Nachricht | Globalisierung - Afrika - Commons / Soziale Infrastruktur - Ernährungssouveränität Welternährungstag 2023: Politiken zur Messung des Hungers

Wie unser Verständnis von Hunger die Art und Weise beeinflusst, wie wir ihn bekämpfen

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Jan Urhahn,

Maisfeld nahe Bergville, KwaZulu-Natal, Südafrika. «Pannar Seed» ist eines der in Afrika führenden Saatgutunternehmen.
Hybridmais wird vor allem gezüchtet um die Erträge nach oben zu treiben. Die Vielfalt auf den Feldern und auf den Tellern geht dabei verloren. Maisfeld nahe Bergville, KwaZulu-Natal, Südafrika. «Pannar Seed» ist eines der in Afrika führenden Saatgutunternehmen., Foto: Jan Urhahn

Das industrielle Ernährungssystem ist paradox – vorhandener Überfluss geht einher mit einem beispiellosen Maß an Leid. Es scheint ganz gleich, wie viele Lebensmittel produziert werden, wie billig sie verkauft werden, wie viele giftige Pestizide gesprüht werden und wie viel künstlicher Dünger in den Boden gepumpt wird, der Hunger in der Welt wird damit nicht beendet.

Agrarindustrie, Regierungen und internationaler Organisationen lassen uns glauben, dass wir uns langsam, aber stetig einer Welt ohne Hunger nähern. Die Zahlen, die sie vorlegen, prägen die Politik, die Budgets und den Gesamtansatz zur Bekämpfung des weltweiten Hungers. Doch in den letzten Jahren scheinen selbst die Fortschritte, die in diesen Statistiken angepriesen werden, zu schwinden. Unterernährung, der traditionelle Indikator der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) zur Messung des weltweiten Hungers, nimmt seit einigen Jahren wieder zu. Im Jahr 2022 waren rund 828 Millionen Menschen von Hunger betroffen. Trotz des Versprechens, den Hunger bis zum Ende des Jahrzehnts zu beseitigen, geht die FAO selbst davon aus, dass im Jahr 2030 noch mehr als 660 Millionen Menschen weltweit von Unterernährung betroffen sein werden. Und dies obwohl die Art und Weise, wie wir Hunger definieren und messen, äußerst politisch und manipulativ ist.

FAO Methodik zur Messung des Hungers ist manipulativ

Jahrzehntelang hat die FAO Unterernährung als einen der Hauptindikatoren zur Messung des weltweiten Hungers verwendet. Demnach zählen Menschen nur dann als hungrig, wenn ihre Kalorienzufuhr über die gesamte Dauer eines Jahres hinweg «nicht mehr ausreicht, um selbst den Mindestbedarf für eine sitzende Lebensweise zu decken» (das entspricht weniger als 1.600 bis 1.800 Kalorien pro Tag). Das Problem ist: die meisten armen Menschen führen keinen «sitzenden Lebensstil», sondern verrichten in der Regel schwere körperliche Arbeit, so dass sie in Wirklichkeit viel mehr als den von der FAO festgelegten Kalorienbedarf benötigen. Ein Rikschafahrer in Indien verbrennt beispielsweise etwa 3.000 bis 4.000 Kalorien pro Tag.

Jan Urhahn leitet das Programm für Ernährungssouveränität der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Sitz in Johannesburg, Südafrika. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Themen wie den Rechten von Landarbeiter*innen, den Auswirkungen hochgefährlicher Pestizide auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt, mit Fragen rund um Saatgut sowie Ansätzen der Grünen Revolution im Vergleich zu tragfähigen Alternativen wie der Agrarökologie.

Wer bleibt bei der FAO Berechnung des Hungers außen vor?

