Nachricht | Rosa-Luxemburg-Stiftung Hans-Jürgen Krysmanski, 1935-2016

Der Münsteraner Soziologe war Gründungsmitglied der Stiftung. Nachruf von Rainer Rilling

Information

Es war ein paar Tage nach dem „Beitritt“ der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der BRD, als im Oktober / November 1990 die Initiative zur Gründung einer PDS-nahen Stiftung „Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V.“ diskutiert und umgesetzt wurde. Einer der Gründungsmitglieder der Vereinigung war Hans-Jürgen Krysmanski - nicht zuletzt aufgrund seiner langjährigen Freundschaft mit dem Soziologen Dietmar Wittich, der ebenfalls zu dieser Gruppe vor allem von Sozialwissenschaftlern oder Historikern gehörte. Der politische Grund für sein Engagement im Gründungskreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung war die Hoffnung, dass die neue Stiftung dereinst von links einen anderen, neuartigen Denk- und Handlungsraum der dominanten Think Tank-Kultur der USA und einiger weniger bundesdeutscher Einrichtungen entgegenstellen könne. Was er einige Monate später in einem Aufsatz über die „verstummte Soziologie“ in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ zu seiner Zunft schrieb – „Unsere Soziologen fuhren selten in die DDR, oft nach New York“ – war das selbstbewusste Verdikt eines Außenseiters. Krysmanski, von 1971 bis 2001 Hochschullehrer für Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Münster, war auf die DDR ebenso neugierig wie auf New York. Vor wenigen Tagen, am 9. Juni 2016, ist er gestorben.

Er begleitete die RLS als Vereinsmitglied, schrieb in der „UtopieKreativ“ und der „LuXemburg“, initiierte und organisierte Veranstaltungen, nahm vor allem in den 00er Jahren an zahlreichen Seminaren und Kongressen der RLS teil, war lange Zeit aktives Mitglied im Gesprächskreis „Friedens- und Sicherheitspolitik“ und im Netzwerk Privatisierung. Beharrlich nahm er an Mitgliederversammlungen teil, die dort bestellten Gremien interessierten ihn freilich nicht so.

Sein Leben lang zog er an vielen Fäden des Endes des Kapitalismus, von denen neuerdings so viel die Rede ist. Er mochte das “Always historicize!” (Fredric Jameson) mit Leuten, Worten, Bildern, mit den großen Themen und Theorien, wilden Fantasien und neugierigen Assoziationen – den Utopien, Sozialismen, den Kämpfen der Linken, der reflexiven, radikalen, dissenten, außenseiterischen, nützlichen, hilfreichen, materialistischen Wissenschaft, der Science Fiction also, den Produktivkräften und der Hightech, den Big Data und Netzen und den TV-Medien, dem Gewalt-, Kriegs- und Rüstungskapitalismus mitsamt seinem mörderischen Militär-Industrie-Komplex, der globalen Attraktion des ungeheuren American Empire, endlich der Machtstrukturforschung von unten über oben mit dem Fokus auf Eigentumsmacht, Reichtum und der Geopolitik planetarer Imperialität.

Krysmanski promovierte und habilitierte bei Helmut Schelsky – da war er freilich schon „zunehmend in radikale Politik involviert“ (so höflich seine biografischen Notizen). Auf den Weg zum marxistischen Außenseiter in der Soziologie  (er publizierte weit über 100 Langtexte, keine Weißwaschliteratur) brachten ihn vor allem neben seinen Erfahrungen in den USA und Lateinamerika die Kontakte mit der machtbewussten Soziologie der Schelsky, Gehlen und Freyer, die sich auskannten, wenn sie von Macht redeten oder über sie schwiegen. Für Krysmanski gehörte das Interesse an den Reichen und Mächtigen zu seiner Entscheidung, Soziologe zu werden. Die Soziologie dieser Zeit freilich war eine Mittelschichtenveranstaltung, die geschäftig diese selbst und die Unterklassen betrachtete, mit der herrschenden Klasse jedoch einen Nichtangriffspakt eingegangen war. In der Regel wusste sie gar nicht, dass es so etwas gibt. Für sie hörte die Sozialstruktur mit der oberen Mittelschicht auf. Sie sah sie nicht einmal, die 0,1 %. Wer sie wie Krysmanski als kritischer Soziologe thematisierte, galt Fachkollegen wie Erwin K. Scheuch als „Kommunistenfreund“.

