Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Partizipation / Bürgerrechte - Krieg / Frieden - USA / Kanada - Israel - Palästina / Jordanien Was ist los an den Universitäten in den USA?

Der Streit um die Proteste gegen den Gaza-Krieg

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Ein Demonstrant mit einer Kufiya schwenkt die palästinensische Flagge.
Studierende demonstrieren auf dem Gelände der George-Washington-Universität gegen Israels Invasion in Rafah (Washington, D.C., 7.5.2024). Foto: IMAGO / Middle East Images

In den USA reißen die Proteste gegen den Krieg, den Israel im Gazastreifen gegen die Hamas führt, nicht ab. Im Gegenteil: Seit Wochen wenden sich insbesondere Studierende gegen die Unterstützung der israelischen Kriegführung durch die US-Regierung, aber auch gegen die Verwendung ihrer Studiengebühren zur indirekten Finanzierung des Krieges. Derzeit kommen täglich, insbesondere an den Hochschulen, neue Aktionen hinzu.

Stefan Liebich leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York City.

Mit ihrem Protest macht die Protestbewegung weltweit Schlagzeilen. Wie darüber berichtet wird, ist allerdings bereits Teil der Auseinandersetzung. In den USA selbst wird den Leser*innen der «New York Times» beispielsweise eine völlig andere Realität präsentiert als den Zuschauer*innen von Fox News.

Für das nicht sonderlich um Fakten bemühte deutsche Boulevard-Blatt «Bild» ist der Sachverhalt klar: «Anti-Israel-Demos in den USA eskalieren komplett, Judenhasser-Studenten stürmen Elite-Uni». Glaubt man dem Axel-Springer-Verlag, sind die Universitäten im Land inzwischen vollständig in den Händen der Hamas.

Tatsächlich ließ der New Yorker Bürgermeister, Eric Adams, Anfang Mai ein besetztes Gebäude der Columbia University gewaltsam räumen. Zeitgleich wurde in Los Angeles das Palästina-Solidaritätscamp an der UCLA von Dutzenden maskierten Männern mit roher Gewalt überfallen, während die Polizei zusah. (Später räumte sie das Camp.) Im «Deutschlandfunk» hörte ich dann zu meinem Erstaunen am nächsten Morgen: «An der University of California in Los Angeles kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Laut CNN sind dabei rivalisierende Protestgruppen aneinandergeraten. Anhänger beider Seiten gingen mit Stöcken aufeinander los.» Das aber entsprach keineswegs den – leicht nachprüfbaren – Fakten.

Die Tradition studentischen Protests

Was ist also wirklich los? In den USA haben Studierendenproteste eine lange Tradition. Viele junge Leute kämpften gegen die Apartheidpolitik in Südafrika, unterstützten die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung oder protestierten gegen den Vietnamkrieg. Bei letzterem wurden 1968 ebenfalls Gebäude der Columbia University besetzt, und auch damals räumte die New Yorker Polizei.

Die Kernforderung der Studierenden war damals wie heute dieselbe: nämlich, dass sich die Universität aus der Finanzierung des Krieges zurückzieht. Hier es gibt einen wichtigen Unterschied zu Hochschulen in Deutschland. Denn die Studierenden in den USA finanzieren die Bildungseinrichtungen, die zugleich milliardenschwere Wirtschaftsunternehmen sind, mit ihren horrenden Studiengebühren zum großen Teil selbst. Die Columbia University meldete unlängst ein Vermögen von 13,6 Mrd. US-Dollar – das ist zehn Mal so viel wie das Jahresbudget der Humboldt-Universität und der Freien Universität in Berlin zusammen. Und diese Unsummen werden gewinnbringend angelegt, auch im Ausland und auch bei Rüstungsunternehmen.

Die aktuelle Hauptforderung der Studierenden in den USA ist deshalb, dass ihre Studiengebühren nicht im Gaza-Krieg verwendet werden. «Es ist so schwer, hier zu sein und zu wissen, dass die Studiengebühren, die ich bezahle, zur Finanzierung des Genozids in Gaza verwendet werden. Ich habe das ganze Jahr über aus Solidarität an Märschen und Protesten teilgenommen», sagt eine Studierende der Columbia University.

Aber es gibt auch andere Stimmen. «Viele israelfreundliche Studenten berichteten, dass sie sich nicht willkommen fühlten, und organisierten ihre eigenen Gegenproteste auf dem Campus und in der Umgebung», berichtet das Team vom «Columbia Daily Spectator», einer Zeitung von Studierenden der Universität.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung war kürzlich bei der New School, einer weiteren New Yorker Hochschule, zu Gast, unsere Kollegin Mariana Fernández berichtete im Anschluss: «Die Konferenz fand vor dem Hintergrund der anhaltenden Studierendenproteste auf dem Universitätsgelände der Stadt statt. Zwei Podiumsdiskussionen, eine zum Thema Ökologie und eine weitere zum Thema Palästina/Israel, wurden vom Konferenzraum ins Gaza-Solidaritätscamp verlegt. Im Vordergrund der Forderungen der Studierenden stand der Abzug von kriegs- und waffenbezogenen Geldern.»

