Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Türkei AKP verliert Mehrheit bei Kommunalwahlen in der Türkei

Erdoğans Niederlage trotz Wahlmanipulationen bringt Bewegung in Politik und Gesellschaft

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Autorin

Gökay Akbulut,

Gökay Akbulut, Mitglied des Deutschen Bundestages beobachtet die Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März 2024.
Gökay Akbulut, Mitglied des Deutschen Bundestages, kommentiert das Ergebnis der Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März 2024.
 

Im Westen der Türkei hat die sozialdemokratische CHP die Wahlen gewonnen, im Osten die linke prokurdische HDP-Nachfolgerin, DEM («Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker»). Die deutliche Niederlage der regierenden AKP kam überraschend, selbst in ihren Hochburgen in Anatolien hat sie zum ersten Mal seit 2002 deutlich an Stimmen verloren. Nicht überraschend waren jedoch die vielen Wahlmanipulationen. Erdoğans Partei versucht mit allen Mitteln die Macht zu erhalten. Unsere Autorin Gökay Akbulut, MdB der Linken war als Wahlbeobachterin vor Ort und berichtet über Manipulationen, aber auch über Erfolge der Opposition.
 

Kurz vor meiner Abreise wurde ich gefragt, warum eine internationale Wahlbeobachtung für die Kommunalwahlen in der Türkei notwendig ist. Für Personen, die nur die Kommunalwahlen in Deutschland kennen, kann sich so eine Frage durchaus stellen. Jeder der die vergangenen Wahlen in der Türkei kritisch verfolgt hat, weiß, dass es sehr viele Gründe für eine internationale Wahlbeobachtung gibt. Als stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe und Bundestagsabgeordnete, die aus politischen Gründen trotz Diplomatenpass letztes Jahr bei der Einreise in die Türkei festgenommen wurde, habe ich natürlich besonderes Interesse an der Wahlbeobachtung. Ich mache mir Sorgen um die zunehmend schwindende Demokratie in der Türkei.

Ich kann mich an keine Wahl in der Türkei erinnern, bei der es keine Manipulationsversuche gab.

Seitdem die AKP in der Türkei an der Macht ist, hat das zugenommen. Die Wahlen werden unter extrem undemokratischen Bedingungen abgehalten. Das fängt schon damit an, dass Politiker*innen gezielt mit juristischen Verfahren eingeschüchtert und beschäftigt werden. Sie werden systematisch davon abgehalten Politik zu machen. Über 5.000 Mitglieder der HDP wurden in den letzten Jahren schon verhaftet. Nach jeder Kommunalwahl werden duzende prokurdische Bürgermeister*innen abgesetzt, inhaftiert und durch Treuhänder ersetzt. Das schüchtert ein und erschwert es, Kandidat*innen zu finden.

Die AKP und die mit ihr verbündeten Parteien werden in den staatlichen Medien bevorzugt. Private Medien wurden in der Vergangenheit gezielt angegriffen, verboten und von Vertrauten übernommen. Regierungskritische Berichterstattung ist kaum noch möglich. Zudem hat es die linke prokurdische Partei immer wieder mit Verfahren zu Parteiverboten zu tun. Das führt zu Parteineugründungen, die Wahlkämpfe erschwert und teurer macht.

Die Liste der «Wahlpannen» in der Türkei ist immer besonders lang. Plötzliche Stromausfälle gehören dazu. Auffällig sind auch Zunahmen von Wahlberechtigten in manchen Straßen in den kurdischen Regionen. Beispielsweise gab es bei dieser Wahl in einer Straße in Siirt laut DEM-Bericht einen auffälligen Zuwachs von Wahlberechtigten von 20890 Prozent.

Am Vorabend des Wahltages bin ich mit unserer Wahlbeobachtungs-Delegation von Diyarbakır weiter in den Osten nach Siirt gefahren, um dort den Wahlgang aus direkter Nähe zu beobachten. Zehntausende türkische Sicherheitskräfte wurden mit Bussen in die kurdischen Städte gebracht. Die Kennzeichen dieser Busse waren überklebt. Da stand dann «AK Parti» (die Partei von Erdoğan) drauf. Es waren türkische Soldaten, die aus anderen Teilen der Türkei oder auch aus dem völkerrechtswidrig besetzten Teil Nordostsyriens dorthin gebracht wurden. Allein in Siirt waren es 6.000 bis 7.000 solcher Soldaten von auswärts, die ihre Stimmen abgegeben haben. Diese jungen Männer waren zivil gekleidet. Sie hatten also keine Uniform an. Man konnte es allerdings deutlich sehen, dass es Soldaten oder andere Sicherheitskräfte waren. Die Männer hatten alle kurze Haarschnitte und sind in Gruppen in die Wahllokale reingegangen. Sie wurden gesondert beschützt. Die Sicherheitskräfte haben uns den Zugang zu Wahllokalen versperrt. Wir hatten keine Chance reinzukommen.

