Dokumentation Geschlecht und Revolution

Podiumsgespräch zwischen Luise Meier (Berlin) und Klaus Theweleit (Freiburg)

Information

Veranstaltungsort

FMP1
Franz-Mehring-Platz 1
10243 Berlin

Zeit

19.10.2023

Veranstalter

Uwe Sonnenberg, Frank Engster,

Ein Gespräch mit Klaus Theweleit und Luise Meier im Rahmen der Konferenz
«1923. Sattelzeit der Revolution – Umbrüche in Politik, Kultur und radikaler Gesellschaftskritik»

1923 war auch ein Schicksals- und Wendejahr linker Theorie und Praxis: Im letzten Scheitern der Revolution und angesichts faschistischer Putsche muss die Linke sich auf nicht- oder gegenrevolutionäre Zeiten einstellen. In der Theoriebildung wirkt sich das zunächst einmal produktiv aus. Eine komplexe und vielstimmige Debatte entsteht, mit Lukács' «Geschichte und Klassenbewusstsein» und Korschs «Marxismus und Revolution» erscheinen Werke, die später als Geburtsurkunden des «westlichen» oder des «Neo-Marxismus» gelesen werden. Linke politische Praxis hingegen wird marginalisiert, begibt sich in den Rahmen des parlamentarischen Systems oder beugt sich zugleich Vorgaben aus Moskau. Die faschistische Bewegung übernimmt die Initiative.

Welche Rolle spielen in dieser widersprüchlichen Situation die Geschlechter, die Körper, die Lüste? Diese Frage wollen wir mit Klaus Theweleit und Luise Meier diskutieren. In seinen «Männerphantasien» hat Klaus Theweleit vor fast einem halben Jahrhundert gezeigt, dass der Sieg der Konterrevolution und der Aufstieg des Faschismus auch als geschlechterpolitische und psychodynamische Bewegung verstanden werden muss. Aber steht der „soldatische Mann“ immer nur rechts? Wie sehen die Geschlechter- und Körpermodelle der Linken aus? Luise Meier vertritt die These, dass es hier im Zeichen des «Proletkult» auch Öffnungen und Ent-Härtungen gegeben hat, wie zart und ephemer diese auch gewesen sein mögen. Die Linke hat sich im abgelaufenen Jahrhundert immer wieder und durchaus widersprüchlich auf die revolutionäre Sattelzeit von 1923 bezogen. Wir wollen die Diskussion also nicht nur historisch führen, sondern auch mit Blick auf unsere Gegenwart und den Wandel im Lauf der vergangenen 100 Jahre.

  • Klaus Theweleit, geb. 1942, war im SDS aktiv. Mit dem zweibändigen Werk «Männerphantasien», erschienen 1977/78 im Verlag Roter Stern/Stroemfeld, hat er die Theoriedebatte der BRD revolutioniert. In seinen vielbändigen Buchzyklen «Das Buch der Könige» und «Pocahontas» hat er die Geschichten und Gegengeschichten männlicher und kolonialer Herrschaft in Kunst, Kultur und Politik aufgezeichnet. Sein Werk erscheint seit 2019 bei Matthes und Seitz Berlin.
  • Luise Meier, geb. 1985, ist freie Autorin, Theatermacherin, Dramaturgin und Performerin. 2018 erschien bei Matthes und Seitz Berlin ihr Buch «MRX Maschine«. Derzeit arbeitet Meier an dem Essay «Proletkult vs. neoliberale Denkpanzer» sowie an einem utopischen Near-Future/Science-Fiction-Romanprojekt, das 2024 erscheinen wird. 
  • Moderation: Patrick Eiden-Offe (ZfL, Berlin)

Geschlecht und Revolution: Ein Gespräch mit Klaus Theweleit und Luise Meier

Details

Gespräch im Rahmen der Konferenz «1923. Sattelzeit der Revolution – Umbrüche in Politik, Kultur und radikaler Gesellschaftskritik». Moderation: Patrick Eiden-Offe

Einführende Überlegungen zur «Sattelzeit der Revolution» – vorab des Gespräches von Klaus Theweleit und Luise Meier über «Geschlecht und Revolution»

von Patrick Eiden-Offe (Berlin, 19. Oktober 2023)

Das Jahr 1923 wurde in diesem Jahr – einhundert Jahre später – oft als «Schicksals»- und Wendejahr der deutschen und der europäischen Geschichte apostrophiert: als ein chaotisches, wenigstens aber außerordentlich ereignisreiches Jahr. Einige der Ereignisse seien benannt: die Besetzung des Ruhrgebiets durch belgische und französische Truppen, die Hyperinflation, eine damit einhergehende starke innenpolitische Polarisierung und Destabilisierung.

