Documentation Neuerfindung des Sozialstaats

Sozialabbau schafft keine neuen Arbeitsplätze, sondern schürt soziale Ängste. Mit der ersten Veranstaltung der neuen Strategie-Debatte "Gesellschaftspolitisches Forum" wollen wir ausloten, mit welchen Politikentwürfen und Projekten die Linke der Krise des Sozialstaats begegnen kann.

Information

Date

08.10.2005

With

Dr. Klaus Dräger, Dr. Peter Fleißner, Axel Gerntke, Prof. Dr. Dieter Klein, Torsten Koplin, Prof. Dr. Stephan Lessenich, Julia Müller; Leitung: Dr. Lutz Brangsch und Prof. Dr. Klaus Steinitz

Die sozialen Sicherungssysteme stehen unter Dauerbeschuss. Globalisierung, die demografische Entwicklung und eine ausufernde Bürokratie werden als die maßgeblichen Gründe angesehen, weshalb der Sozialstaat im 21. Jahrhundert weder wettbewerbsfähig noch bezahlbar ist. Privatisierungen im Gesundheitssystem, kapitalbasierte Renten und Sozialhilfe für Arbeitslose markierten den Systembruch der Agenda 2010. Und nun: Gesundheitsprämie, Rentenkürzung durch verlängerte Lebensarbeitszeit, Niedrigstlöhne ... – die Armutsspirale wird weiter nach unten gedreht.

Die Erfahrungen haben gezeigt: Sozialabbau schafft keine neuen Arbeitsplätze, sondern schürt soziale Ängste und produziert Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit. Mit der Demontage des Sozialen stirbt die Demokratie. Deshalb wollen wir über Weichenstellungen eines erneuerten Sozialstaats diskutieren. Über seine Fundamente: aktive Beschäftigungspolitik und eine krisenresistente Bürgerversicherung. Über Transparenz und Teilhabe: der demokratische Sozialstaat. Über ein neues europäisches Projekt. Und wir wollen ausloten: Wie weit reicht der Konsens innerhalb der politischen Linken? Wie groß ist der Klärungsbedarf? Wo liegen die Kontroversen? Jenseits von angepasster Realpolitik und Wunschzetteln.

Die sozialen Sicherungssysteme stehen unter Dauerbeschuss. Globalisierung, die demografische Entwicklung und eine ausufernde Bürokratie werden als die maßgeblichen Gründe angesehen, weshalb der Sozialstaat im 21. Jahrhundert weder wettbewerbsfähig noch bezahlbar ist. Privatisierungen im Gesundheitssystem, kapitalbasierte Renten und Sozialhilfe für Arbeitslose markierten den Systembruch der Agenda 2010. Und nun: Gesundheitsprämie, Rentenkürzung durch verlängerte Lebensarbeitszeit, Niedrigstlöhne ... – die Armutsspirale wird weiter nach unten gedreht. Die Erfahrungen haben gezeigt: Das schafft keine neuen Arbeitsplätze. Das schürt soziale Ängste und produziert Ausgrenzung. Das treibt die Spaltung der Gesellschaft voran. Das provoziert Fremdenfeindlichkeit.
Und mit der Demontage des Sozialen stirbt die Demokratie.

Deshalb wollen wir über Weichenstellungen eines erneuerten Sozialstaats diskutieren. Über seine Fundamente: aktive Beschäftigungspolitik und eine krisenresistente Bürgerversicherung. Über Transparenz und Teilhabe: der demokratische Sozialstaat. Über ein neues europäisches Projekt. Und wir wollen ausloten: Wie weit reicht der Konsens innerhalb der politischen Linken? Wie groß ist der Klärungsbedarf? Wo liegen die Kontroversen? Jenseits von angepasster Realpolitik und Wunschzetteln.