Es waren keine fairen und demokratischen Wahlen. In den kurdischen Gebieten im Südosten ist es an vielen Orten zu Wahlfälschungen und Manipulationen gekommen. Überall war Militär, vor den Wahllokalen standen Soldaten mit Maschinengewehren. Wasserwerfer wurden aufgefahren. Das sollte die Menschen vom Wählen abhalten. Sie haben sich aber nicht einschüchtern lassen. In Siirt beispielsweise hat die DEM die Wahlen trotzdem gewonnen. Die zur Wahl extra eingefahrenen Soldaten konnten zwar die Stimmen der AKP-Kandidat*innen deutlich erhöhen, jedoch den Sieg der DEM-Kandidat*innen nicht verhindern. Es gab aber auch Provinzen, wie z. B. Sirnak oder Bitlis, bei denen die Wahlmanipulationen zu einem Sieg der AKP geführt haben.

Großer Skandal in Van

Der Bürgermeisterkandidat der DEM-Partei, Abdullah Zeydan hat offiziell mit 55.48 Prozent der Stimmen die Kommunalwahl in Van gewonnen. Damit hat er fast 30 Prozent Vorsprung vor dem zweitplatzierten Kandidaten der Regierungspartei AKP. Die Wahl in Van wird so schnell niemand vergessen, denn der Wahlsieg wurde zwei Tage später annulliert und der abgeschlagene Kandidat von Erdoğans AKP zum Bürgermeister ernannt.

Abdullah Zeydan wurde 2016 inhaftiert, nachdem er mit anderen HDP-Abgeordneten an einer Bestattung von Guerilla-Kämpfern teilgenommen hatte. Die Kämpfer waren beim Kampf gegen den IS gefallen. Zeydan wurde wegen angeblicher Unterstützung einer Terrororganisation verurteilt und im Jahre 2022 aus dem Gefängnis entlassen. Nach Abschluss aller rechtlichen Verfahren (bezüglich Politikverbot) hat er sich beim Obersten Wahlausschuss für die Kommunalwahl beworben. Seine Kandidatur wurde nach Prüfung durch die Wahlleitung angenommen.

Es bewegt sich etwas in der Türkei – und das macht Hoffnung.

Am Freitag vor der Wahl ist das Justizministerium – fünf Minuten vor Arbeitsschluss – in Bezug auf das bereits 2022 abgeschlossene Verfahren zum Politikverbot initiativ geworden, um Zeydan als Bürgermeister zu verhindern.

Die DEM-Partei hat dagegen Einspruch eingelegt – mit Erfolg. Ein Erfolg von Oppositionellen bei der obersten Wahlbehörde in der Türkei ist nicht selbstverständlich, denn die Türkei ist weit entfernt, ein Rechtsstaat zu sein. Sehr wahrscheinlich haben die internationalen Proteste und Solidaritätsbekundungen für Zeydan und die DEM dazu beigetragen. Die Proteste gegen diesen kriminellen Vorgang waren außergewöhnlich groß und breiteten sich sehr schnell aus. Vor allem in den kurdischen Gebieten gab es große Proteste, aber auch in Deutschland und Frankreich haben Menschen dagegen protestiert – mit Unterstützung von Politiker*innen/Mandatsträger*innen. Solidarität mit der DEM gab es auch von der sozialdemokratischen Oppositionspartei, dem Wahlsieger im Westen der Türkei, der CHP. Die CHP hat landesweit mehr Stimmen als die AKP erhalten. Ein landesweiter Protest der gesamten Opposition ist jetzt nötig, damit der Druck dem Erdoğan-Regime unangenehm wird.

Naht das Ende von Erdogan?

Das Erdoğan-Regime hält trotz Wahlschlappe und angekündigter Kurskorrektur an ihrem undemokratischen Regieren fest. Ein Grundsatz der Demokratie ist es den Willen des Volkes zu respektieren. Davon ist das Erdoğan-Regime weit entfernt.

Eine zentrale Rolle bei der Wahlniederlage von Erdoğan spielt die Wirtschaftskrise. Die hohe Inflation, die Arbeitslosigkeit, die Armut – all das hat Erdoğan zu verantworten. Sein Regime hat außerdem das Land in den vergangenen 22 Jahren islamisiert. Große Teile der Bevölkerung sagen jetzt: Es reicht. Die Türkei ist ein laizistischer Staat.

Fakt ist: Die Kommunalwahl 2024 ist eine schwere Niederlage für Erdoğan und die AKP. Diese Wahl hat gezeigt: Es ist möglich, die AKP zu besiegen. Ich hoffe, dass eine neue Ära eingeleitet wird – zurück zur Demokratie. Die Opposition hat in den letzten Jahren nur Niederlagen erlitten. Das hat zu Frustration und Ohnmacht geführt. Aber: Erdoğan kämpft um seine Macht. Und ich glaube nicht, dass er demokratisch und friedlich seinen Rückzug verkünden wird. Womöglich droht neue Repression gegen Oppositionelle. Trotzdem: Es bewegt sich etwas in der Türkei – und das macht Hoffnung. Alle Parteien sind jetzt dabei, sich zu sortieren. Ein Anfang aber ist gemacht