ökologischen Themen und ein Überdenken des ausbeuterischen Verhältnisses zur Natur noch in den Kinderschuhen. Heute muss dies das Herzstück eines jeden denkbaren Programms des demokratischen Sozialismus sein. Eine gewisse Distanz zur Modernität und zu den übertriebenen Illusionen über die menschlichen Fähigkeiten, die für 1968 und den Sozialismus einer vom Stalinismus geschundenen Gesellschaft kennzeichnend sind, kann uns dabei jedoch behilflich sein. Wir brauchen eine kollektive Macht, der wir aber gleichzeitig auch Grenzen setzen müssen. Wir brauchen die Akzeptanz des menschlichen Individuums und gleichzeitig die Einsicht, dass das Individuum nicht nur ein Individuum ist, dass seine individuelle Einzigartigkeit erst in der Gesellschaft Sinn ergibt, dass das «menschliche Herz», dessen Bedürfnisse im Sozialismus auf der Kafka-Konferenz in Liblice diskutiert wurden, eine Metapher für die Gefühle für andere Menschen ist, ohne die es nicht vollkommen ist.

Der Neoliberalismus hat die menschliche Frage aus der Politik verdrängt, indem er behauptet, sie gehöre in den «privaten Bereich». Das Ergebnis ist ein Paradoxon: Das scheinbar Privateste (der Konsum) wurde in der ökologischen Krise zum Politischsten; seine derzeitige Gestalt bedroht das Überleben der Menschheit auf der Erde. Die angestrebte Veränderung kann nicht ohne ein neues Menschenbild, ohne eine Auseinandersetzung mit jenen Aspekten der Menschlichkeit erreicht werden, die derzeit in destruktiver Überproduktion und Überkonsum gefangen sind. Wenn ein Nicht-Wachstum und andere nicht-zerstörerische Alternativen vorangetrieben werden sollen, würde es sich nicht um eine stachanowsche Abkehr vom «neuen Menschen» handeln, sondern vielmehr um die Suche nach einer alternativen und würdigen Menschlichkeit des «ganzen Menschen» laut Nezval und Kundera, der einen Weg findet, Umweltfreundlichkeit mit der Verwirklichung seiner verschiedenen Möglichkeiten, Bedürfnisse und Wünsche zu verbinden.