Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte Trotziger Selbstbehauptungswille

Über die politisch-gesellschaftlichen Hintergründe der Februarkämpfe 1934 in Österreich

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Panzer vor einem Wiener Gemeindebau. Im Hintergrund sind Gefangene und beschlagnahmte Waffen des Republikanischen Schutzbundes zu sehen. Aufgenommen vermutlich am 13. Februar 1934.
Panzer vor einem Wiener Gemeindebau. Im Hintergrund sind Gefangene und beschlagnahmte Waffen des Republikanischen Schutzbundes zu sehen. Aufgenommen vermutlich am 13. Februar 1934. Foto: Institut für Historische Sozialforschung

Der militärische Zusammenbruch des Habsburger-Reiches stand den Verantwortlichen spätestens seit Mitte 1917 konstant vor Augen. Die unaufhaltsame militärische Niederlage ging einher mit der politischen Auflösung. Ab Anfang Oktober 1918 begann die Donaumonarchie auseinander zu brechen. An ihrer Stelle formierten sich Nationalstaaten, zunächst auf dem Balkan im Süden, dann im Osten von der Tschechoslowakei über Polen bis zur Ukraine, schließlich auch in den deutschsprachigen Kronländern, für die in Wien am 12. November 1918 mit den Stimmen aller Fraktionen der provisorischen Nationalversammlung eine demokratische Republik proklamiert wurde. 

Eine umkämpfte Republik

Ihre dabei an den Tag gelegte demonstrative Einmütigkeit jedoch trog. Repräsentanten des bürgerlichen Spektrums, bestehend aus Christlichsozialen und Deutschnationalen, hatten noch kurz zuvor nach Möglichkeiten gesucht, eine Demokratisierung zu verhindern. Sie hatten dazu wahlweise die Fortführung der Monarchie oder durch die Errichtung einer Militärdiktatur sondiert. Dass derartige Überlegungen nicht in die Tat umgesetzt wurden, war vor allem auf die normative Kraft des Faktischen zurückzuführen: die kaiserlich-königliche Armee befand sich in Auflösung, die verbliebenen Truppenteile galten der Generalität als unzuverlässig oder verweigerten den Offizieren offen den Gehorsam. Im rückwärtigen Gebiet befanden sich die Truppen ganz überwiegend unter dem Einfluss der Linken. Weil sich die österreichische Arbeiterbewegung, anders als jene in den meisten anderen europäischen Staaten, nicht gespalten hatte, hieß das: unter dem Einfluss der Sozialdemokratie. Dass die Republik pro forma auch durch die bürgerlichen Kräfte mitgetragen wurde, war vor diesem Hintergrund Ausdruck ihrer Machtlosigkeit und keinesfalls als prinzipielle Zustimmung misszuverstehen.

Florian Wenninger ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er leitet das Institut für Historische Sozialforschung in Wien.

Nach einer zwei Jahre währenden großen Koalition schied die Sozialdemokratie im Oktober 1920 aus der Regierung aus. Von da an wurde Österreich auf Bundesebene vierzehn Jahre lang ausschließlich von bürgerlichen Kabinetten in unterschiedlichen Zusammensetzungen regiert. Ein zentrales Anliegen dieser Regierungen bestand darin, sich militärische Handhabe gegen die Linke zu verschaffen. Die verlässlich konservative Polizei wurde für den Straßenkampf hochgerüstet. Das Militär und hier besonders das Offizierskorps wurden systematisch von Parteigängern der Sozialdemokratie gesäubert. Schließlich wurden rechte paramilitärische Formationen, die sich in der Endphase des Krieges lokal gebildet hatten, ausgebaut und vereinheitlicht. Abseits heimischer Bankiers, Adeliger und Industrieller basierte die Finanzierung dieser «Heimwehren» maßgeblich auf der Unterstützung durch rechtsextreme Kreise in München, später durch Horthy-Ungarn und das faschistische Italien. Als Reaktion auf diese bedrohliche Entwicklung reorganisierte 1923 auch die Sozialdemokratie ihre Ordnerorganisation und begann mit dem Aufbau einer eigenen Parteimiliz, des Republikanischen Schutzbundes. Auch wenn ihr militärischer Aussagewert beschränkt ist, sind die schieren Größenverhältnisse doch anschaulich: Während das staatliche Bundesheer im Friedensvertrag von Saint Germain – das Pendant zum Versailler Vertrag für Österreich – eine maximale Größe von 30.000 Mann zugestanden bekommen hatte (die es bis 1934 nie erreichte), werden die einsatzfähigen Teile der Heimwehren auf 50.000 Mann geschätzt, während der Republikanische Schutzbund zu Spitzenzeiten 80.000 Angehörige hatte. Im Unterschied zu den Heimwehren und vor allem zu den Regierungskräften verfügte der Schutzbund lediglich über Infanteriewaffen und war nur eingeschränkt motorisiert. Dessen ungeachtet war er – etwa auch verglichen mit dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold – eine ansehnliche Streitmacht.