1923 war auch das Jahr, in dem letzte Versuche, eine Revolution in Deutschland erfolgreich zu Ende zu bringen, endgültig scheitern, exemplarisch geradezu im sogenannten Hamburger Aufstand. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gibt es großangelegte faschistische Putschversuche, etwa den Hitler-Ludendorff-Putsch in München, sowie ein antisemitisches Pogrom auch hier im angeblich so roten Berlin. In Italien wird unter Mussolini weiter das erste faschistische Regime Europas installiert. In Russland liegt Lenin im Sterben, die Kämpfe um die Nachfolge haben längst begonnen. Unmittelbar nach seinem Tod im Frühjahr 1924 beginnen Prozesse, die man im Rückblick als Beginn der «Stalinisierung» der kommunistischen Herrschaft bezeichnen muss. Man könnte also mit gutem Grund auch eine Tagung veranstalten mit dem Titel: «1923 – Niedergang der Revolution».

Wir haben einen anderen Titel für unsere Tagung gewählt; wir sagen – in der Wertung neutraler – «Sattelzeit» statt «Niedergang»; unsere Tagung heißt «1923 – Sattelzeit der Revolution». Warum? Mit dem Begriff der Sattelzeit schlagen wir eine bestimmte Interpretation von 1923 vor, wie sieht diese aus?

Der Begriff der «Sattelzeit» geht auf den Historiker Reinhard Koselleck zurück. «Sattelzeit» ist zunächst einmal eine Metapher, und sie bezieht sich als solche nicht auf den Reitsattel – wie das Motiv auf unserem Tagungsplakat nahegelegen könnte –, sondern auf den Bergsattel, also auf die Passhöhe in einer Gebirgskette, also etwas, so könnte man salopp sagen, wo man rüber muss, und wenn man oben ist, kann man nach beiden Seiten runterschauen.

«Sattelzeit» ist für Koselleck eine historische Schwelle (für Koselleck eigentlich immer nur die Schwelle der Zeit um 1800), auf der sich ein tiefgreifender Wandel und Umbau der Sozialstruktur, der Wirtschaftsweise und der politischen Ordnung vollzieht – und damit zusammenhängend auch ein «Bedeutungswandel» im gesamten kulturellen Sinngebungssystem der Gesellschaft. Dieser Bedeutungswandel operiert nun aber in einer Sprache und mit Begriffen, die wenigstens an der Oberfläche zunächst einmal sehr ähnlich aussehen wie die Sprache und die Begriffe zuvor, vor der Wende oder Schwelle. Das ist aber auch klar: Man kann keine neue Sprache aus dem Nichts erfinden, egal wie neu die Sachverhalte sind, die man in der Sprache besprechen will.

Diese Wörter und Begriffe bleiben also die alten, sie werden aber mit «neuen Sinngehalten» aufgeladen, wie es bei Koselleck heißt. Damit «tragen» die Wörter und Begriffe, so Koselleck, «ein Janusgesicht»: Sie schauen nach hinten, in die vergangene Zeit, aus der sie stammen, die aber kaum noch verständlich ist, und sie schauen nach vorn, in eine Zukunft, in der sich die neuen «Bedeutungsgehalte» erst noch verwirklichen und mit «Erfahrung» anreichern müssen. Diese Janusköpfigkeit erlaubt einen offenen Blick nach hinten und nach vorn, und dieser Umstand erlaubt, so denken wir, eine Übertragung der Rede von der Sattelzeit auf 1923, auf die Jahre nach dem 1. Weltkrieg.

