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Deutschland auf dem Prüfstand vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen

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Menschenrechtliche Überprüfung von Deutschland bei der 44. Sitzung des Universal Periodic Review («Universelles Periodisches Überprüfungsverfahren» des UN-Menschenrechtsrats), 9. November 2023
Bei der 44. Sitzung des Universal Periodic Review («Universelles Periodisches Überprüfungsverfahren» des UN-Menschenrechtsrats) am 9. November 2023 wird die Lage in Deutschland zum vierten Mal einer menschenrechtlichen Prüfung unterzogen. Quelle: Videoaufzeichnung des Menschenrechtsrats in Genf

Belarus und Irak empfehlen Deutschland, friedliche Demonstrationen vor Gewalt durch Polizeikräfte zu schützen. Mexiko rät, Femizide als Straftat anzuerkennen. Qatar erwartet, dass die Versammlungsfreiheit gewährleistet wird. Saudi-Arabien kritisiert Doppelstandards bei der Meinungsfreiheit und China empfiehlt, die Armutsbekämpfung in Deutschland zu intensivieren.

Fake news? Satire? Weder noch, sondern so geschehen im UN-Menschenrechtsrat in Genf, wo Deutschland sich am 9. November 2023 der menschenrechtlichen Überprüfung unterziehen musste, bei der alle Staaten gleichermaßen das Recht haben, Defizite vorzubringen und Verbesserungen anzumahnen. Dieses «universelle periodische Überprüfungsverfahren» (Universal Periodic Review, UPR) wurde 2006 mit der Gründung des UN-Menschenrechtsrats etabliert. Dessen Vorgängergremium, die UN-Menschenrechtskommission, war in ihren letzten Jahren immer wieder wegen der Ungleichbehandlung vieler Staaten kritisiert worden. Der neu geschaffene Menschenrechtsrat sollte deshalb um einen Mechanismus erweitert werden, der dem berechtigten Vorwurf der Selektivität entgegenwirken würde.

Dr. Silke Voß-Kyeck beobachtet und analysiert für das Forum Menschenrechte die Entwicklungen im UN-Menschenrechtsrat. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Institut für Menschenrechte. Zuvor arbeitete sie viele Jahre in der deutschen Sektion von Amnesty International sowie im Büro einer Abgeordneten des Europäischen Parlaments.

Gleiche Regeln für alle

Der Überprüfung der Menschenrechtssituation in ihrem Land müssen sich seither alle 193 Mitgliedsstaaten der UN ausnahmslos unterziehen, alle nach den gleichen Spielregeln, öffentlich und in regelmäßigen Abständen. Einheitliche Grundlage des Verfahrens sind jeweils drei Berichte: die Stellungnahme des betreffenden Staates selbst zu menschenrechtlichen Entwicklungen im Land seit der letzten Überprüfung, eine Zusammenfassung von Erkenntnissen verschiedener UN-Menschenrechtsgremien sowie ein komprimierter Bericht aus Eingaben zivilgesellschaftlicher Organisationen und der jeweiligen Nationalen Menschenrechtsinstitutionen (NHRI). Ziel des UPR ist es, vor Ort im jeweiligen Land Verbesserungen der Menschenrechtslage zu bewirken.

Ganz wesentlich sind zwei Merkmale des Verfahrens. Zum einen handelt es sich um einen klassischen peer review, d.h. Empfehlungen werden von Diplomat*innen der übrigen Staaten ausgesprochen, nicht von unabhängigen Expert*innen wie z.B. in den UN-Ausschüssen, die die Einhaltung spezifischer Menschenrechtsabkommen überwachen. Zum anderen sitzen zivilgesellschaftliche Organisationen in der eigentlichen Anhörung zwar nur auf der Zuschauerbank. Sie haben aber Rederecht, wenn der Abschlussbericht vom Menschenrechtsrat angenommen wird, und vor allem mit ihren dokumentierten Berichten einen festen Platz in dem Verfahren. Wie sehr manche Staaten die zivilgesellschaftliche Beteiligung fürchten, zeigt sich besonders an den Repressionen, mit denen sie Menschenrechtsverteidiger*innen von Genf fernzuhalten versuchen.

