Nachricht | Publikationen von Stipendiat_innen Küpeli: Die kurdische Frage in der Türkei (Transcript, 2022)

Über die gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit

Der Konflikt zwischen der Türkei und der kurdischen Bevölkerung hat eine lange und verwobene Geschichte. Um die gegenwärtigen Spannungen und die Konsequenzen der staatlichen Politik verstehen zu können, ist ein Blick in die Vergangenheit unumgänglich. Ismail Küpeli nimmt sich dieses Komplexes an und analysiert vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen die autoritäre und gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit in der Türkei. Auf dieser Grundlage formuliert er darüber hinaus Empfehlungen für eine politische Bildung, die einen Beitrag zur Anerkennung von Pluralität und Diversität sowie zu einem gesellschaftlichen Friedensprozess liefern kann.

Die vorliegende Untersuchung lenkt den Blick auf einen bisher wenig beachteten Fall jahrzehntelanger staatlicher Gewalt bzw., anders formuliert, auf den Versuch eines Gärtnerstaats, mittels Vernichtung und Vertreibung eine Staatsnation zu schaffen. Die einzelnen Vernichtungsoperationen zwischen 1925 und 1938 können und sollten im Rahmen gesonderter Studien weiter untersucht werden.

Über solche einzelnen Fallstudien hinaus regt die vorliegende Studie jedoch eine grundsätzlich kritischere Haltung gegenüber den nicht nur in der Türkei bis heute hegemonialen Vorstellungen von Nation, Nationalstaat und staatlicher Legitimität sowie gegenüber den Beziehungen zwischen Staat und Bevölkerung an. Diese Haltung darf sich nicht nur auf die wissenschaftliche Aufarbeitung beschränken, sondern sollte auch maßgeblich für eine von der kritischen Nationalismusforschung inspirierte historisch-politische Bildung sein. Kritische wissenschaftliche Forschung und politische Bildung können dazu beitragen, nationalistische Identitäten zurückzudrängen und damit Konflikte innerhalb der postmigrantischen Gesellschaft in Deutschland in einem demokratischen und pluralistischen Rahmen verhandelbar zu machen. Solche Bildungs- und Verhandlungsprozesse können wiederum Vorbilder für gesellschaftliche Friedens- und Versöhnungsprozesse in der Türkei sein. So können die aus der Fallstudie gewonnenen Erkenntnisse einen Beitrag für die Zurückdrängung nationalistischer Identitäten und den Abbau damit verbundener Konfliktlinien leisten. Dies ist beileibe nicht nur im Kontext der sogenannten kurdischen Frage in der Türkei relevant. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es auch andere Fällen in anderen Ländern gibt, bei denen bisher von Aufstandsbekämpfung oder einem Anti-Guerillakampf die Rede war, es sich aber tatsächlich um Vernichtungsoperationen handelte. Auch in diesen Fällen bedarf es einer kritischen historischen Aufarbeitung, wissenschaftlicher Forschung jenseits bisheriger hegemonialer Geschichtsnarrative sowie einer historisch-politischen Bildungsarbeit, die auf entsprechende Erkenntnisse zurückgreifen kann und damit zur Schaffung und Stärkung demokratischer und pluralistischer Gesellschaften beiträgt.

Ismail Küpeli, 2022:  Die kurdische Frage in der Türkei. Über die gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit, Bielefeld: Transcript Verlag, 256 S., ISBN 978-3-8394-6275-1, Open Access

https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-6275-7/die-kurdische-frage-in-der-tuerkei/?number=978-3-8394-6275-1

Ismail Küpeli war Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.