Nachricht | Südosteuropa - Griechenland Die unbekannten Toten von Lesbos

Vier Jahre nach dem Brand in Moria entsteht auf Lesbos die nächste Generation von Flüchtlingslagern mit haftähnlichen Bedingungen

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Zeremonie auf dem Friedhof der Flüchtlinge in der Nähe des Dorfes Kato Tritos auf Lesbos am 17.4.2024 Foto: Hibai Arbide Aza

Die Nummer 197 steht am linken, oberen Rand der Grabeinfassung. Daneben ist eine kleine Steintafel in den grauen Beton eingelassen. Die schlichte Aufschrift lautet: «ΑΓΝΩΣΤΟΣ – UNKOWN». In den meisten der Gräber auf dem Flüchtlingsfriedhof auf der griechischen Insel Lesbos liegen namenlose Leichen. Sie wurden am Strand angespült oder sind in den Flüchtlingslagern Moria und Kara Tepe verstorben. In den kleineren Gräbern liegen die Kinder. Der 198. Tote wurde erst beerdigt. Ein schmaler Hügel aus noch lockerer Erde liegt über auf dem Grab.

Boris Kanzleiter leitet das Länderbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Athen.

Lesbos im April 2024: Die griechische Insel vor der nahen türkischen Küste, die man vom Strand aus deutlich erkennen kann, ist schon lange aus den Schlagzeilen verschwunden. In den Jahren nach dem «langen Sommer der Migration» vor neun Jahren, als Hundertausende Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten Syriens, Iraks und Afghanistans versuchten über die Türkei in das vermeintlich sichere Europa zu gelangen, galt Lesbos als ein Symbol für die Abschottungspolitik der Europäischen Union. Das riesige Camp in Moria war damals das größte Flüchtlingslager Europas. Bis zu 20.000 Menschen hausten hier eingepfercht hinter Stacheldraht in Zelten. Die hygienischen Bedingungen waren unmenschlich. Im September 2020 brannte das Lager ab. Seitdem ist es in den Medien ruhig geworden um Lesbos.

Das Gräberfeld auf dem Olivenhain in der Nähe des Dorfes Kato Tritos war lange Zeit mit Altmetall, Flaschen und Plastikabfall übersäht. Gestrüpp wucherte über das Gelände. Die einsamen, unbekannten Toten haben keine Familie oder Freund*innen auf Lesbos, die sich um ihre Gräber kümmern könnten. Sie sind auf dem Weg aus Afghanistan, Syrien oder Nigeria nach Europa gestorben.

Aber auch sonst kümmerte sich niemand um den Friedhof, der auch vielen Einwohner*innen der Insel unbekannt ist. Es war die Initiative einer Nichtregierungsorganisation, den Flüchtlingsfriedhof endlich würdevoll zu gestalten. Unterstützung erhielt sie dafür vom Verein Armut und Gesundheit aus Deutschland, der von Gerhard Trabert geleitet wird, einem der vier Spitzenkandidaten der Linken für die Europawahl.

Der Arzt und Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie ist auch zur Eröffnungszeremonie gekommen. In seiner Rede vor den Trauergästen spricht er von der «Schande», die Europa an seinen Außengrenzen jeden Tag auf sich lade. Er bedankt sich bei den Menschen, die sich auf Lesbos für die Pflege des Friedhofes eingesetzt haben. Das Engagement für Flüchtlinge ist hier ein Risiko, selbst wenn es sich um Tote handelt. Davon zeugt eine zerbrochene Tafel, die zwei Tage vor der Zeremonie zerstört worden war.

Das Community Center «Parea» der Organisation «Europe Cares». Dort werden Flüchtlinge unterstützt. Foto: Hibai Arbide Aza

«… mindestens ein menschliches Begräbnis …»

Auch Nilab Taufiq ist aus Deutschland auf den Friedhof gekommen. Die junge Frau ist selbst aus Afghanistan nach Deutschland geflohen und kennt das bittere Leben als Flüchtling. Seit Jahren setzt sie sich für die Rechte der Menschen auf der Flucht, für Frieden und Gerechtigkeit ein. «Es gibt weltweit Tausende von Organisationen, die sich für das Leben oder Lebensrettung einsetzen», spricht Nilab Taufiq in das Mikrofon, das am Rande des Gräberfeldes aufgebaut ist. «In diesen Zeiten des Krieges habe ich persönlich allerdings verstanden, dass ein würdevoller Tod oder mindestens ein menschliches Begräbnis genauso wichtig sind», sagt sie vor den Trauergästen in Kato Tritos.

