Nachricht | Krieg / Frieden - Nordafrika Krieg im Sudan: Der Hunger der Millionen

Ohne einen baldigen Waffenstillstand droht die Situation, außer Kontrolle zu geraten.

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Andreas Bohne,

Menschen treffen sich zum Iftar (dem Abendessen, das das Ende des täglichen Fastens während des heiligen Monats Ramadan markiert) in Khartum, Sudan.
Menschen treffen sich zum Iftar (dem Abendessen, das das Ende des täglichen Fastens während des heiligen Monats Ramadan markiert) in Khartum, Sudan, 17.03.2024. Foto: IMAGO / Xinhua

Es ist die zur Zeit größte Flüchtlingskrise des Planeten: Mehr als zehn Millionen Menschen sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mittlerweile im Zuge der Kämpfe im Sudan vertrieben worden. Das Welternährungsprogramm warnt zudem vor der größten Hungerkrise der Welt. Werde nicht bald ein Waffenstillstand erreicht, seien laut der UN-Organisation bis zu 25 Millionen Menschen von Hunger bedroht. Aber ein Ende des Bürgerkriegs, der vor einem Jahr, am 15. April 2023, begann, ist derzeit nicht in Sicht. Die Kämpfe, die damals in der Hauptstadt Khartum zwischen der sudanesischen Armee Sudan Armed Forces (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) ausbrachen, haben sich schnell über fast das gesamte Land ausgebreitet.

Andreas Bohne leitet das Afrika-Referat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

In der Berichterstattung über die katastrophale Lage im Sudan ist oft von einem «vergessenen Krieg» die Rede, der im Schatten des Ukrainekrieges oder der Kampfhandlungen im Gazastreifen stehe. Und tatsächlich ist die Dimension des Krieges hierzulande vielen nicht bewusst. Dennoch greift die Zuschreibung zu kurz: Denn die internationalen Unterstützer beider Hauptkriegsparteien – allen voran die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) auf Seiten der RSF sowie Ägypten auf Seiten des sudanesischen Militärs, die Waffen liefern und das Gold, mit dem sich vor allem die RSF finanzieren, aufkaufen, vergessen den Krieg keineswegs.

Zudem haben westliche Länder wie die «Troika-Staaten» Norwegen, Großbritannien und die USA, die sich seit 2001 um einen Friedensprozess im Sudan bemühen, aber auch die Europäische Union, die militärischen Akteure im Sudan viel zu lange legitimiert, anstatt ihren Einfluss zu beschränken. Sie haben es versäumt, tragfähige zivile Strukturen mitaufzubauen, als es die Chance dazu gab, obwohl sie über Jahrzehnte im Sudan engagiert waren. Damit ist der Ausbruch des Krieges auch ihr Versagen. Das aber wird in der Berichterstattung vom «vergessenen Krieg» gerne ignoriert.

Wie aber konnte es überhaupt zu dieser katastrophalen Eskalation kommen? Noch im Dezember 2018 hatte die vor allem von jungen Sudanes:innen getragene Revolution das kleptokratische Regime des langjährigen sudanesischen Diktators Omar al-Bashir überwunden und eine Chance für den Übergang zur Demokratie geboten.[1] Doch den zivilen Strukturen fehlte damals die Unterstützung. Trotz der Warnungen ziviler und linker Kräfte innerhalb und außerhalb des Sudans setzte man im Namen der Stabilität auf das Militär. Die nach der Revolution eingerichtete zivil-militärische Koalitionsregierung mit dem zivilen Übergangspräsidenten Abdallah Hamdok und General Abdelfattah al-Burhan als Vorsitzendem des Militärrates festigte die Rolle des Militärs im sudanesischen military deep state, statt diesen zu überwinden. Seit Dekaden verfügt das sudanesische Militär über den Löwenanteil des nationalen Budgets und kontrolliert auch einen großen Teil der Wirtschaft.