Sein Klassenkampfhandwerk in Forschung, Lehre, Vorträgen, Seminaren und Debatten setzte er in den 90ern als „soziologischer Filmemacher“ (Krysmanski) fort und agierte als Autor und Regisseur von acht größeren Dokumentarfilmen bei Spiegel TV, WDR und NDR. Sein Interessen galt dem den Spuren des globalen kapitalistischen Triumphzugs im Osten – die Abwicklung der Interflug, Heiner Müllers Ostberlin, den russischen Militär-Industrie-Komplex, Amerikas Zugriff auf Sibirien, deutsch-deutscher Geheimdiplomatie vor der Wende, Alexander Rudzkoi und der Moskauer Coup 1993.  Zahlreiche Bücher, Aufsätze und Forschungsprojekte zur Massenkultur waren der gesellschafts-, medien- und kulturanalytische Spin-off dieses Turns zu den bewegten Bildern. „Es gehört eben“, meinte er rückblickend zum Neubeginn seiner soziologischen Imagination der postmodern-neoliberalen Macht anfangs der 00er Jahre, „auch zum Power Structure Research, dass er Spaß machen kann oder sonst wie in Kultur übergeht.“

Wer mit Krysmanski zu tun hatte, entdeckte bei allen seinen Neubeginnen ein paar lebenslange Kontinuitäten. Dass er als Siebzehnjähriger 1952/53 in das Schüleraustauschprogramm des US-Hochkommissariats (HICOG) zuerst nach Detroit und später in die Kleinstadt Mancelona (Michigan) gelangte, ließ seitdem die USA für ihn „in jeder Hinsicht“ zu einer „zentrale Größe“ werden, von der er in den folgenden sechs Jahrzehnten nicht mehr abließ – bis hin zur Unterstützung des Aufbaus erster Kontakte der RLS zur nordamerikanischen Linken in New York (Left Forum) oder York. Bei seiner Rezeption des damals kleinen, aber wachsenden kritischen  Strangs der US-Soziologie wird die 1956 publizierte Power Elite von Charles Wright Mills zu einem zentralen Initialtext für seine Klassen- und Machtanalyse, in der er sukzessive die Vermittlung von Militär-Industrie- und Geldmachtkomplex herausarbeitete. Ihm ging es nicht um das eine als Territorialstaat USA fixierte kontinentalkapitalistische Amerika, sondern auch um das andere Amerika des Americanism, in dessen Kern die „amerikanische Partei“ (Arrighi) und ihre Vektoren standen und stehen, über welche Elemente des US-Staates und der amerikanischen Zivilgesellschaft und Ökonomie sich in die Welt bewegen – als American Empire eben. Auf dieser Grundlage hat er versucht, ein realistisches Bild von der Stabilität und Reichweite wie den historischen Grenzen dieser „zentralen Größe“ im planetar globalisierten Kapitalismus zu bekommen. Daher begegnete er der flinken Manier zur zyklischen Beschwörung des US-Decline, die sich zuletzt im vergangenen Jahrzehnt auch hierzulande ausbreitete, mit anhaltender Skepsis und Vorsicht.

Und es gab noch eine bestimmende Kontinuität. Das war der ganz große Frieden – nicht der private, der soziale oder der kriegerische, nicht der kleine Frieden auf Zeit und Gelegenheit, sondern der voraussetzungsvolle Frieden, dem die Alternativen zu sich selbst ausgegangen sind – also das, was einst als Keim der bürgerlichen Revolution in die Welt kam als positiver Friede und als „Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe“ (Charles Irenée Castel de Saint-Pierre, 1713). Auch bei diesem zweiten Lebensthema hatte Krys gleich mehrere Fäden am Wickel: die Produktivkraft Wissenschaft, bei der es anknüpfend um Kriegs- und Friedensursachenforschung ging, oder die Rekonstruktion der Friedensutopien und der Traditionen oder Begründungen einer friedlichen Soziologie, die er in Soziologie des Konflikt“ (1971) und seinem herausragenden politischen Bildungsbuch Soziologie und Frieden (1993) dabei ganz beiläufig als „Umwälzungswissenschaft“ konzipierte. Eine tiefe Abneigung gegen Gewalt trieb ihn voran.

