Documentation Frankreich vor den Wahlen

Über die Strategie der Linken für die kommenden Präsidentschaftswahlen und die Zukunft der europäischen Integration sprach der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag Oskar Lafontaine mit Jean-Luc Mélenchon, Senator der Sozialistischen Partei Frankreichs.

Information

Date

19.06.2006

With

Jean-Luc Mélenchon, Sozialistische Partei Frankreich Oskar Lafontaine, Vorsitzender d. Linkfraktion im Bundestag

Themes

International / Transnational

In kaum einem anderen europäischen Land werden die Probleme neoliberaler Politik und das Aufbegehren gegen die zunehmende Spaltung und Desintegration der Gesellschaft, gegen Sozialabbau und dessen geplanter Festschreibung in einer europäischen Verfassung so sichtbar wie in Frankreich. Auf den Sieg der Linken beim Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr folgte jetzt der erfolgreiche Kampf der Jugend gemeinsam mit Gewerkschaften und linken Parteien gegen diskriminierende Erstanstellungsverträge.

Sind diese französischen Verhältnisse auch in Deutschland möglich? Wie vergleichbar sind die Problemlagen und die Protestkulturen? Obwohl nicht Hauptthema des Abend, ging Jean-Luc Mélenchon zuerst auf diese in der deutschen Linken gerade intensiv diskutierten Fragen ein. Er beschrieb die Proteste als eine „typisch französische Antwort“: Neoliberale Politik ist ein Angriff auf den Staat in seiner jetzigen Form. In Frankreich aber bedeuten Angriffe auf den Staat zugleich Angriffe auf die Republik und damit auf die französische Identität.

Die RLS hatte den Senator der Sozialistischen Partei Frankreichs und bekannten Sozialpolitiker zur Diskussion mit Oskar Lafontaine eingeladen. Themen der von Sibylle Neumann moderierten deutsch-französischen Debatte waren die Strategie der Linken bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen und die Perspektive des europäischen Verfassungsprozesses.

Entscheidendes Kriterium einer linken Kritik an der Verfassung ist für Mélenchon, dass diese sich nicht nur auf Politikinhalte sondern gleichermaßen auf Verfahren bezieht, also eine Demokratiekritik ist. So sei etwa der die Verfassung ausarbeitende Konvent kein demokratisches und partizipatives Gremium gewesen und umfasste eben nicht alle Beteiligten und Betroffenen. Mélenchon verwies in seinen Ausführungen auf die französische Geschichte, auf Instrumente wirklicher demokratischer Entscheidungsverfahren wie die Generalstände als Institutionen zur Demokratisierung und Integration von Gesellschaft. Übertragen auf das 21. Jahrhundert setze Demokratie die Partizipation der Zivilgesellschaft an demokratischen Entscheidungsverfahren voraus, gerade auch vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung europäischer Institutionen.

Ebenfalls kaum mit einem demokratischen Anspruch vereinbar ist für Mélenchon die faktische Unveränderbarkeit der Verfassung nach ihrer Ratifizierung. Der Neoliberalismus werde so zum unantastbaren Verfassungsgut erhoben, ähnlich den Grundrechten im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland; ein Gedanke, der später von Oskar Lafontaine weiter ausgeführt wird.

Melenchon beschrieb das französische „Nein“ wie auch das „Nein“ der Niederländer als ein patriotisches, aber kein nationalistisches „Nein“, das verbunden war mit einem „Ja“ zu einem demokratischen Europa der Bürgerinnen und Bürger. Von diesen müssten die Grundsätze und Regularien Europas ausgehen. Er sei hier, so Mélenchon, um zu dieser Frage eine Initiative vorzuschlagen, um gemeinsam mit den Deutschen einen politischen Weg zu konzipieren.

Falls bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2007 ein linker Präsident gewählt werden würde, der gegen die europäische Verfassung gestimmt hat, biete sich unter der französischen EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 eine Chance, den europäischen Verfassungsvertrag neu zu verhandeln. Die französischen Linken müssten sich hierzu auf einen solchen Kandidaten einigen (z.B. Fabius), die Linken in Europa müssten bis dahin einen alternativen Verfahrensvorschlag zu entwickeln, mit dem sie 2009 offensiv in den Europa-Wahlkampf gehen können. Wäre es bis dahin denn nicht möglich, eine Million Unterschriften für eine Petition für eine Verfassungsgebende Versammlung der Bürgerinnen und Bürger zu sammeln?