Neben dem Militär spielen die paramilitärischen Kräfte der RSF eine entscheidende Rolle. Deren Kommandeur, Mohamed Hamdan Dagalo – genannt «Hemeti» –, ist der Gegenspieler von Armeechef al-Burhan im aktuellen Bürgerkrieg.[2] Hervorgegangen aus der Janjaweed-Miliz, die für den Völkermord in Darfur verantwortlich ist, sind sie ein toxisches Erbe des Ex-Diktators al-Bashir. Nach dessen Sturz blieb die kampferprobte Truppe, auch wegen ihrer externen Unterstützer wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, eine wichtige Macht. Ähnlich wie die SAF besitzt sie eine wirtschaftliche Basis: Sie finanziert sich unter anderem mit dem Goldabbau in Darfur und einem profitablen Söldnertum: So waren ihre Kämpfer auch im jemenitischen Bürgerkrieg aktiv.

In den Kämpfen sind nach Angaben der Vereinten Nationen bisher mehr als 12 000 Menschen gestorben.

Noch 2021 putschten die heutigen Kriegsgegner – al-Burhan und Hemeti – gemeinsam gegen die Zivilregierung. Die Bemühungen um den Aufbau einer zivilen politischen Kraft, die dem Militär entgegentritt und den Übergang zur Demokratie vorantreibt, waren damit gescheitert – gescheitert an der Machtgier ziviler Politiker und Militärs, den gesellschaftlichen Spaltungen sowie an externen Akteuren wie Ägypten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi die revolutionären Aktivitäten im Nachbarland mit Argwohn beobachtete und befürchtete, sie könnten auf sein eigenes Land ausstrahlen.

Kurz gab es noch einmal Hoffnung, als im Herbst 2022 Verhandlungen zwischen der Militärregierung und der zivilen Koalition der Forces of Freedom and Change (FFC) starteten. Sie mündeten in ein Rahmenabkommen zum erneuten «demokratischen Übergang», umfassten auch den Neuaufbau des sudanesischen Sicherheitsapparates und die Integration der paramilitärischen RSF in die reguläre Armee. Die Verschmelzung der beiden Militärformationen scheiterte letztlich jedoch an den Machtansprüchen der beiden Putschisten al-Burhan und Hemeti, die jeweils alleine über den Sudan herrschen wollen. Dabei versuchen beide, sich die gesellschaftliche und ethnische Spaltung des Vielvölkerstaats zunutze zu machen. So behauptet Hemeti, die «arabische Bourgeoisie», welche durch al-Burhan ihren verlorenen Einfluss zurückerhalte, sei sein Hauptfeind.

In dem Krieg ist die SAF mit 200 000 Soldaten zahlenmäßig den 100 000 Kämpfern der RSF überlegen. Einen schnellen Sieg konnte sie aber nicht davontragen. Im Gegenteil, die RSF kontrolliert inzwischen die Region Darfur und die strategisch wichtige Stadt Al Jazirah südlich der Hauptstadt. Khartum selbst ist weiterhin umkämpft. Und so zeichnet sich derzeit ein strategisches Patt zwischen beiden Parteien ab, während sich zugleich verschiedene lokale Milizen bewaffnen.

Vertreibung, Zerstörung und Menschenrechtsverletzungen

In den Kämpfen sind nach Angaben der Vereinten Nationen bisher mehr als 12 000 Menschen gestorben. Von den zehn Millionen Vertriebenen flohen 1,7 Millionen in andere Staaten, davon knapp 70 Prozent in die benachbarten Staaten Tschad und Südsudan. Nach Ägypten, in die arabischen Länder oder nach Europa schafften es vor allem Angehörige der Mittelklasse, während in den Flüchtlingscamps in Darfur oder im Südsudan arme, oftmals bereits früher von Vertreibung betroffene Menschen gestrandet sind.

Da sowohl die RSF als auch die SAF in dicht besiedelten Gebieten schwere Artillerie und Granaten einsetzen, sind wichtige Wasser-, Sanitär-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen weitgehend zerstört. Das gilt insbesondere für die Hauptstadt Khartum, wo Infrastruktur und Wohnbebauung in den ersten Kriegstagen massiv beschädigt wurden. Im Februar 2024 war zusätzlich die Internetverbindung für mehrere Tage unterbrochen – diese aber ist für viele im Sudan überlebenswichtig, weil sie auf digitalem Weg Geld von ihren Verwandten im Ausland erhalten.