Die Sattelzeit ist als Zeit zwischen den Zeiten (so könnte man ein bisschen pathetisch oder sogar theologisierend sagen) gekennzeichnet; sie zeichnet sich durch eine große Offenheit und eine große Produktivität aus, es werden (sprachlich-gedankliche) Experimente gemacht, um die neuen Erfahrungen zu verarbeiten, um neue Sprechweisen an den neuen «Sinngehalten» auszuprobieren. Diese Offenheit und Produktivität zeigt sich im Feld der Theoriegeschichte, in der marxistischen Theoriebildung, etwa bei Lukács, Korsch, Bloch, Benjamin (um die es schon in mehreren Sektionen unserer Tagung gegangen ist), die Offenheit und Produktivität zeigen sich aber auch in Kunst und Literatur: 1922/23 geht die literarische Moderne gewissermaßen durch die Decke; zu denken wäre an James Joyce Ulysses, an Virginia Woolf, Jacob’s Room, an T.S. Eliot, The Wasteland, an Katherine Mansfield, The Garden Party, auch Brechts Trommeln in der Nacht wird uraufgeführt. Arnold Schöneberg veröffentlicht erste Kompositionen in der Zwölftonmethode, etwa die Serenade op. 24. Bezogen auf andere Felder könnte zum Beispiel noch Sigmund Freuds Publikation von Das Ich und das Es nennen, oder Le Corbusiers Manifest Vers une architecture.

Diese Offenheit hält aber nicht lange an: Sobald die neuen Sprachen und Sinngebungssysteme sich eingespielt haben, kommt es zu neuen Schließungen und starren Normierungen. Das zeigt sich politisch etwa in der Entwicklung der KPD, aus der nach dem gescheiterten «Deutschen Oktober» alle dissidenten Elemente ausgeschlossen werden.  Aber auch die neuen Theoriegebäude wollen sich etablieren und stabilisieren, es werden neue Orthodoxien ausgebildet; das gilt im Neo-Marxismus und der kritischen Theorie genau wie bei Freud. Und das gilt teilweise auch in der Kunst und der Literatur; schnell bildet sich so etwas wie eine kanonische «klassische Moderne» heraus.

Der Sattel ist dann überschritten.

Ein letzter Punkt soll vorweg noch genannt werden: Der herausgehobene, offene Charakter der Sattelzeit-Formation prädestiniert diese dazu, dass spätere Generationen können sich auf diese Formation beziehen können. Die (politisch-theoretisch-künstlerische) Formation von 1923 wird zu einem immer wieder aktualisierbaren Bezugspunkt für jüngere Generationen, die ihre eigenen Aufbrüche suchen.

Ein knappes halbes Jahrhundert nach 1923 – nachdem die Experimente der frühen 1920er Jahre vom Stalinismus und vom Faschismus eingefroren und zerschlagen worden waren – gab es etwa um 1968 wieder den Versuch, an 1923 anzuknüpfen. Theoriegeschichtlich war die 68er-Bewegung ja auch der Versuch, sich selbst erst wieder auf den Stand der Debatte zu bringen, der in den 1920er Jahren schon einmal erreicht war. Und das geschah u.a. auch dadurch, dass die alten Debatten erst ausgegraben und geborgen werden mussten. (In der kritischen Reflexion dieser Anschlussbewegung sehe ich – unter anderem – auch den zeithistorischen Ort von Klaus Theweleits Männerphantasien.)

Damit komme ich jetzt endlich zu unserer Veranstaltung hier heute Abend:

Ich habe gelernt – unter anderem auch durch die Texte von Klaus Theweleit –, dass man solche Umbruchsituationen, solche gesellschaftliche Umbrüche und Wandlungen gar nicht oder nur unzureichend versteht, wenn sie nicht auch auf die Frage des Geschlechterverhältnisses bezieht.

Bei der Veranstaltung würden wir gern darüber sprechen, wie sich das Phänomen einer «Sattelzeit der Revolution» im Feld der Geschlechterbeziehungen darstellen, und zwar historisch, auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bezogen – Männerphantasien sind auch ja ein Buch über die Niederschlagung der «Deutschen Revolution». Dann bezogen ebenso auf die Zeit um «68» […] und vielleicht auch, wieder 50 Jahre später, im Hinblick auf unsere Gegenwart.

Das zu diskutieren haben wir uns zwei Gäste eingeladen, Luise Meier und Klaus Theweleit:

Luise Meier ist freie Autorin, Theatermacherin, Dramaturgin und Performerin. 2018 bei Matthes &Seitz Berlin ihr Buch MRX Maschine, wo im Namen Marx das große A der Autorität ausgestrichen wurde – Luise sagt immer Murx-Maschine; Derzeit arbeitet Luise Meier an dem Essay Proletkult vs. neoliberale Denkpanzer (heute Abend: Prolet-Kult) sowie an einem utopischen Near-Future/Science-Fiction-Romanprojekt, das 2024 bei MSB erscheinen wird. Wir sind gespannt!