Kein Staat hat sich bis heute dieser Überprüfung entzogen, auch wenn das Verfahren in Genf keineswegs frei von ritualisierten Bekenntnissen ist. Der UPR hat einen unschätzbaren Fundus an öffentlich verfügbarer Dokumentation zur Menschenrechtslage geschaffen, hinter dem sich kein Staat verstecken kann. Vor allem ist es beeindruckend, was sich in vielen Ländern unter maßgeblicher Mitwirkung der Zivilgesellschaft entwickelt hat: In Österreich wurde beispielsweise 2015 eine Reform der Gefängnisbedingungen auf den Weg gebracht. In Südkorea wurde 2013 die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Kanada verabschiedete eine Nationale Strategie zum Recht auf Wohnen und 2019 ein entsprechendes Gesetz. Das jordanische Parlament beschloss 2021 ein Gesetz gegen Menschenhandel. Zwar ist es kaum möglich, solche Entwicklungen unmittelbar auf den UPR zurückzuführen. Meist ist es eine Kombination von vielerlei Faktoren, die zusammenwirken. Aber in vielen Fällen hat eben doch der UPR einen entscheidenden Unterschied gemacht.

Mehr als ein kurzer Auftritt in Genf

Deutschland musste sich nach 2009, 2013 und 2018 in diesem November zum vierten Mal der Prüfung unterziehen. Vorausgegangen waren dem Genfer Dialog zwei längere Konsultationstreffen im März und Juni zwischen Mitarbeiter*innen der beteiligten Ministerien, koordiniert von der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, sowie Vertreter*innen des Forum Menschenrechte (FMR) und des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR). Nicht alle Ressorts zeigten sich bei dieser menschenrechtlichen Bestandsaufnahme aufgeschlossen, sich aus Genf hineinreden zu lassen und sich dafür auf den Dialog mit der Zivilgesellschaft einzulassen. Der im August vorgelegte Staatenbericht der Bundesregierung ließ jedoch erkennen, dass die eine oder andere Anregung und Kritik aus den Konsultationsrunden aufgenommen worden war.

Die Menschenrechtsbeauftragte, Luise Amtsberg, als Leiterin der Regierungsdelegation eröffnete die mehr als dreistündige Sitzung in Genf mit einem erfreulich selbstkritischen Eingangsstatement. Sie nannte nicht nur menschenrechtliche Fortschritte seit 2018, wie z.B. die Ratifikation der ILO Konvention Nr. 169 und des Zusatzprotokolls zur Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte oder die Rücknahme der Vorbehalte zur sogenannten «Istanbul-Konvention» zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Ausgeführt wurden ebenso Herausforderungen, die von der Zivilgesellschaft zu Recht betont worden seien, wie etwa Geschlechterungerechtigkeit, häusliche Gewalt und ein Hilfesystem, das den Bedürfnissen nicht gerecht würde. Armut und insbesondere Kinderarmut gehörten ebenso zu den menschenrechtlichen Problemen in Deutschland. Und schließlich seien Rassismus und Diskriminierung sowie Defizite in der Migrationspolitik große Herausforderungen, denen die Bundesregierung begegnen müsse und wolle.

Was es auszusetzen gab

Auf diese Themen bezog sich dann der größte Teil der insgesamt 346 Empfehlungen, die von 123 Staaten abgegeben wurden. Wie schon bei früheren Überprüfungen Deutschlands äußerten viele Staaten ihre Sorge über Rassismus und Diskriminierung in Gesellschaft und Institutionen, über Hassverbrechen und mangelnde Strafverfolgung. Die deutsche Delegation verwies auf Fortbildungen, auf die Einsetzung der Antirassismusbeauftragten und eines Polizeibeauftragten, sowie die Vereinbarung im Koalitionsvertrag, den Begriff «Rasse» aus dem Grundgesetz zu streichen. Zahlreich und konkret war die Forderung nach Maßnahmen gegen das racial profiling durch die Polizei, was die Delegation wie früher schon damit zurückwies, dass dies nach geltender Gesetzeslage ohnehin nicht erlaubt sei. Immerhin war im Staatenbericht auch auf gegenteilige Praxisberichte von Zivilgesellschaft und der Antirassismusbeauftragten der Bundesregierung verwiesen worden. Bleibt also zu hoffen, dass die Bundesregierung sich dieser konkreten UPR-Empfehlung nicht erneut verweigert.