Derart zwischen die Fronten der Kriegsparteien geraten, breitet sich in der Zivilbevölkerung der Hunger aus. Durch die Zerstörung der Infrastruktur können sich viele nicht mehr selbst versorgen. Die Kriegshandlungen haben mittlerweile die landwirtschaftliche Produktion weitgehend zum Erliegen gebracht, zudem blockieren beide Kriegsparteien immer wieder den Zugang für humanitäre Lieferungen.

Daneben ist die Zivilbevölkerung aber auch direkt von Angriffen betroffen. Ende Februar berichtete das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, dass beide Seiten Kriegsverbrechen begangen hätten, darunter wahllose Angriffe auf zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser, Märkte und Geflüchtetenlager.[3] Insbesondere die RSF ist in Darfur für Menschenrechtsverletzungen wie Tötungen und sexualisierte Gewalt verantwortlich. So haben die RSF und ihre verbündeten arabischen Milizen im April und November zwei Massaker in Geneina, der Hauptstadt von West-Darfur, verübt. Dabei wurden mehr als 10 000 Menschen getötet – die meisten von ihnen aus dem Volk der Masalit, das traditionell die SAF unterstützt. Auch der Gouverneur von West-Darfur, Khamis Abbakar, wurde im Zuge der Kämpfe gefoltert und ermordet und der Bundesstaat anschließend unter eine der RSF nahestehende Verwaltung gestellt.

Die Rolle externer Akteure

Ohne Partner im Ausland könnte sich die RSF kaum behaupten. Besonders die VAE stehen hinter der paramilitärischen Gruppe, auch wenn Abu Dhabi Waffenlieferungen an sie abstreitet. Der Nachschub an Waffen gelangt vor allem über Libyen, Tschad und Uganda ins Land. Dort beteiligen sich lokale politische Akteure am Waffenhandel. Einer davon soll der libysche Kriegsherr Khalifar Haftar sein. Auch die russische «Wagner-Gruppe» wird als Waffenlieferant für die RSF vermutet. Das ist deswegen bemerkenswert, weil die VAE viele Jahre als Verbündeter der USA in der Region agierten, jetzt aber offenbar eine sehr flexible Bündnispolitik betreiben – offenbar, um ihre ökonomischen Interessen im Sudan zu verteidigen. So haben die Emirate unter anderem in einen Hafenneubau nördlich von Port Sudan investiert.[4] Umgekehrt hat der RSF-Chef ganz persönliche ökonomische Verbindungen in den reichen Golfstaat. Dort besitzen sowohl Hemeti selbst als auch sein jüngerer Bruder Algoni Dagalo Unternehmen.

Die Machthaber in den VAE sahen die demokratische Revolution 2019 mit Sorge. Das haben sie mit dem ägyptischen Präsidenten al-Sisi gemein, anders als die emiratische Regierung in Abu Dhabi setzt dieser aber auf die reguläre Armee; Ägypten liefert ganz offiziell Waffen an die SAF.

In dieser Gemengelage musste der UN-Sonderbevollmächtige, der deutsche Diplomat Volker Perthes, seine politische Hilflosigkeit eingestehen. Nach zweieinhalb Jahren im Sudan reichte er im September 2023 seinen Rücktritt ein. Im Dezember beschloss dann der UN-Sicherheitsrat, die Mission Unitams, die Perthes geleitet hatte, zu beenden. Über die Ursache des Scheiterns wird seitdem gestritten: War es das Primat des Politischen vor dem ökonomischen Aufbau, das Querschießen externer Kräfte, die schlechte Ausstattung der Mission oder die Zusammenarbeit mit den Militärs bei gleichzeitigem Ausschluss vieler ziviler Akteur:innen? Auch wenn die Ursachen sicher vielfältig waren, der letzte Punkt hat dem Ansehen der Mission bei vielen Sudanes:innen geschadet. Denn beim Sturz al-Bashirs hatten selbstorganisierte Widerstands- und Nachbarschaftskomitees eine große Rolle gespielt. Getragen überwiegend von der Mittelklasse, hielten sie auch nach dem Machtwechsel trotz Repressionen lange den politischen Druck der Straße aufrecht, forderten den Ausbau der sozialen Infrastruktur und die Auflösung der RSF. Vor der jetzt eingetretenen Eskalation hatten sie frühzeitig gewarnt, der Krieg hat sie nun nachhaltig geschwächt. Zwar haben die Komitees von Khartum zwei Tage nach Kriegsbeginn mit einem gemeinsamen Statement ihre politische Position gegen die Militarisierung des Landes bekräftigt, sind jedoch seither vor allem mit humanitären Aufgaben beschäftigt. Von Informationen über halbwegs sichere Fluchtrouten über die Verteilung von Nahrungsmitteln bis zur Bereitstellung von Unterkünften organisierten sie die für viele Sudanes:innen überlebenswichtige Hilfe. Politisch können sie jedoch kaum noch durchdringen, gerade weil viele Aktvist:innen im Exil sind. Deshalb wird die Chance zum Aufbau einer starken Zivilgesellschaft so schnell nicht wiederkehren.