Programm:

10:30 Begrüßung und Eröffnung
Klaus Steinitz, Helle Panke

10:45 - 11:00 Zwischen Agenda light und Agenda brutal:
Sozialstaat im entfesselten Kapitalismus
Axel Gerntke, IG Metall Grundsatzabteilung

11:00 - 11:45 Diskussion

+++ Pause +++

12:00 - 12:15 Jenseits der Prekarität. Vollbeschäftigung neuen Typs und Umverteilung
Judith Dellheim, Rosa-Luxemburg-Stiftung

12:15 - 12:30 Der demokratische Sozialstaat Eckpfeiler einer neuen Wohlfahrtsarchitektur
Stephan Lessenich, Universität Jena

12:30- 13:45 Diskussion

+++ Pause / Imbiss +++

14:15 - 14:30 Jenseits des Nationalstaats: die Zukunft des Europäischen Sozialmodells
Klaus Dräger, GUE/NGL Brüssel

14:30 - 15:30 Diskussion

15:30 - 16:00 Strategiedebatte: zwischen Emanzipation der Lohnarbeit und bedingungslosem Grundeinkommen
Mit Julia Müller, Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit und Torsten Koplin, Linkspartei.PDS, MdL Mecklenburg-Vorpommern

16:00 - 17:15 Diskussion

17:15              Schlusswort
Lutz Brangsch, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Begrüßung und Eröffnung durch Klaus Steinitz:

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde!

Ich begrüße Sie alle herzlich im Namen der Veranstalter unseres heutigen Workshops, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, des Vereins Helle Panke zur Förderung von Politik, Bildung und Kultur, WISSENTransfer und der Zeitschrift Sozialismus.

Ich bin mir sicher, wir alle, Veranstalter und Teilnehmer, stimmen in dem Wunsch und der Erwartung überein, heute gemeinsam eine Veranstaltung zu gestalten, die uns hilft in der kritischen, offensiven Auseinandersetzung mit der neoliberalen Agenda- und Reformpolitik, die nach wie vor auf dem Regierungsprogramm einer großen Koalition von SPD und CDU/CSU steht, und bei der Bestimmung der dagegen gerichteten Alternativen..

Mit der Agenda 2010 erhielt der schon länger praktizierte schleichende Paradigmenwechsel – weg vom Wohlfahrts- und Sozialstaat des rheinischen Kapitalismus der Nachkriegsjahrzehnte – einen neuen Schub. Wir wollen heute auch darüber einen ersten Gedankenaustausch führen, wie die Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD diese Tendenz in den nächsten Jahren voraussichtlich fortsetzen wird und auf welche Zuspitzungen wir uns dabei einstellen müssen. Wir dürfen natürlich nicht dabei stehen bleiben, sondern müssen vor allem den Meinungsaustausch darüber weiter führen, wie der gesellschaftliche Widerstand gegen die Agendapolitik verstärkt und mit Vorstellungen für eine zukunftsfähige, nachhaltige und demokratische Weiterentwicklung des Sozialstaats verknüpft werden kann. Hierzu gehört auch, dass wir darüber diskutieren, welche Konzepte und Alternativen wir dem neoliberalen Gesellschaftsprojekt entgegensetzen. Ich hoffe, dass wir alle von unserem Workshop Anregungen und Impulse erhalten werden, um die inhaltlichen Hauptlinien einer linken Wirtschafts- und Sozialpolitik unter den gegenwärtigen Bedingungen neoliberaler Hegemonie weiter zu klären.

Planungen wissenschaftlicher Veranstaltungen haben öfter eine Eigendynamik. Als wir vor über ein Jahr mit Überlegungen zu einer solchen Konferenz begannen, hat noch niemand geahnt, dass sie in einem stark veränderten politischen Umfeld stattfinden, und mit neuen Problemen konfrontiert sein würde. Vor allem zwei Aspekte möchte ich hervorheben.

Erstens sie findet unmittelbar nach den Wahlen zum Bundestag statt, in einer Zeit in der, soviel kann heute schon gesagt werden, ein in den Grundzügen neoliberales Regierungsprogramm Gestalt annehmen wird, das aber auch von Kompromissen geprägt sein wird. Die CDU/CSU wird ihr antisoziales Wahlprogramm nicht eins zu eins in das Regierungsprogramm einer großen Koalition umsetzen können. Das bedeutet in der nächsten Zeit werden öffentlichkeitswirksame Gegenforderungen und alternative Vorstellungen ein besonders großes Gewicht erhalten. Dabei ist es besonders wichtig, das Bild, das von den „koalitions- und regierungsfähigen“ Parteien gegen den Linken medienwirksam verbreitet wird: sie sind nach rückwärts gerichtet und wollen nur das alte, überholte, den veränderten Bedingungen nicht mehr entsprechende System des Sozialstaats erhalten, zu widerlegen. Wir verteidigen die Grundlagen und die Idee des Soziastaates, wenden uns gegen „Reformen“ des Sozialabbaus, haben aber zugleich konkrete Vorstellungen, wie der Sozialstaat weiterentwickelt werden muss, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Neoliberale und linke alternative Wirtschafts- und Sozialpolitik unterscheiden sich nicht darin voneinander, dass die einen Veränderungen anstreben und die anderen nur bewahren wollen, sondern vor allem darin, in welchen Richtungen und in wessen Interesse diese Veränderungen erfolgen sollen.