  • Menschen mit schwerem Mikronährstoffmangel, wovon nach Angaben der FAO weltweit 2,1 Milliarden Menschen betroffen sind;
  • Menschen, die unter saisonalem Hunger leiden (also «nur» für einige Wochen oder Monate, aber nicht ein ganzes Jahr hungern). Von dieser häufigsten Form des Hungers waren laut FAO im Jahr 2020 geschätzte 2,37 Milliarden Menschen betroffen.

Darüber hinaus ist die Methodik der FAO zur Messung des Hungers nicht nur fehlerhaft, sondern auch bewusst manipulativ. Das Ziel, den Hunger in der Welt zu halbieren, wurde ursprünglich auf dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom vorgeschlagen, wo sich 186 Regierungen in ihrer Erklärung zur Welternährungssicherheit dazu verpflichteten, dieses Ziel bis 2015 zu erreichen. Vier Jahre später, im Jahr 2000, wurde dieses Versprechen mit den Millenniumsentwicklungszielen (MDGs) auf subtile, aber tiefgreifende Weise verändert. Anstatt die Gesamtzahl der Hungernden weltweit zu verringern, konzentrierten sich die MDGs auf die Verringerung des Anteils der Hungernden an der Bevölkerung, und zwar nur in den Ländern des Globalen Südens. Die Auswirkungen dieser Änderung der Methodik sind erheblich: Versprach die Erklärung von Rom eine Reduzierung der Zahl der Hungernden um 50 Prozent bis 2015, so versprechen die MDGs «nur» eine Verringerung dieser Zahl um 40 Prozent. Darüber hinaus wurde mit den MDGs die ursprüngliche Verpflichtung der Vereinten Nationen (VN) weiter abgeschwächt, indem das Basisjahr für den Vergleich der Fortschritte von 2000 (als die Verpflichtung eingegangen wurde) auf 1990 verschoben wurde. Die Verschiebung des Basisjahres ermöglichte es eine Verringerung des Hungers zu behaupten, bevor die MDGs tatsächlich begannen. In Wirklichkeit stammten 73 Prozent der von der VN für die MDGs beanspruchten Erfolge aus Chinas Fortschritten, die größtenteils bereits in den 1990er Jahren erzielt wurden.

Trotz dieser Bemühungen um eine positive Anpassung ihrer Messgrößen konnte die FAO bis 2009 nur geringe Fortschritte bei der Verwirklichung der MDGs verzeichnen. Im Jahr 2012 kündigte sie daraufhin eine «Verbesserung» ihrer Methodik zur Berechnung des Hungers an. Unter anderem wurden neue Annahmen über den Zugang zu und die Verteilung von Kalorien eingeführt und die Daten über die durchschnittliche Körpergröße der Länderbevölkerung überarbeitet, die zur Schätzung des Mindestkalorienbedarfs für jedes Land herangezogen werden. Infolge dieser und weiterer Anpassungen erweckten die neuen Kaloriengrenzwerte den Anschein, dass der Hunger abnimmt, was im Widerspruch zu der früheren Methodik steht, nach der der Hunger tatsächlich zunimmt.

Nötiger denn je: eine neue Strategie um Hunger zu bekämpfen

Die Art und Weise, wie wir den Hunger verstehen, messen und darüber berichten, hat auch tiefgreifende Auswirkungen wie wir ihn auf globaler Ebene bekämpfen. Da Hunger in erster Linie als Kaloriendefizit verstanden wird, hat der vorherrschende Ansatz zur Überwindung des Hungers zu einer übermäßigen Fokussierung auf Ernteerträge, Produktivität und der Produktion von immer mehr Kalorien geführt, ohne zu beachten, ob diese überhaupt nahrhaft sind.