Wenn aber selbst temporäre Waffenstillstände aus religiösen oder humanitären Gründen, etwa zur Versorgung hungernder Menschen, keine Chance haben, dann liegt eine echte Konfliktlösung erst recht in weiter Ferne.

Auch gibt es wenig Anzeichen dafür, dass demokratische Staaten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Kurzfristig setzen alle Initiativen für einen Waffenstillstand – realpolitisch nachvollziehbar – nur bei den militärischen Kontrahenten an. Überlegungen aber, wie zivile Akteur:innen einbezogen werden können, gibt es kaum. Damit wird ein Kardinalfehler der Vergangenheit wiederholt. Zwar werden immer wieder Foren für Wissenschaftler:innen, Vertreter:innen humanitärer Organisationen und für zivile Akteur:innen geschaffen, aber sie scheinen losgelöst von der Realpolitik und entfalten keine praktische Wirkung.

Doch auch alle Gespräche, die lediglich eine Waffenruhe erreichen wollen, schlugen bisher fehl. Einen der ersten Versuche starteten die USA zusammen mit Saudi-Arabien («Dschidda-Initiative»). Weitere Initiativen gab es von der Intergovernmental Authority on Development (IGAD), gestützt durch die Afrikanische Union und moderiert durch den südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir sowie den kenianischen Präsidenten William Ruto.

Keiner der Initiativen ist es gelungen, die beiden militärischen Kontrahenten an einen Tisch zu bekommen. Im März reiste der erst kürzlich eingesetzte US-Sondergesandte für den Sudan, Tom Perriello, nach Uganda, Äthiopien, Dschibuti, Kenia, Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, um Gespräche zu führen. Doch abgesehen von den Terminen ist nichts über die Inhalte dieser Gespräche bekannt.

Auch der Fünf-Punkte-Plan von Außenministerin Annalena Baerbock, den sie Ende Januar bei einer Reise nach Kenia vorlegte, bleibt mit Forderungen wie der nach Unterstützung ziviler Akteur:innen, der Unterbindung von Waffenlieferungen oder gezielten Sanktionen sehr allgemein. Wie das alles umgesetzt werden soll, ist unklar. Und so entstand der Eindruck eines hilflosen Versuchs, der vor allem vom Wunsch motiviert ist, Sudanes:innen von der Flucht nach Europa abzuhalten. Denn schon jetzt sitzen viele Geflüchtete aus dem Sudan in Tunesien fest und hoffen trotz der Lebensgefahr auf eine Fahrt über das Mittelmeer.

Wie verfahren die Situation ist, zeigt auch der folgenlos verhallte Aufruf des UN-Sicherheitsrats zu einem Waffenstillstand während des Ramadan. Vertreter der sudanesischen Armee schlossen einen solchen aus, solange die RSF nicht zivile öffentliche Einrichtungen verlässt. Wenn aber selbst temporäre Waffenstillstände aus religiösen oder humanitären Gründen, etwa zur Versorgung hungernder Menschen, keine Chance haben, dann liegt eine echte Konfliktlösung erst recht in weiter Ferne.

Der Text erschien zuerst in der Ausgabe 4/2023 der «Blätter für deutsche und internationale Politik».


[1] Vgl. Jörg Armbruster, Demokratie versus Despotie: Sudans Ringen um seine Zukunft, in: «Blätter», 2/2022, S. 101-108.

[2] Vgl. Simone Schlindwein, Sudan: Der Machtkampf der Generäle, in «Blätter», 6/2023, S. 19-22.

[4] Vgl. Oscar Rickett, How the UAE kept the Sudan war raging, in: «African Arguments», 21.2.2024.