Am 30. Mai 1968 wurden von der Großen Koalition im Deutschen Bundestag die Notstandsgesetze gegen den Widerstand der außerparlamentarischen Opposition und der Gewerkschaften verabschiedet. Damit wurde das Grundgesetz um eine Notstandsverfassung
ergänzt, die staatliche Handlungsfähigkeit in Krisensituationen (Naturkatastrophen, Aufstand, Krieg) sichern soll. Die Gesetze galten als notwendige Voraussetzung der West-Alliierten zur Übergabe staatlicher Souveränität an die BRD.
Aus linker Sicht aber standen sie für eine Entmachtung des parlamentarischen Systems, für die rechtliche Absicherung der "Stunde der Exekutive", für ein Wiederaufgreifen der Weimarer und NS-Tradition der autoritären Machtzentralisierung und damit für eine Radikalisierung des autoritären CDU-Staates, endlich für eine Militarisierung des inneren Gemeinwesens und eine massive Gefährdung des Rechtsstaats. Sie gelten noch heute.
In welchem Maße spiegelten sie das geistige Klima der 60er Jahre, das damalige hegemoniale Gesellschaftsbild und Demokratieverständnis? War nicht das verheimlichte Hintergrund-Szenario - das eines Bürgerkriegs, entstanden aus „Wilden Streiks“? Jedenfalls sollte es möglich sein, die Bundeswehr auch gegen streikende Arbeiter einzusetzen. Einer der radikalen Theoretiker der erstarkenden Protestbewegung von 1967-1969 (die 1968er)Johannes Agnoli, diagnostizierte die Notstandsgesetze als eine Rückentwicklung der Demokratie und kritisierten das uneingelöste Repräsentationsversprechen und die autoritären Schließungsmechanismen wie sie u.a. mit den Notstandsgesetzen und dem Radikalenerlass durchgesetzt wurden. Es war eine Zeit, in der sich der westdeutsche Staat gegen mögliche soziale Bewegungen einbunkerte und es war die Zeit, in der eine erste krisenhafte Schwäche der Wirtschaftswunderkonjunktur zu einer großen Koalition geführt hatte.
Heute, nach 40 Jahren muss man sich fragen, warum die damalige, verbreitete Erwartung seitens der Linken, es käme zu einer raschen und schnellen Anwendung und gezielten Destruktion des Rechtsstaates so grandios fehl lief. Unterschätzte sie ihre eigene Wirkungskraft und die Nachhaltigkeit der kulturellen Veränderungen des Aufbruchjahrzehnts 1965-1975? Haben erst die Verunsicherung von Lebensweisen, unberechenbare Formen des Terrorismus den Boden für die Einschränkung für Bürgerrechte und Freiheiten bereitet?
Heute wird das Recht auf Versammlungsfreiheit eingeschränkt und zur Abwehr von Schäden Tausende Polizisten aufgeboten. Millionen werden in Ausrüstung, Aufrüstung und Sicherheitssysteme investiert, während durch Sparpolitik Gesundheitsschäden gleichfalls in Milliardenhöhe erzeugt werden. Die Kontrolldichte im Alltag hat sich erheblich verstärkt: Kundenprofile, Videoüberwachung, Aufhebung des Bankgeheimnisses, Raster- und Schleppfahndung, DNA-Analyse, Messung biometrischer Merkmale, Zunahme von Lauschangriffen, Beschneidung(sversuche) von Klagewegen, Einschränkung von Verbandsklagerechten, Enteignung öffentlicher Räume (wie Bahnhöfe, Straßen, Plätze) durch Privatisierung des Straßenbaus, durch Einrichtung privater Sicherheitszonen oder durch Werbung.
Jetzt wird sichtbar, dass die Verschärfung der Haftbedingungen gegen die Mitglieder der RAF bzw. der „Bewegung 2. Juni“, die Außerkraftsetzung rechtsstaatlicher Normen, die Anwendung von Ausnahmegesetzen in den 70er Jahren ein Mittelglied darstellen. An einer selektierten Gruppe wurde probeweise in die Praxis umgesetzt, was die Notstandsgesetzgebung für das gesamte Gemeinwesen androhen: die rechtsstaatliche Exklusion. Getestet wurde womöglich auch, ob und wieweit dagegen Abwehr mobilisierbar war (Bürgerrechtsproteste) und wie diese dann zu kontern seien. Erfunden wurde der „Sympathisant“, der im Bedarfsfall mit § 129a geködert wurde. Gleichzeitig wurde mit Erfolg demonstriert, dass sich im behaupteten Notstand die Justiz den politischen Direktiven freiwillig zu beugen bereit war- die Gewaltenteilung wurde zur Chimäre.
Welche Bedeutung hat angesichts dieser Entwicklungen die Analyse damaliger Prozesse? Welche Bedeutung haben sie für die heutigen Demokratieentwicklungen? Geht die Demokratie in Deutschland und Europa den Weg von repräsentativen Demokratien zu Demokratien vorsorgender Sicherheitsstaaten? In welchem Verhältnis stehen die Freiheitsrechte der Bürger zu dem Recht auf Schutz und Sicherheit? Welche Antworten haben die Linken in Europa auf mögliche Gefahren durch Terrorismus? Gibt es Wege zur Gewährleistung von Sicherheit, ohne die Einschränkung bürgerlicher Rechte und Freiheiten? Wie steht es um die Verhältnismäßigkeit der Mittel oder die Instrumentalisierung von Sicherheitsbedürfnissen?
Es diskutieren:
Professor Dr. Manfred Lauermann, Soziologe, Hannover
Eberhard Schultz, Menschenrechtsanwalt, Berlin
Jan Korte, Mitglied der Fraktion der Partei DIE LINKE im Deutschen Bundestag
Moderation: Albrecht Mauerer, Referent Innenpolitik der Fraktion der Partei DIE LINKE im Deutschen Bundestag
Buchhinweis:
Notstand der Demokratie
Auf dem Weg in einen autoritären Kapitalismus?
Hrsg. v. Frank Deppe, Horst Schmitthenner u. Hans-Jürgen Urban
Einband: Kartoniert/Broschiert
Beitrag von Eberhard Schulz: »Der Sicherheitsstaat in Aktion« (PDF, 96 KB)