Auch Klaus Theweleit ist ein freier Autor (auch frei von allen akademischen Beschränkungen und Selbstbeschränkungen); Mit dem zweibändigen Werk Männerphantasien, erschienen 1977/78 im Verlag Roter Stern hat er die Theoriedebatte der BRD revolutioniert. Seitdem zwei vielbändige Buchzyklen Das Buch der Könige und Pocahontas: Geschichten und Gegengeschichten männlicher und kolonialer Herrschaft in Kunst, Kultur und Politik aufgezeichnet. Daneben zahlreiche kürzere und längere Essays über Film, Psychoanalyse, Musik und Fußball und auch aktuelle kultur-politische Interventionen. Seit sein Stammverlag Stroemfeld/Roter Stern Konkurs anmelden musste: Sein Werk erscheint seit 2019 bei Matthes & Seitz Berlin. Zuletzt erschien a – e – i – o – u. Die Erfindung des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unbewussten und der Blues.

Sattelzeit der Revolution? Facetten des Jahres 1923 im Rückblick – Bericht von der Tagung im Oktober 2023

Autor: Reiner Tosstorff

Mit «Sattelzeit» bezeichnete einst der Historiker Reinhard Koselleck eine Umbruchszeit zwischen zwei historischen Epochen und konkret die des Übergangs von der ausgehenden absolutistischen Monarchie mit ihren spätfeudalen Zügen hin zur bürgerlichen Moderne, in der verschiedenste soziale, ökonomische und politische Entwicklungen miteinander verflochten waren und dabei qualitative Veränderungen in einem ungeahnten Ausmaß mit sich brachten. Ein Zeitraum, der sich von etwa 1780 bis 1850 erstreckte. Die Französische Revolution stellte darin den Dreh- und Angelpunkt dar, obwohl sich dieser Wandel längst nicht überall so zugespitzt vollzog wie in Frankreich, dessen Revolution noch bis heute als «Modellrevolution», als Maßstab für alle weiteren, gilt.

Vielleicht hinkte auch Kosellecks Metapher und er scheint, folgt man dem Eintrag zu ihm in der Wikipedia, auch selbst später nicht mehr sehr glücklich mit ihr gewesen zu sein. Denn die Sattelfläche selbst ist doch zumeist flach und abgesenkt, je nachdem, was für einen Sattel man zugrunde legt – einen Berg- oder Reitsattel. Doch die historische Sattelzeit des Durchbruchs der bürgerlichen Umwälzung war bekanntlich eine Zeit großer Umbrüche, Konvulsionen und Ausschläge, nur gelegentlich abgelöst von Phasen der Beruhigung in Folge von Erschöpfung der Beteiligten.

Doch abgesehen von diesen Zweifeln: Kann mit Hilfe der Metapher «Sattelzeit» vielleicht auch der Blick geworfen werden auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrer revolutionären Erschütterung – diesmal der bürgerlichen Welt und unter sozialistischen Zielsetzungen –, um damit verschiedene Entwicklungsaspekte zusammenzufassen? Der Begriff für eine allerdings letztlich dann nicht zustande gekommene sozialistische Umwälzung war jedenfalls die Klammer für eine dreitägige Konferenz, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Helle Panke und das Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung veranstalteten. Einhundert Jahre danach wurde versucht, den Blick auf drei miteinander eng verflochtene Entwicklungen des Jahres 1923 zu richten. «1923» ist zuletzt durch eine ganze Reihe von Veröffentlichungen selbst bereits zu einem Medien- und historischen Krisenereignis in Deutschland geworden, aus dem die damals bestehende Ordnung gerade noch einmal glimpflich herausgekommen war. Allerdings macht sich diese Perspektive im Allgemeinen an der politischen Krise im Gefolge der Ruhrbesetzung und insbesondere an der anschließenden Hyperinflation fest. Dabei produzierte die Krise auch Folgelasten, die zehn Jahre später durchschlugen. Auf der Konferenz zur «Sattelzeit der Revolution» bzw. über – so der Untertitel – «Umbrüche in Politik, Kultur und radikaler Gesellschaftskritik» ging es aber zu allererst um die internationale Linke prägende Prozesse und Ereignisse, die mit dem letzten ernsthaften Versuch der KPD und der Kommunistischen Internationale für einen «Deutschen Oktober» verbunden waren.