Der politische Streit über die Proteste

Auch wenn Außenpolitik in den USA traditionell eine geringere Rolle spielt als in Deutschland, sind der Krieg in Gaza und die Proteste dagegen inzwischen zum Gegenstand erregter politischer Auseinandersetzungen avanciert. Die Demokratische Partei ist in dieser Frage zerrissen. Auf der linken Seite gibt es große Solidarität mit den Protestierenden. So kritisierte etwa die New Yorker Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez den Polizeieinsatz an der Columbia University mit deutlichen Worten. Demgegenüber warnte der zunehmend unter Druck geratene US-Präsident Joe Biden, dass es nicht zu Unruhen kommen dürfe.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums, in der Republikanischen Partei, sieht man die Proteste hingegen als eine willkommene Gelegenheit, von den Strafprozessen gegen ihren Präsidentschaftskandidaten abzulenken. Donald Trump selbst lobte das Vorgehen der Polizei in New York und Los Angeles und fügte hinzu: «Das sind linksradikale Verrückte, und sie müssen jetzt gestoppt werden, denn es wird immer weitergehen und immer schlimmer werden. Sie übernehmen Länder. Wir werden nicht zulassen, dass sie die USA übernehmen. Wir werden nicht zulassen, dass die linksradikalen Idioten dieses Land übernehmen.»

Aber warum spielen die Konflikte zwischen Israel und seinen Nachbarn in den USA eine derart herausgehobene Rolle? Zum einen liegt dies daran, dass die USA – politisch, finanziell und militärisch – der größte Unterstützer Israels sind. Zum anderen hängt dies mit der demographischen Komposition der Bevölkerung zusammen. In den USA leben fast genauso viele Jüdinnen und Juden wie in Israel selbst. Zugleich gibt inzwischen auch eine große Community von Amerikaner*innen, deren Familien aus arabischen Ländern eingewandert sind.

Dabei muss man aber unbedingt differenzieren, denn die Diversität ist auch innerhalb dieser Gruppen groß. So ist die jüdische Gemeinde in den USA über das Vorgehen Israels seit langem geteilter Meinung; an den propalästinensischen Campus-Protesten beteiligen sich auch viele Jüdinnen und Juden. Derzeit halten 42 Prozent der unter 35-jährigen US-amerikanischen Jüdinnen und Juden die Art und Weise, wie Israel auf die Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 reagiert, für «inakzeptabel».

Das bedeutet aber natürlich nicht, dass es Antisemitismus in den USA oder an US-amerikanischen Universitäten nicht gebe. Er hat in den letzten Jahren sogar eher zugenommen.

Doch der Einschätzung des israelischen Ministerpräsidenten, Benjamin Netanjahu, der die Proteste in den USA pauschal als antisemitisch verurteilt hatte, entgegnete der linke Senator Bernie Sanders aus Vermont, dessen gesamte Familie väterlicherseits im Holocaust getötet wurde: «Herr Netanjahu, Antisemitismus ist eine abscheuliche und ekelhafte Form der Bigotterie, die vielen Millionen Menschen unaussprechliches Leid zugefügt hat. Aber beleidigen Sie bitte nicht die Intelligenz des amerikanischen Volkes, indem Sie versuchen, uns von der unmoralischen und illegalen Kriegspolitik Ihrer extremistischen und rassistischen Regierung abzulenken.»

Gehört werden aber auch die arabischen Stimmen. Die Proteste, die in ihrer Mitte begannen, motivieren inzwischen viele, insbesondere junge, progressive und schwarze Wähler*innen, zum Protest gegen die Biden-Regierung. Deren Unterstützung aber benötigt der Präsident dringend für seine Wiederwahl. Bei den Vorwahlen der Partei gibt es Kampagnen, mit dem Stimmzettel gegen die Unterstützung Israels durch Biden zu protestieren. Bis jetzt haben dort, wie John Nichols in der Wochenzeitung «The Nation» berichtet, bereits mehr als eine halbe Million Amerikaner*innen Biden ihre Stimme verweigert (sie nutzten dafür die Optionen «Uncommitted», «Uninstructed» oder «No Preference»). Sie wollen dem Präsidenten auf diese Weise die Botschaft senden, dass das Töten in Gaza unverzüglich beendet werden müsse. Angefangen hatte diese Kampagne im Bundesstaat Michigan, wo Mitte Februar über 100.000 Wähler*innen die «Uncommitted»-Option auf dem Vorwahlzettel für ihren Protest nutzten.

Da für die Präsidentschaftswahl im November mit einem knappen Ausgang zu rechnen ist, stellt der Gaza-Krieg eine Herausforderung für die Demokraten dar. Sollte nicht bald ein Waffenstillstand beschlossen und eingehalten werden, könnte er möglicherweise gar über die Besetzung des Weißen Hauses (mit) entscheiden.

Fest steht aber bereits jetzt: Die lange Geschichte der US-Studierendenproteste ist um ein Kapitel erweitert worden.