Je klarer aber in der Reagan-Zeit und der folgenden langen Bush/Clinton/Bush-Ära das neue imperiale Kriegertum der USA und der von ihr dominierten NATO geopolitisch als Landnahme und Reichtumsgenerierungsmaschine expandierte, desto mehr rückte für ihn ein anderes Thema vollends in den Vordergrund: das „soziologische Hauptthema nach dem Ende des Kalten Krieges ist aus meiner Sicht das Thema ‚Macht und Herrschaft in der Postmoderne’“, also auch im Spät- oder Hyperkapitalismus. Das von ihm erstmals wohl schon Ende der 60er Jahre angerufene “power structure research“ hat über vier Jahrzehnte hinweg seine Gesellschaftsperspektive immer nachhaltiger fokussiert. Seit der Jahrhundertwende dominierte sie. Sie ist die dritte Kontinuität, an die hier zu denken ist.

Hier kreiste sein Forschungsprogramm um fünf Grundkategorien: Eigentum, Kapital, Reichtum, Klassen, Macht. Vor allem holte er mit Verve die Fragen des Reichtums, ihrer Spitzenakteure und Dienstklassen wieder in die marxistische Kapitalismus-, Kapital- und Klassentheorie zurück. Die Reichtumsworkshops der RLS 2004 und 2005 (gemeinsam mit Dieter Klein) und eine Reihe von Beiträgen in der UtopieKreativ zwischen 2003 und 2007 arbeiten sich an dieser Matrix ab. 2012 erschien dann das Buch  0,1 %. Das Imperium der Milliardäre, ein Resümee seiner Arbeit an dem Power Structure Research. Gegen die neue Blüte der Verschwörungstheorien setzt der Text eine Überarbeitung der Klassentheorie und der Theoretisierung der „herrschenden Klasse“. Wer von herrschender Klasse rede, dürfe von ihrem strukturierenden Zentrum im Kapitalismus der Postmoderne nicht schweigen: dem Komplex der Geldmacht, dem Ort der Privatesten des Privaten und der anderen, neuen, globalen Souveränität: „Souverän ist, wer über die Geldmacht verfügt.“ Dieser eine Ort des Reichtums ist immer ein Ort des Eigentums und ein Auffangbecken für die akkumulierten Werte. Er zieht gleichsam wie ein schwarzes Loch das rasend fluktuierende, fluide und sozial veruneinheitlichte Geld der Welt an sich, verwandelt es ständig in Verwertungsmacht und personifiziert es in eine planetar operierende Klassenmacht. Um die soziale Verfassung ihrer Akteursgestalt und Binnenstruktur zu fassen, ist für ihn ein Rückgriff auf neu entworfene, aber alte und hierzulande oft zu Recht in der Wissenschafts- und Politiklinken tabuisierte Begriffe wie Oligarchie, Plutokratie (klassisch: Herrschaft des Reichtums), Direktorat oder die „Ringburg“ (Ringmodell der Machteliten) sinnvoll. Richistan kennt keine Arrangements mehr, die demokratisch genannt werden könnten.

Hans Jürgen Krysmanski hat mit seiner Umwälzungswissenschaft einen neuen Blick auf Imperien, auf ihre Kriege, auf Richistan und ihre Geschichte geworfen. Verschmitzt hat er vor zwei Jahren mit seinem schmalen Die letzte Reise des Karl Marx über ein Lebensende getextet, eine historische social fiction. Sein letztes Buch. „Une autre fin du monde est possible“ stellte jüngst ein Nuit Debout-Graffiti richtig. Ein Ende ohne ein Vorleben in einem Imperium der Milliardäre wäre ein guter Anfang – auch für eine letzte Reise.


Grenzgänger
Gedenken an Hans Jürgen Krysmanski
Von Dietmar Wittich, nd, 6.7.2016
Am 9. Juni 2016 ist Hans Jürgen Krysmanski in Hamburg gestorben. Der Soziologe setzte mit seinen analytischen Argumentationen, die immer auch einen gehörigen Schuss Humor besaßen, ein deutliches Zeichen.