Den Auftakt der Konferenz begleitete die Frage, welche theoretischen Anstöße von dieser krisenhaften Zuspitzung der Klassenkämpfe für eine Erneuerung des Marxismus mit weitreichenden Auswirkungen bis heute ausgingen. Impulse auch, die Ausgangspunkt dessen wurden, was der britische Historiker Perry Anderson später den «westlichen Marxismus» nennen sollte – beginnend mit der umfassenden Kritik am reformistischen Marxismus der Sozialdemokratie, deren dominierende Strömungen sich bei Kriegsausbruch im August 1914 hinter die jeweiligen Regierungen gestellt hatten. Für die Kritik des auf einen mechanistischen Geschichtsablauf reduzierten und damit um sein historisches Subjekt gebrachten Marxismus gilt im Jahre 1923 beispielhaft Karl Korsch mit seinem frisch publizierten Werk Marxismus und Philosophie. Dabei stand er auch in enger Verbindung zu einer ganzen Gruppe kritischer Intellektueller, die Ende Mai 1923 im thüringischen Gera eine Marxistische Arbeitswoche durchführten, was sich als Vorspiel erweisen sollte auf dem Weg zur Gründung des Instituts für Sozialforschung 1924 und damit der im weiteren Verlauf daraus hervorgehenden «Frankfurter Schule». Dies war allerdings keine lineare Entwicklung, wie sich an den Biographien der meisten Teilnehmer zeigen lässt, von denen nur wenige noch im Umkreis des dann «konsolidierten» Instituts agierten.

In zwei Panels ging dieser erste Tag einerseits den theoretischen Impulsen, die 1923 gegeben wurden und dann bis hin in die 68er-Bewegung führten, nach. Im Zentrum standen das Verhältnis von Marxismus und revolutionärer Erwartung, der kritischer werdende Blick auf das gedachte revolutionäre Subjekt in den zwanziger Jahren und schließlich auch in der heutigen Zeit. Andererseits wurde – insbesondere durch den langjährigen Herausgeber der Werke Korschs, Michael Buckmiller – der Teilnehmerkreis und der ungefähre Ablauf jener Marxistischen Arbeitswoche auf Grundlage der leider nur wenigen direkten Zeugnisse beleuchtet. Das nächste wichtige Werk, das aus der revolutionären Atmosphäre des Jahre 1923 hervorgegangen ist und neben Korschs Buch als zweites «Gründungswerk» des «westlichen Marxismus» gilt, war Georg Lukács' Geschichte und Klassenbewusstsein. Der Historiker Karl Lauschke legte zu dieser Aufsatzsammlung jüngst eine ausführliche Studie vor, die auch Grundlage seines Vortrags gewesen ist. Nachdem sich Lukacs schließlich Ende der 1920er-Jahre zu einer Art Distanzierung von seinem Werk durchgerungen hatte, was sicher auch im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Stalinismus zu sehen ist, wurde es erst viel später, seit dem Aufbruch der «Neuen Linken», wiederentdeckt und unter ganz anderen Fragestellungen rezipiert. Diese Rezeption von heute aus schlug sich in dem Beitrag von Rüdiger Dannemann als Herausgeber der Werke von Lukacs nieder, wobei dem «Komplex Lukacs» auch noch einmal zum Abschluss nachgegangen werden sollte.

Beide, Korsch wie Lukacs, sind heute vor allem als Theoretiker bekannt. Ihr Denken jedoch dürfte nicht losgelöst von ihren damaligen intensiven politischen Aktivitäten betrachtet werden. Darauf hoben die Beiträge ab und tatsächlich rückten die eigentlichen politischen Ereignisse des 1923er-Jahres am zweiten Tag in den Vordergrund – entgegen dem angekündigten Programm leider allerdings etwas eingeschränkt durch den krankheitsbedingten Ausfall mehrerer Referenten.