Interessensgegensätze und Militarisierte Innenpolitik

In den beiden Jahren ihrer Regierungsbeteiligung 1918-1920 hatte die Sozialdemokratie entscheidende Reformen durchsetzen: Einführung des 8-Stunden-Tages, bezahlter Urlaub, Arbeitslosenversicherung, betriebliche Mitbestimmung, Einführung von Arbeiterkammern, Mieterschutzgesetzgebung oder Invalidenversorgung etwa. In der Bundeshauptstadt Wien übernahm die Sozialdemokratie bei den ersten freien Wahlen 1919 die Stadtregierung, die sie bis heute nur unterbrochen durch Austro- und Nazifaschismus innehat. Das soziale Reformwerk in Wien, insbesondere das öffentliche Wohnbauprogramm, das die Kommune bis heute zum größten Wohnungseigentümer der westlichen Hemisphäre macht, fand international viel Beachtung. In Österreich selbst stieß es – wie die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit – auf entschiedene Ablehnung der heimischen Rechten. Die Gründe für diese Ablehnung waren sowohl kultureller als auch materieller Natur.

Kulturell betrachtet waren die 1920er-Jahre in Österreich eine Phase der Spätaufklärung, die vor allem die katholische Kirche als existenzielle Bedrohung empfand. Real änderte sich an der Situation der Kirche mit der Republikanisierung kaum etwas. An der feindseligen Haltung der Bischöfe, aber auch weiter Teile des niedrigen Klerus gegenüber der Republik änderte das wenig. Psychologisch ausschlaggebend war hier neben dem Wegfall der kaiserlichen Schutzherren vor allem die erstarkte Arbeiterbewegung mit einer großen vorgelagerten Kulturbewegung. Zentrale Akteur*innen der Arbeiterbewegung kamen aus jüdischen Familien. Stark antisemitisch unterlegt machte die Kirche nun pauschal die Linke für einen um sich greifenden Abfall vom Glauben verantwortlich. Tatsächlich hatte die Säkularisierung in den größeren Städten bereits Jahrzehnte früher eingesetzt. Abseits dessen sah sich die Kirche sowohl im Jugend- und Schulbereich als auch in der sozialen Fürsorge durch die Sozialdemokratie und die von ihr angestoßenen Reformen auf Gebieten herausgefordert, die sie als angestammte Domänen betrachtete.

Schwerer noch als die – durchaus gegenseitigen – kulturellen Aversionen wogen aber die materiellen Interessensgegensätze. Die Weltwirtschaftskrise erfasste Österreich, dessen ökonomische Situation schon zuvor eher prekär gewesen war, mit voller Wucht. 1930 explodierten die Arbeitslosenzahlen, die für die Sozialfürsorge verantwortlichen Kommunen gerieten an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Ein Jahr später kollabierte mit der Credit-Anstalt die größte Bank des Landes. Kurz zuvor noch hatte die Republik eine unbeschränkte Generalhaftung übernommen, die nun schlagend wurde. Es wäre möglich gewesen, der finanziellen Misere durch Abschöpfung des heimischen Spitzenvermögens zu begegnen und die soziale Situation zu entschärfen, indem durch Infrastrukturprogramme der Arbeitsmarkt angekurbelt würde. Die aus Christlichsozialen und Deutschnationalen bestehende Regierung beschritt jedoch unter Schonung heimischer Kapitalgruppen einen anderen Weg. Sie konsolidierte den Haushalt wie schon einmal, zehn Jahre zuvor, durch Auslandskredite. Im Austausch gegen die Gewährung dieser Anleihen waren jedoch strikte Auflagen zu akzeptieren, vor allem ein ausgeglichenes Budget durch Ausgabenkürzungen. Auf Druck Frankreichs wurde überdies das Anschlussverbot an Deutschland erneuert und auch eine Zollunion mit dem nördlichen Nachbarn untersagt.

Das war nicht nur ein wirtschaftlicher Rückschlag, sondern führte auch zu einer weiteren Radikalisierung im deutschnationalen Milieu. Die sozialen Auswirkungen des verordneten Austeritätskurses führten zwangsläufig auch zur Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze. Nach allgemeiner Einschätzung hatte die Regierung, die nur über eine hauchdünne Mehrheit im Parlament verfügte, bei Neuwahlen einen Verlust ihrer Mehrheit zu erwarten. Nutznießer dieser Entwicklung, so war anzunehmen, würden durch eine Radikalisierung im bürgerlichen Milieu vor allem die Nazis sein, die bis dahin eine politische Marginalie gewesen waren. Andererseits war auch nicht auszuschließen, dass die Sozialdemokratie, seit 1930 die stärkste Fraktion im Parlament, weiteren Zulauf erhalten würde. Der Christlichsozialen Partei, als bis dahin dominierenden Kraft des bürgerlichen Lagers, blieben angesichts dessen drei Optionen: Mit den verhassten Sozialdemokraten zu koalieren – die neuerdings vor Selbstbewusstsein strotzenden Nazis zur Mitarbeit zu bewegen – oder die Wahlen, die man unweigerlich verlieren würde, nicht erst stattfinden zu lassen. Letzteres liefe darauf hinaus, nach dem Vorbild der deutschen Präsidialkabinette autoritär zu regieren.