In den letzten siebzig Jahren hat die Agrarindustrie mit diesem Fokus große Ertragssteigerungen erzielt. Zwischen 1960 und 2016 stieg die Kalorienproduktion um 217 Prozent und die Getreideproduktion um 193 Prozent. Gleichzeitig sanken die Preise für Lebensmittel weltweit stetig, meist wegen Subventionen. Oberflächlich betrachtet scheint dies eine unglaubliche Leistung für die Menschheit zu sein, doch am Problem des weltweiten Hungers hat sich wenig geändert, sondern es wurden vielmehr Probleme in anderen Bereichen verschärft. Der Fokus auf Produktivität – erreicht durch die Maximierung der Produktion bei gleichzeitiger Minimierung der finanziellen Kosten – hat zu groß angelegten Monokulturen geführt, die durch den Einsatz intensiver, von fossilen Brennstoffen abhängiger Betriebsmittel wie Dünger und Pestizide auf die Produktion einer Handvoll von Waren ausgerichtet sind. Eine kürzlich veröffentlichte Studie ergab zudem, dass sechs von neun planetarischen Grenzen durch die vom Menschen verursachte Verschmutzung und Zerstörung der natürlichen Welt bereits überschritten wurden. Die planetarischen Grenzen sind die Grenzen wichtiger globaler Systeme – wie Klima, Wasser und Artenvielfalt – bei deren Überschreitung die Fähigkeit, einen gesunden Planeten zu erhalten, zu versagen droht. Eine der Grenzen sind Stickstoff und Phosphor in der Umwelt. Beide sind lebensnotwendig, aber der übermäßige Einsatz von künstlichen Düngemitteln durch die industrielle Landwirtschaft bedeutet, dass viele Gewässer durch Stickstoff und Phosphor stark verschmutzt sind, was zum Beispiel zu toten Zonen im Meer führen kann. Nach Angaben der FAO wird jedes Jahr das Dreifache der unbedenklichen Menge an Stickstoff auf die Felder ausgebracht. Infolge der Fixierung auf die Maximierung der Kalorienproduktion hat auch die genetische Vielfalt im letzten Jahrhundert um 75 Prozent abgenommen. Mehr als 75 Prozent der weltweiten Nahrung stammt aus zwölf Kulturpflanzen und fünf Tierarten, wobei über 60 Prozent der weltweit erzeugten Kalorien allein aus Weizen, Reis und Mais stammen. Die industrielle Landwirtschaft ist heute zudem der zweitgrößte Verursacher des Klimawandels.

Das globale industrielle Ernährungssystem ist effizient bei der Produktion von Kalorien, aber es verteilt diese nicht gerecht.

Wir produzieren genug Kalorien, um theoretisch über zehn Milliarden Menschen zu ernähren – genug um den Hunger in der Welt praktisch zu beenden. Allerdings werden circa 70 Prozent der von der Agrarindustrie produzierten Kalorien entlang der Lieferkette verschwendet oder zur Herstellung von Tierfutter oder hochgradig ineffizienten Industriegütern wie Agrarkraftstoffen abgezweigt. Die meisten vorherrschenden Ansätze zur Messung und Bekämpfung des Hungers behandeln ihn als unvorhersehbare Folge eines eigentlich wohlmeinenden Agrarsystems.

Was aber würde folgen, wenn Hunger nicht als technisches Problem, sondern als eine Frage von Macht verstanden wird? Was würde sich ändern, wenn wir den Hunger nicht durch Überwindung von Knappheit, sondern durch Umverteilung des Überflusses angehen würden? Dafür ist es wichtig, das reale Ausmaß des weltweiten Hungers sowie die wahren Ursachen von Hunger anzuerkennen. Sie haben oft mit der Diskriminierung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen, der Kriminalisierung von Aktivist*innen oder dem ungerechten Zugang zu und Kontrolle über (natürliche) Ressourcen zu tun. Vieles davon hängt mit unfairen Machtverhältnissen in Gesellschaften zusammen. Gerade die Beendigung zerstörerischer landwirtschaftlicher Praktiken, die zu massiver Abholzung, Lebensraumverlust und Umweltverschmutzung führen, ist eine dringende Aufgabe. Zeit für ein Umdenken, sowohl bei der FAO als auch bei vielen Regierungen und politischen Entscheidungsträger*innen weltweit.