So rekapitulierte Bernhard H. Bayerlein in einem ersten Block die Ereignisse, die – nach einer in Moskau zusammen mit der KPD-Führung entwickelten Planung – auf dem Höhepunkt der Krise der Weimarer Republik hin zum «Deutschen Oktober» führen sollten. Eine im Anschluss daran vorgesehene Darstellung der sowjetischen Parteientwicklung musste ausfallen. Für die Gesamteinordnung des «Deutschen Oktober» jedoch würde sie ein wichtiger Aspekt gewesen sein. Denn die Entscheidung zu einem Aufstand in Deutschland wie im Nachhinein auch die «Schadensbilanz» nach seinem Scheitern waren eng mit dem bereits voll entwickelten Fraktionskampf in der bolschewistischen Partei verflochten. Wie sich die Bewältigung der Niederlage unterhalb der kommunistischen Führungsspitze darstellte, beleuchtete Karsten Krampitz am Schicksal des KPD-Funktionärs Johannes Holm, dessen «Versöhnlertum» ihn noch Jahrzehnte später für die SED-Führung verdächtig machte.

Ein zweiter Block beleuchtete individuelle wie kollektive Biographien auch außerhalb der KPD. Jule Ehms (deren Beitrag verlesen werden musste) nahm sich Protagonisten aus dem anarchosyndikalistischen Umfeld an, Rhena Stürmer beschäftigte sich mit der KAPD und damit einer «rätekommunistischen» Abspaltung der KPD. Auf interessante Weise wurde herausgearbeitet, dass diese Kräfte, die noch 1919 bis 1921 für Massenmobilisierung standen und die KPD dabei zum Bremsklotz jeglicher revolutionärer Umwälzungen erklärten, ausgerechnet im Krisenjahr nur eine vergleichsweise marginale Rolle spielten. Revolutionäre Erwartungen wie Unternehmungen konzentrierten sich ganz auf die KPD.

Demgegenüber standen die Aktivitäten der linken Sozialdemokraten (d. h. der ehemaligen «rechten» USPDler, die im September 1922 wieder zur SPD zurückgekehrt war), die vor allem in der Metallarbeitergewerkschaft über eine Bastion verfügten. Deren Vorsitzender Robert Dißmann war 1923 eine treibende Kraft, die sozialdemokratische Linke zusammenzufassen und dabei auch vorsichtige Einheitsfrontfühler zur KPD auszustrecken, was Reiner Tosstorff ausführte. Schließlich blieb noch eine Skizze des kommunistischen Milieus in Bayern, über das Sebastian Zehetmair 2022 ein Buch vorgelegt hat. Doch auch er musste seine Teilnahme an der Konferenz leider kurzfristig absagen. Wesentliche Ergebnisse seiner Arbeit aber konnten aus dem Plenum heraus zusammengetragen werden. Bayern war nach der Niederschlagung der Münchener Räterepublik zum Hort der Gegenrevolution geworden. Der Aufbau der KPD gelang unter erschwerten Bedingungen, wenngleich der reale gesellschaftliche Einfluss nur auf einige Industriezentren beschränkt blieb. Da auch die SPD bereits 1920 in die Opposition gedrängt worden war, ist sie ein «einfacherer» Ansprechpartner für kommunistische Einheitsfrontinitiativen gewesen. Diese bekamen ihr besonderes Gewicht dadurch, dass ab 1920 eine neue Form der Konterrevolution in Gestalt einer außerparlamentarischen Massenorganisation, nachgeahmt dem italienischen Faschismus, nämlich die Nazis unter Führung Adolf Hitlers, auftrat, die die gewaltsame Ausschaltung der gesamten Arbeiterbewegung und darüber hinaus der Weimarer Republik auf den Straßen durchzusetzen versuchte. Darauf richteten sich wesentlich die Einheitsfrontinitiativen der KPD aus, wie Zehetmair darlegt.