Zweitens sie findet statt nach dem Einziehen einer starken linken Fraktion in den Bundestag, die auf einem gesamtdeutschen Linksbündnis beruht. Sie erfolgt in der Anfangszeit einer Etappe, in der die konkrete Vorbereitung einer Vereinigung von Linkspartei.PDS und WASG zu einer neuen gesamtdeutschen Linkspartei, die über diese beide Parteien hinaus in möglichst breitem Umfang auch andere Linke einbezieht, auf der Tagesordnung steht. Für einen erfolgreichen Verlauf dieses Prozesses ist die inhaltliche Verständigung zu Grundfragen einer linken, alternativen Politik auf den entscheidenden Gebiete der gesellschaftlichen Entwicklung unverzichtbar. Dabei werden Probleme der Wirtschafts- und Sozialpolitik, darunter Fragen der Perspektive des Sozialstaats, einen herausragenden Platz einnehmen.

Es ist vorgesehen, im Rahmen gesellschaftlichpolitischer Foren, die von den Trägern des heutigen Workshops und anderen Institutionen vorbereitet und organisiert werden, grundsätzliche und aktuelle Probleme die für eine Linke wichtig sind, zur Diskussion zu stellen und möglichst gemeinsame Positionen zu wichtigen Grundfragen zu erreichen.

Unsere heutige Veranstaltung erhält auch dadurch besonderes Gewicht, dass sie den Auftakt, die Premiere, in dieser Reihe gesellschaftspolitischer Foren bildet. Daraus ergibt sich eine zweifache Herausforderung.

Einmal gilt es, ein solches inhaltliches Niveau der Darlegung und Erörterung der vorgesehenen Komplexe anzustreben, das sowohl ihrer Rolle für eine linke Politik und Programmatik, als auch den ihnen immanenten Problemen und Widersprüchen adäquat ist. Es gibt für keins der auf unserem heutigen Programm stehenden Probleme einfache, widerspruchsfreie Antworten, geschweige denn solche einfachen und widerspruchsfreien praktikablen Lösungen. Das gilt für die Fragen nach der Perspektive einer Vollbeschäftigung neuer Qualität, ebenso wie für die Beziehungen zwischen Bewahrens- und Erhaltenswertem und den notwendigen Weiterentwicklungen des Sozialstaats, die Beziehungen zwischen Erwerbsarbeit und Grundeinkommen, und auch für die Zukunft eines europäischen Sozialmodells. Daher ist klar, dass es auf der heutigen Veranstaltung nicht um eine abschließende Klärung dieser Probleme gehen kann. Sie werden uns auch in Zukunft öfter beschäftigen. Es wäre schon ein Erfolg, wenn es gelingt, einige Schritte in Richtung einer inhaltlicher Klärung zu gehen. Größtenteils geht es dabei nicht einfach um unterschiedliche Standpunkte der Linkspartei.PDS und der WASG, die zwischen den beiden Parteien zu klären sind, sondern um Probleme, die unter den Linken und natürlich auch innerhalb dieser beiden Parteien umstritten sind.

Zum anderen geht es darum, in diesem komplizierten Klärungsprozess auch eine andere Kultur des Umgangs unter den Linken zu erreichen, des geduldigen Zuhörens, der sachlichen Erörterung der Probleme, des Austauschs von Argumenten ohne vorgefasste Meinungen, des gemeinsamen, solidarischen Suchens nach Antworten und Lösungen. Hierzu gehört auch zu akzeptieren, dass es zu verschiedenen Problemen in einer pluralistischen Linken unterschiedliche Auffassungen und Überlegungen zur Lösung geben wird.

In diesem Sinne möchte ich uns wünschen, dass wir der Verantwortung als erste Veranstaltung der gesellschaftspolitischen Foren, als einem Instrument zur inhaltlichen Vorbereitung der Vereinigung zu einer neuen Linksparte, gerecht werden. Damit hoffe ich auch, dass wir einen interessanten, gewinnbringenden Tag vor uns haben.