Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - Partizipation / Bürgerrechte - Demokratischer Sozialismus «Ich habe meine politischen Ansichten bis heute nicht geändert»

Der damalige Aktivist und spätere Außenminister Jan Kavan im Gespräch über den Prager Frühling

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Jan Kavan während seiner Zeit als tschechischer Außenminister (2001). Foto: Fredrik Sandberg/TT

Wir würden das Interview gerne damit beginnen, dass Sie sich vorstellen und unseren Leserinnen und Lesern ein Bild vermitteln, welche Rolle Sie während des «Prager Frühlings» gespielt und wie Sie seine Niederschlagung erlebt haben?

Jan Kavan (geb. 1946), ehemaliger tschechischer Außenminister und im Jahre 2002 Präsident der UN-Generalversammlung, im Gespräch über den Prager Frühling, die Folgen seiner Niederschlagung und was für ihn heute Demokratischer Sozialismus bedeutet.

1967 war ich einer der studentischen Aktivisten, die Proteste gegen die Regierung organisierten. Im Herbst 1967 arbeiteten wir eng mit dem Schriftstellerverband zusammen und standen auch in Kontakt mit  jenen kommunistischen Reformern, die Antonin Novotny als Generalsekretär der Partei absetzten und ihn durch den slowakischen Reformisten Alexander Dubcek ersetzten. Die Studentenbewegung war einer der Katalysatoren, die zum Prager Frühling führten. Im Laufe des Jahres 1968 versuchten wir dann, eine unabhängige Studentenvereinigung zu gründen. Wir drängten auf mehr Demokratie (im Gegensatz zur offiziellen Demokratisierung) und unterstützten die Entstehung einer Zivilgesellschaft. Nach der sowjetischen Invasion im August 1968 organisierten wir im November desselben Jahres einen landesweiten Studentenstreik, der von vielen Gewerkschaften unterstützt wurde. Zwischen Dezember 1968 und März 1969 schlossen wir mit den Gewerkschaften sogenannte Verteidigungsabkommen, um wenigstens die Reste der Reformen des Prager Frühlings zu retten. Nach der Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach im Januar 1969 organisierten wir landesweite Proteste. Ich wurde von der Geheimpolizei verhört, von der Universität suspendiert (später zwangsexmatrikuliert) und schließlich Ende Mai 1969 gezwungen, nach Großbritannien zu emigrieren.

Wie hat sich das auf Sie, Ihre politische Entwicklung und Ihr Engagement ausgewirkt?

Die Studentenvereinigung, in der ich Leiter der außenpolitischen Sektion war, wurde verboten und aufgelöst. In London richtete ich einen Solidaritätsfonds ein, der ab Januar 1971 den Schmuggel von Literatur und Kopiermaschinen an die aufkeimende tschechoslowakische Opposition finanzierte und organisierte. 1975 gründete ich den Verlag Palach Press, der Bücher, Artikel und Nachrichten aus der Opposition veröffentlichte. Damit wurden wir ab 1977 im Westen zu einer zentralen Stimme der Menschenrechtsbewegung der «Charta 77». Ab 1986 half ich, die tschechoslowakische, polnische und ungarische Opposition zu vernetzen. Später kamen auch Oppositionsgruppen aus der DDR und Slowenien hinzu.

Was genau waren die Ziele der Charta 77?

Die Charta 77 war eine tschechoslowakische Menschenrechtsgruppe, die im Januar 1977 gegründet wurde, nachdem die Regierung den «Internationalen Pakt über Menschen- und Bürgerrechte» und den «Internationalen Pakt über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte» unterzeichnet hatte. Mit dem Gesetz Nr. 120/1976 wurden beide zwar in die tschechoslowakische Gesetzgebung aufgenommen, in der Praxis aber von der Regierung ignoriert. Die Charta 77 forderte die Regierung lediglich auf, ihre eigenen Gesetze einzuhalten. Die Unterzeichner der Charta 77 wurden verfolgt, viele verloren ihren Arbeitsplatz und einige wurden inhaftiert. Die Charta 77 verband eine enge Zusammenarbeit mit der polnischen Solidarność, der ungarischen demokratischen Opposition und den kirchlichen Oppositionsgruppen der DDR. Sie knüpfte auch Kontakte mit der «Helsinki Federation of Human Rights», «US Human Rights Watch» und vergleichbaren Gruppen, trat aber auch in einen Dialog beispielsweise mit der «US Campaign for Peace and Democracy East and West».

Welches waren dabei Ihre wichtigsten Kooperationspartner in den späten 1970er und 1980er Jahren?

Als Menschenrechtsaktivist versuchte ich, die Bedürfnisse aller tschechoslowakischen Oppositionsgruppen (und anderer osteuropäischer Bewegungen, einschließlich der polnischen Solidarność) zu erfüllen. Aber als Linkssozialist war ich am engsten mit linken Gruppen in der Tschechoslowakei und im Westen verbunden.

In den 1970er und 1980er Jahren arbeitete ich ebenso eng mit jenem Teil der westlichen Friedensbewegung zusammen, der nicht nur die Abrüstung im Westen forderte, sondern zugleich die Demokratisierung im Osten unterstützte und Menschenrechtsverletzungen dort kritisierte. Zum Beispiel mit der europaweiten Organisation «European Nuclear Disarmament» (END), die sich 1980 unter Führung des britischen Historikers E.P. Thompson von der britischen «Campaign for Nuclear Disarmament» (CND) abgelöst hatten, oder dem Interkirchlichen Friedensrat in Holland.