In Gesprächen mit Vertreter*innen lokaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen wird schnell deutlich, dass das Leiden der Flüchtlinge weitergeht. Es kommt auf Lesbos unter den Augen der Europäischen Union zu schweren Menschenrechtsverletzungen, die der öffentlichen Aufmerksamkeit bedürfen. Aus Vorsicht vor Strafverfolgung durch die griechischen Behörden und Übergriffen durch Rechtsextremisten äußern sich die Aktivist*innen allerdings sehr vorsichtig. Ihre Namen möchten die meisten lieber nicht veröffentlicht sehen. «Auf Lesbos kennt jeder jeden. Gewalttätige Rechtsextreme arbeiten mit der Polizei und rechten Politikern zusammen. Man muss aufpassen, was man sagt», sagt eine Aktivistin in einem Büro in der Inselhauptstadt Mytilini.

Aber die Berichte von Organisationen wie dem Lesbos Legal Centre, dem Border Violence Monitoring Network oder den Ärzten Ohne Grenzen, die sich auf der Insel für den Schutz der Flüchtlinge engagieren, zeichnen ein klares Bild: In der Ägäis, dem nordöstlichen Teil des Mittelmeers zwischen der Türkei und Griechenland, haben die griechischen Behörden im Zusammenspiel mit der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX die unabhängige Seenotrettung in den vergangenen Jahren praktisch verunmöglicht. Ein von der rechtskonservativen Regierung unter Premierminister Kyriakos Mitsotakis 2020 beschlossenes Gesetz kriminalisiert unter dem Stichwort des «Kampfes gegen Schlepperkriminalität» tatsächlich potenziell alle, die Flüchtlingen aus Notlagen helfen. Allein die Kontaktaufnahme zu an Land gelangenden Geflüchteten kann bereits als Fluchthilfe ausgelegt werden und mit hohen Haftstrafen belegt werden. Etwa 2.000 Menschen sind in Griechenland derzeit – teilweise unter menschenunwürdigen Haftbedingungen – wegen «Beihilfe zur illegalen Einreise» und ähnlicher Straftaten inhaftiert, die meisten davon selbst Flüchtlinge wie der Iraner Homayoun Sabetara, der von einem Gericht in Thessaloniki zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er ein Auto gelenkt hat, in dem sieben Flüchtlinge ohne Papiere saßen.

Das Flüchtlingscamp Kara Tepe auf Lesbos wurde nach dem Brand im Lager Moria gebaut. Hier leben heute etwa 2.000 Flüchtlinge. Foto: Hibai Arbide Aza

Illegale Pushbacks nicht mehr zu leugnen

Während die Seenotrettung kriminalisiert wird, üben sich die griechischen Behörden offenbar selbst in illegalen Praktiken. Die Mitarbeiter*innen der Menschenrechtsorganisationen auf Lesbos erklären, dass die sogenannten Pushbacks zu einer täglichen Praxis geworden seien. In zahlreichen Berichten wird nachgezeichnet, wie die Polizei und die Griechische Küstenwache Flüchtlinge auf dem Wasser oder sogar auf dem Land abfangen und mit Gewalt wieder zurück auf türkisches Hoheitsgebiet bringen. Dabei werden Flüchtlinge nicht selten in Lebensgefahr gebracht. Berichte über die Pushbacks von Nichtregierungsorganisationen, aber auch dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR und der offiziellen Griechischen Nationalen Kommission für Menschenrechte, gibt es seit Jahren. Sie haben aber kaum etwas bewirkt. Die griechischen Regierungsstellen weisen die Vorwürfe von sich. Die europäischen Institutionen verschließen die Augen.