Beim Themenkomplex Migration und Rechte Geflüchteter wurden für die Zuhörer*innen die Diskrepanzen zwischen Bekenntnissen im Koalitionsvertrag und derzeitigen rechtlichen Bestimmungen einerseits und aktuellen Entwicklungen und politischen Plänen andererseits besonders offenkundig. Hier setzten sich die Abwehrreflexe aus den Konsultationen mit der deutschen Zivilgesellschaft im März und Juni auch in Genf fort. Die Ratifikation der Wanderarbeitnehmerkonvention – allein 19 Empfehlungen hierzu – ist bereits ein Dauerbrenner und wird angesichts der prinzipiellen Ablehnung der Bundesregierung sicher auch beim 5. UPR in gut vier Jahren noch Thema sein. Angesichts äußerst begrenzter Zeit für Reaktionen beschränkte sich die deutsche Delegation darauf, das gleiche Recht auf Bildung für geflüchtete Kinder sowie die Möglichkeit zu legaler Migration durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz hervorzuheben.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie Geschlechter(un)gerechtigkeit bei Bezahlung und Partizipation waren ebenfalls Gegenstand vieler Empfehlungen. Hierzu hatte auch das FMR ausführlich Stellung genommen und beispielsweise 14.000 fehlende Plätze in Frauenhäusern sowie unzureichende Strafverfolgung von häuslicher Gewalt kritisiert. Auch die Rechte von Kindern, etwa im Kontext Inklusion, wurden häufig thematisiert. Erstaunlich viele Empfehlungen gab es für Maßnahmen zum Klimaschutz. Anlässlich des Krieges in Gaza wurden auch eine ganze Reihe kritischer Bemerkungen zu Einschränkungen von pro-palästinensischen Demonstrationen vorgetragen, worauf die deutsche Delegation mit einem klaren Bekenntnis zur Geltung des Versammlungsrechts reagierte. Zum Bedauern des FMR gab es wenig Aufmerksamkeit für die durch Pandemie und Inflation rasant gestiegene Armut und insbesondere Kinderarmut in Deutschland, was auch von der Bundesregierung offenbar nur unzureichend als menschenrechtliches Problem wahrgenommen wird. Dies verkennt auch, dass die große und wachsende soziale und ökonomische Ungleichheit ein wesentlicher Faktor für die Ausbreitung von Ideologien der Ungleichwertigkeit in der Gesellschaft ist.

Die Bundesregierung ist nun am Zug, bis zur nächsten Sitzung des Menschenrechtsrates im März 2024 zu entscheiden, welche Empfehlungen sie «akzeptiert», was einer politischen – nicht rechtlichen - Verpflichtung entspricht, sie bis zum nächsten UPR umzusetzen. Empfehlungen, die «zur Kenntnis genommen» werden, gelten faktisch als abgelehnt. 2018 waren das 50 von 259. Da viele Empfehlungen eher allgemein formuliert und damit leichter anzunehmen sind, ist es nun wieder an den Menschenrechtsorganisationen und dem DIMR, die Empfehlungen aus Genf in konkrete menschenrechtliche Forderungen zu übersetzen und darauf hinzuwirken, dass der UPR tatsächlich zu Verbesserungen vor Ort führt, wie es Ziel dieses Verfahrens ist. Albanien empfahl der Bundesregierung, im Nachgang zum UPR aktiv mit der Zivilgesellschaft zu kooperieren. Diese Empfehlung dürfte völlig unstrittig sein, denn nach dem UPR ist vor dem UPR.