Die Kämpfe

Unter der Führung eines jungen Scharfmachers, des vormaligen Landwirtschaftsministers Engelbert Dollfuß, entschied sich die christlichsoziale Führung stattdessen für den Staatsstreich von oben. Statt die Sozialdemokratie durch einen jähen Coup zum Kampf zu stellen, betrieb die Regierung unter Kanzler Dollfuß einen Putsch auf Raten. Nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 regierte sie mittels Notverordnungen. Sukzessive wurde der politische Bewegungsspielraum der Opposition verringert, darauf hoffend, dass sich die Nazis unter Druck einer Kooperation aufgeschlossener zeigen würden, während die Arbeiterbewegung, zermürbt von der herrschenden wirtschaftlichen Not und den immer schärferen behördlichen Schikanen, erodieren sollte. Zwar blieb eine Einigung mit den Nazis, die Taktik gegenüber der Linken aber hatte Erfolg. Die sozialdemokratische Parteiführung wusste, dass sich in den vorangegangenen Jahren das militärische Blatt gewendet hatte. Mittlerweile war davon auszugehen, dass die Linke im Ernstfall deutlich unterlegen war. Der Parteivorstand versuchte daher, eine militärische Konfrontation unter allen Umständen zu vermeiden. Zugleich hatte man die Machtübernahme des Faschismus in Italien vor Augen und wollte sich nicht wie die italienische Arbeiterbewegung Anfang der 1920er-Jahre demoralisiert auseinandertreiben lassen. Der Republikanische Schutzbund sollte – nach den Vorstellungen der beiden maßgeblichen Akteure, Otto Bauer und Julius Deutsch – als Drohkulisse nach außen und als Element der Selbstvergewisserung nach innen fungieren, ohne tatsächlich zum Einsatz zu kommen. Diese Strategie ging rückblickend erstaunlich lange gut. Als aber für alle offensichtlich ein Verbot der Partei und die Zerschlagung der Gewerkschaften im Februar 1934 unmittelbar bevorstand, kam es zu einer Verselbstständigung an Teilen der Parteibasis und der Parteimiliz. Den handelnden Personen war klar, dass militärisch nichts zu gewinnen war. Ihr Hauptmotiv war ein trotziger Selbstbehauptungswille: sich nicht widerstandslos zu beugen, sondern im Angesicht des eigenen Unterganges wenigstens einmal zurück zu schlagen.

Als im oberösterreichischen Linz in den Morgenstunden des 12. Februars 1934 Polizei ins örtliche Parteihauptquartier einzudringen versuchte, geriet sie unter MG-Beschuss der dort verbarrikadierten Schutzbündler. Binnen weniger Stunden breiteten sich die Kämpfe im Osten des Landes aus. Der Schwerpunkt des Aufstandes, an dem sich Schätzungen zufolge etwa 20.000 Menschen beteiligten und zu dessen Unterdrückung die Regierung rund 55.000 Mann aufbot, konzentrierte sich auf Wien, Linz, die Rüstungsmetropole Steyr und die Industrieenklaven in der steirischen Mur-Mürz-Furche sowie auf Graz. Im Rest des Landes blieb es dagegen, abgesehen von vereinzelten Scharmützeln, ruhig. Anders, als das austrofaschistische Regime später behauptete, handelte es sich bei den Februarkämpfen keineswegs um einen koordinierten Umsturzversuch der Linken, sondern um eher chaotische Versuche, der Errichtung einer Diktatur kurzfristig lokal Widerstand zu leisten. Die Regierungstruppen, bestehend aus Exekutive, Bundesheer und Heimwehren, setzten von Beginn an auf brachiale Gewalt. Gegen die zumeist in Wohnhäusern verschanzten Schutzbündler wurde Artillerie in Stellung gebracht, es kam zu mehreren Übergriffen auf Gefangene und standrechtliche Hinrichtungen. Nach drei Tagen war der Widerstand gebrochen. Die Bilanz der Kämpfe: etwa 360 Tote, deutlich über tausend Verletzte, zweitausend Menschen, die aus Angst vor Repressalien über die Grenze in die Tschechoslowakei geflohen waren, zehntausend Verhaftete. Und ein Regime, das damit begann, das politische System nach dem Vorbild des faschistischen Italien gänzlich neu zu gestalten. Schon vier Jahre später, innenpolitisch isoliert und in weiten Teilen der Bevölkerung ohne jeden Rückhalt, implodierte es unter dem Druck der Nazis.