«Verändert hat sich die Situation erst im Mai vergangenen Jahres, als die New York Times über die Pushbacks berichtete», erklärt eine Aktivistin des Border Violence Monitoring Network auf Lesbos. «Seitdem können die Pushbacks nicht mehr geleugnet werden.» Auf dem Videomaterial der New York Times ist deutlich zu sehen, wie eine Gruppe von 12 Flüchtlingen – darunter Kinder – von maskierten Männern in einen Lieferwagen verladen und anschließend von der Küstenwache auf einer Rettungsinsel in die Ägäis geschleppt werden, wo sie von der türkischen Küstenwache übernommen werden. Diese Praxis wird als Pullback bezeichnet. Im Zusammenspiel der griechischen und türkischen Küstenwachen wird der Grenzübertritt verhindert. Eine Antragstellung auf Asyl auf dem Territorium der Europäischen Union wird so verunmöglicht.

«Das Vorgehen der griechischen und türkischen Küstenwache widerspricht geltenden Gesetzen und Flüchtlingsschutzkonventionen. Politisch allerdings liegt es im Interesse der neuen Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik (GEAS), die Anfang April vom Europäischen Parlament beschlossen wurde.», erklärt Lea Reisner, die mit einer Delegation der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Situation der Flüchtlinge auf Lesbos untersucht. Die gelernte Krankenschwester Reisner war von 2017 bis 2022 selbst auf Seenotschiffen im Einsatz. Wie Gerhard Trabert ist sie Kandidatin der Linken für das Europaparlament. «Mit GEAS wird die Festung Europa weiter abgeschottet. Die Menschenrechte bleiben auf der Strecke», sagt sie.

Das Closed Controlled Access Centre (CCAC) in Vastria auf Lesbos befindet sich im Bau. Die neuen Asylregeln der EU sehen vor, dass hier unter haftähnlichen Bedingungen sogenannte Grenzverfahren durchgeführt werden.
  Foto: Hibai Arbide Aza

Flüchtlinge sollen unsichtbar werden

Tatsächlich befürchten auch die Aktivist*innen der Menschenrechtsorganisationen auf Lesbos nach dem Beschluss des Europäischen Parlamentes eine weitere Verschärfung der Lage. «Ein wesentlicher Unterschied wird darin liegen, dass Flüchtlinge in Zukunft unter haftähnlichen Bedingungen in die Camps eingesperrt werden, wenn sie einen Asylantrag stellen wollen», erklärt die Mitarbeiterin des Border Violence Monitoring Network. Mit dieser de facto Inhaftierung, die auch Kinder betreffen wird, soll die Möglichkeit von schnellen Abschiebungen in sogenannte sichere Drittstaaten geschaffen werden, falls der Asylantrag abgelehnt wird. Die rechtliche Grundlage für die geplanten Internierungen ist eine fiktive Nichteinreise der Flüchtlinge in die Europäische Union, obwohl sie physisch die Grenze überquert haben. Ähnlich wie Fluggäste im Transitbereich eines Flughafens werden die Flüchtlinge solange nicht offiziell in die Europäische Union eingereist sein, bis über ihren Asylantrag in einem sogenannten Grenzverfahren entschieden wurde.

Auf Lesbos wird sich diese Veränderung voraussichtlich mit der Eröffnung eines neuen Closed Controlled Access Centre (CCAC) in Vastria vollziehen, das derzeit errichtet wird. Im Vergleich zum relativ offenen Lager in Kara Tebe, das nach dem Brand in Moria am Strand bei Mytilini gebaut wurde, wird das neue CCAC ein sehr geschlossenes und abgelegenes Lager sein. Die riesige Baustelle mutet von einem naheliegenden Hügel betrachtet an wie ein Braunkohletagebau. In Mitten eines Waldes wird das Camp in ein Tal gegraben. Die weißen Wohncontainer und Verwaltungsgebäude sind von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben. Der nächste bewohnte Ort ist viele Kilometer weit entfernt.

Der Plan ist klar: Es geht offenbar darum, jeden Kontakt mit den Flüchtlingen zu verhindern und die Menschen im Camp rund um die Uhr kontrollieren zu können. Je weniger die Flüchtlinge sichtbar sind, desto ungestörter können ihre grundlegenden Menschenrechte verletzt werden. Wie die anderen geschlossenen Camps auf den Inseln Samos, Kos, Leros und Chios, die in den vergangenen Jahren bereits gebaut wurden, wird auch das Camp in Vastria komplett von der Europäischen Union finanziert.