Damit war der dritte Block des zweiten Konferenztages eröffnet, der das Bemühen um linke Antworten auf den Aufstieg und die Gefahren von rechts in den Mittelpunkt stellte. Neben der bayerischen Erfahrung bildete hier das lange wenig zur Kenntnis genommene Faschismus-Referat von Clara Zetkin – gehalten auf einer Tagung der Exekutive der Kommunistischen Internationale im Juni 1923 in Moskau – das wesentliche Element. Zetkin unterstrich das gegenüber der 'klassischen' Reaktion in Gestalt staatlicher Machtorgane neue Phänomen einer außerhalb davon organisierten Massenbewegung, die zugleich auf die Machtübernahme im Staat und der umfassenden Beseitigung bürgerlich-liberaler Strukturen abzielte. Jörn Schütrumpf, Mitherausgeber des soeben erschienen zweiten Bandes von Clara Zetkins Briefen über die Jahre 1919 bis 1923, legte die Hintergründe für die von ihr vorgelegte Einschätzung dar und wies darauf hin, wie schnell wichtige ihrer Erkenntnisse von der kommunistischen Bewegung aus taktischen Gründen vergessen wurden. Ein weiterer wichtiger Aspekt an dieser Stelle war der Aufschwung antisemitischer Hetze, mit ihrem vorläufigen Höhepunkt im Pogrom im Berliner Scheunenviertel vor ebenfalls 100 Jahren. Johanna Langenbrinck referierte dazu, Florian Weis schließlich (in Vertretung von Christian Dietrich) diskutierte verschiedene Strategien aufseiten der Weimarer Linken im Umgang mit Antisemitismus.

Den Abschluss dieses zweiten, den politischen Ereignissen und den sozialen Bewegungen gewidmeten Tages brachte eine öffentliche Abendveranstaltung mit einem deutlich erweiterten Teilnehmerkreis. Es ging um «Geschlecht und Revolution», was aber ebenso gut «Geschlecht und Konterrevolution» hätte benannt werden können. Ausgangspunkt war Klaus Theweleits seinerzeit große Aufmerksamkeit erregendes Buch Männerphantasien, das den Vorstellungen von männlicher Körperlichkeit auf Seiten der Konterrevolution in Gestalt der Freikorps und der sich formierenden faschistischen Bewegung nachgegangen war. Er stellte noch einmal seine Thesen vor, die nicht nur für das Jahr 1923 von Bedeutung waren und die er nun bis hin in die aktuellen Ereignisse des Nahen Ostens weiterführte. Auf Elemente von neuer Körperlichkeit, diesmal aber in entgegengesetzter Perspektive als Erschütterung bürgerlicher Strukturen aus weiblicher Perspektive und mit dem Medium des modernen Tanzes verwies Luise Meier anhand von Valeska Gert und Anita Berber. Sie erregten in den zwanziger Jahren große Aufmerksamkeit. Auch wenn sie nicht unmittelbar in Verbindung zu den Ereignissen des Jahres 1923 zu bringen sind, waren sie doch Ausdruck der kulturellen Erschütterung im Hintergrund.

Der dritte und letzte Tag fand in den frisch bezogenen neuen Räumen des Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung statt. Aufgrund der dort breit und interdisziplinär ausgerichteten Forschungen passte erneut Georg Lukacs bestens hinein. War das Hauptaugenmerk zu Beginn der Tagung vor allem auf die unmittelbaren biographisch-politischen Zusammenhänge gelegt, in denen Lukacs sein Werk verfasste, ging es nun in einem breiteren Zusammenhang um die mehr geistigen, theoretischen Impulse, die auf den Autor eingewirkt hatten oder die von seinem Werk ausgingen. Sie kamen vonseiten zahlreicher einflussreicher Intellektueller oder Strömungen; doch auch zusätzliche Informationen zur Geschichte des Malik-Verlages wurden gegeben, in dem Geschichte und Klassenbewußtsein 1923 erschienen war (Amália Kerekes). Reinhard Müllers biographischer Vortrag über Karl Schmückle schloss die Tagung ab. Auch Schmückle entstammte jenem Kreis um die Marxistische Arbeitswoche und war dann nach Moskau gegangen, wo er eine wichtige Rolle bei der Arbeit an der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe spielte. Sie wurde Anfang der 1930er-Jahre unter Stalin abgebrochen. Noch einige Jahre als Redakteur der Zeitschrift Internationale Literatur waren ihm vergönnt, bevor auch Schmückle 1938 ein Opfer des stalinistischen Terrors wurde.

Würde man den Gedanken der Sattelzeit fortführen, so lag deren endgültiges Ende als eine Zeit revolutionärer Möglichkeiten womöglich hier, als die Stalinsche UdSSR in den 1930er-Jahren auf ihre Weise einen blutigen Schlussstrich hierzu zog. Doch sicherlich war das Jahr 1923 mit dem Scheitern der Erwartungen dabei bereits ein Wendepunkt für den langen Weg dahin. Insofern drängt sich beim Blick darauf auch der Ausdruck «Scharnierjahr» als Jahr eines beginnenden Umschlagens auf.