Ich war maßgeblich daran beteiligt, diese Gruppen mit der Opposition im Osten zu vernetzen, vor allem mit der Charta 77.  Zum Beispiel half ich, in vielen Ländern den sogenannten «Prager Appell» zu verbreiten, der die Beseitigung des Eisernen Vorhangs und die Wiedervereinigung Deutschlands forderte. Am engsten arbeitete ich mit der Gruppe der Unabhängigen Sozialisten in der Tschechoslowakei zusammen, aber auch mit prominenten Linken wie Petr Uhl, der sich selbst als revolutionären Marxisten bezeichnete und vor zwei Jahren verstarb. Ich habe auch versucht, der polnischen Gruppe «Freiheit und Frieden» zu helfen.

In Großbritannien warb ich bei der Labour Party um Unterstützung für die linksorientierten Führungsfiguren der Charta 77 und organisierte auch die westliche sozialistische Unterstützung für tschechoslowakische politische Gefangene. Dabei fällt mir ein – und auch der 50. Jahrestag des Putsches in Chile steht ja kurz bevor –, dass wir in den 1970er- und 1980er-Jahren ebenso engen Kontakt zum chilenischen Exil und seinen mexikanischen Unterstützern pflegten. Einige von ihnen reisten damals sogar als unsere Kuriere und trafen sich zum Beispiel mit Charta 77-Aktivisten.

Was denken Sie heute über den Sozialismus? Hegen Sie immer noch positive Gefühle dafür? Was bedeutet Sozialismus heute?

Ich habe meine politischen Ansichten seit meiner Studienzeit, als ich mich für den demokratischen Sozialismus aussprach, bis heute nicht geändert. In den folgenden Jahren las ich mehr darüber, sammelte weitere Erfahrungen durch die Zusammenarbeit mit linksorientierten Aktivisten und Intellektuellen und vertiefte so meine sozialistischen Überzeugungen.

Mein jüdischer und kommunistischer Vater wurde in der stalinistischen Tschechoslowakei inhaftiert und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt….

Entschuldigen Sie, war das im Rahmen der «Slánsky-Prozesse»?

Ja, er war Zwangszeuge im Slánsky-Hauptprozess 1952 und wurde danach als Teil einer vierköpfigen Gruppe aus dem Außenministerium zu dieser Haftstrafe verurteilt. Seine Mutter und andere Verwandte starben in den Konzentrationslagern der Nazis. So wurde ich aufgrund meiner Wurzeln zu einem entschiedenen Gegner von Krieg, Antisemitismus, Rassismus und Ungerechtigkeit. In der Tschechoslowakei der 1950er Jahre bekam ich den ersten Vorgeschmack auf soziale Ungleichheit, die sich später im Thatcher'schen Großbritannien verstärkte.

Aufgrund meiner oben genannten Erfahrung lehne ich Invasionen, Aggression, Verfolgung und Diskriminierung entschieden ab und bin auch ein überzeugter Verteidiger der Menschen- und Bürgerrechte. Ich bekenne mich voll und ganz zum Prinzip der Solidarität. Als Präsident der UN-Generalversammlung hatte ich mich stark gemacht dafür, dass die US-Invasion im Irak nicht das Mandat des UN-Sicherheitsrats erhielt. Damals habe ich auch mit dem britischen Außenminister Robin Cook zusammengearbeitet, der 2003 aus Protest gegen den unmittelbar bevorstehenden Krieg von seinem Posten als «Lord President of the Council» und seinem Vorsitz des Abgeordnetenhauses zurücktrat. Ich empfand große Sympathie für seine Vision einer ethischen Außenpolitik, die Menschenrechte und nukleare Abrüstung in den Vordergrund stellte – auch wenn sie in der Praxis oft nicht erfolgreich war.

Wissen Sie, ich bin viel um die Welt gereist. In Israel verlor ich meine anfänglichen starken Sympathien für den belagerten jüdischen Staat und in Palästina fand ich eine Reihe von Freunden. Verständlicherweise war ich gegen die Annexion und Besetzung fremder Gebiete und gegen die Diskriminierung der lokalen Bevölkerung. In El Salvador, Indonesien und einer Reihe afrikanischer und asiatischer Länder sah ich große Armut, und so unterstützte ich verständlicherweise die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, aber auch die Rechte der Palästinenser und die UN-Resolution über die Schutzverantwortung, um Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern. Verständlicherweise verurteile ich heute den Einmarsch in die Ukraine und unterstütze voll und ganz die Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand und einem ausgehandelten Friedensabkommen. Ich bin davon überzeugt, dass es eine diplomatische Lösung für den Konflikt geben muss, keine militärische.

Als Sozialist unterstütze ich auch Maßnahmen gegen den Klimawandel und zum Schutz der Umwelt sowie zum Schutz von Frauen, wie sie zum Beispiel in der Istanbul-Konvention niedergelegt sind. Als Sozialist habe ich auch verschiedene Versuche unterstützt, Arbeiterräte zu gründen, um den Arbeitern mehr Kontrolle über die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, und über die Früchte ihrer Arbeit zu geben. Für mich sind alle oben genannten Prinzipien untrennbar und bilden einen integralen Bestandteil meiner sozialistischen Überzeugungen.

Herr Kavan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Die Fragen stellten Ingar Solty und Uwe Sonnenberg, Mitte August 2023.