Diesen Vorschlag Mélenchons greift Lafontaine auf. Auch er hält es für möglich, über eine Petition der europäischen Linken für einen neuen Verfassungsprozess, die öffentliche Debatte über die Zukunft Europas zu befördern und linke Initiativen auf im europapolitischen Bereich zu stärken. Schließlich hätten bisher 16 Regierungen ihre Zustimmung zur Verfassung abgegeben, nicht aber die Völker Europas. Gerade im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament wäre ein solcher Weg Erfolg versprechend. Allerdings ist die Durchsetzung eines solchen linken Projektes nicht einfach. Auch in der Diskussion wurde deutlich, dass in Deutschland die Verbindung von republikanischem und linkem Denken eher schwach ausgeprägt ist und ebenso die Traditionen gesetzgebender Versammlungen oder auch Volksabstimmungen als Teil politischer Identität.
Diese Beschränktheiten prägen für Lafontaine auch die aktuelle Debatte hierzulande. So soll etwa laut Koalitionsvertrag der Kündigungsschutz in einem noch stärkeren Maße abgebaut werden als in Frankreich, ohne dass dies Proteste provoziert.

Vorschläge für eine alternative europäische Verfassung seien bisher nur schwach ausgebildet, so Lafontaine. Aufgabe der europäischen Linken sei es, Gegenmodelle zur neoliberalen Philosophie zu entwickeln und diese zu verbinden mit republikanischen Traditionen und dem Gedanken Rosa Luxemburgs, dass ein sozialistisches und demokratisches Europa zusammengehören. Vielleicht wäre es angesichts der besonderen Verantwortung von Deutschland und Frankreich für ein friedvolles, demokratisches Europa sinnvoll, setzt Oskar Lafontaine fort, die Idee des deutsch-französischen Staatenbundes zu prüfen. Dabei ließe sich an der französischen republikanischen Tradition anknüpfen, an die engen wirtschaftlichen und politischen Beziehrungen beider Länder, aber eben auch an ein dichtes Netz von Partnerschaften zwischen Gemeinden und Städten, Schulen und Hochschulen, Vereinen und Verbänden.

Dieser Gedanke wurde auch in der Diskussion aufgegriffen und weitergeführt mit dem Verweis auf die Berücksichtung der Interessen anderer Staaten. Ein solcher Staatenbund dürfe nicht zu Lasten Dritter geschlossen werden, explizit wurde hier Polen genannt. Zunächst offen blieb, ob und wie sich dieser Ansatz von dem geforderten Kerneuropa J. Fischers unterscheidet und inwieweit dieser Ansatz von der gesamten Breite linker Parteien produktiv gestaltet werden kann.

Entscheidend wird hierfür sein, welche europäischen Perspektiven die Sozialisten in Frankreich und die Sozialdemoraten in Deutschland entwickeln. Können sie sich zu einem neuen Verfahren zur Regelung europäischer Politik durchringen oder bleibt es beim bisherigen Fahrplan zur Durchsetzung einer Verfassung, die letztlich neoliberale Politik festschreibt? Die Frage wird sein, ob die Linke es schafft, die EU-Verfassung noch einmal so engagiert wie 2005 auf ihre eigene Tagesordnung zu setzen und konkrete Vorschlägen für demokratische und soziale Alternativen zu unterbreiten. Dies ist der eigentliche Lernprozess politisch-strategischen Denkens, der den Linken in Deutschland, Frankreich und Europa bevorsteht.

(Bericht: Conny Hildebrandt) Über die Perspektive des Verfassungsvertrags und die Zukunft der europäischen Integration sprach der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag Oskar Lafontaine mit Jean-Luc Mélenchon, Senator der Sozialistischen Partei Frankreichs und Sprecher der Plattform »Für eine soziale Republik«. Das Gespräch moderierte Sibylle Neumann.