Europa: Welche Perspektiven haben die europäisch-russischen Beziehungen?
„Medwedjew hat die Präsidentenwahl gewonnen, Putin hat gesiegt.“ So lautet ein Bonmot, das Moderatorin Bärbel Romanowski dem Diplomaten Svyatoslav Kutschko gleich zu Beginn des Abends servierte, verbunden mit der Frage: „Sehen Sie das auch so?“
Sah er natürlich nicht, der 1. Sekretär der Botschaft der Russischen Föderation in Deutschland. Der Mittdreißiger sprach vielmehr von einem „ganz normalen Vorgang“, dass von denen, die an der Macht sind, neues Führungspersonal ausgewählt und herangebildet wird. Schließlich hätte Bundeskanzler Helmut Kohl in Deutschland ebenfalls dafür gesorgt, dass Angela Merkel seine Nachfolgerin wurde.
Eine These, die bei den beiden anderen Gästen, die Bärbel Romanowski zu dieser Veranstaltung in der Reihe „Baustelle Europa“ im Namen der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Gründonnerstag Abend ins Europäische Haus am Brandenburger Tor eingeladen hatte, sofort auf Widerspruch stieß. Der Europa-Abgeordnete Helmuth Markov konnte nur mit Mühe gebremst werden, seine Sicht dieser „Erbfolge“ im Detail darzulegen. Der ZDF-Journalist Dietmar Schumann, lange Jahre in Moskau stationiert und ein exzellenter Russland-Kenner, ging dafür gleich zur Sache: Die russische Präsidentenwahl sei keine demokratische Wahl im westeuropäischen Sinne gewesen. Die Opposition sei massiv behindert worden, da sich sowohl die großen Fernsehsender wie auch die führenden politischen Zeitungen in der Hand der Regierung oder dem Kreml nahestehender Kreise befänden. Dennoch sollte man nicht verkennen, dass die Bevölkerung Russlands mit Medwedjew Kontinuität und Stabilität gewählt habe.
Unter Putin, so Schumann weiter, seien die enormen wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes nur unter den Teppich gekehrt und nicht wirklich gelöst worden. Putin habe ökonomisch Glück gehabt, weil der Ölpreis innerhalb weniger Jahre auf das Vierfache gestiegen sei. Die Armut sei zwar zurückgegangen, betreffe aber immer noch rund 40 Prozent der Bevölkerung.
Zahlen und Fakten, die Svyatoslav Kutschko so nicht im Raum stehen lassen wollte. Nach der ihm vorliegenden Statistik betreffe die Armut nur noch 14 Prozent der russischen Bevölkerung, was sicher immer noch zu viel sei. Aber die Putinschen Sozialprogramme im Gesundheitswesen, im Bildungswesen usw. hätten gegriffen. Das Wirtschaftswachstum betrage sechs bis sieben Prozent (und damit deutlich mehr als in Deutschland). Die Arbeitslosigkeit sei auf rund sieben Prozent gesunken.
Helmuth Markov, der im Europäischen Parlament den Ausschuss für internationalen Handel leitet, perfekt Russisch spricht und sowohl zu Zeiten der Sowjetunion als auch danach das Land bereiste, sah die Dinge differenzierter: Russland habe Anfang der 90er Jahre nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion einen enormen Einbruch bei der Industrie erlebt, bedingt durch die ungleiche Verteilung der Produktionsanlagen innerhalb der UdSSR auf die einzelnen Unionsrepubliken. Unter Jelzin habe eine neue „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ stattgefunden, verbunden mit dem Zerfall des Staates. Unter Putin habe sich die Lage wieder stabilisiert. Die Gehälter der Staatsbediensteten würden heute wieder gezahlt. Die wirtschaftliche Entwicklung Russlands verlaufe aber sehr einseitig. In die Industriestaaten exportiert würden nur Erdöl, Erdgas und andere Rohstoffe, der Export von Industriewaren sei faktisch gleich Null.
Zugleich unterstrich Markov, der für DIE LINKE. im Europa-Parlament sitzt, die Notwendigkeit eines stabilen Russlands für Deutschland und für die Europäische Union. Die Beziehungen zu Russland seien äußerst wichtig. Wie diese Beziehungen jedoch von Seiten der Bundesregierung und der EU gestaltet würden, sei zum Teil katastrophal, kritisierte der Abgeordnete. Einerseits spreche Außenminister Steinmeier von der Notwendigkeit der Einbindung Russlands, andererseits werde Russland aber in der Kosovo-Frage vor den Kopf gestoßen.
Natürlich wurden auch die Themen Verletzung der Menschenrechte, Morde an politischen Journalisten in Russland, Einschränkungen der Pressefreiheit oder der Tschetschenien-Konflikt in der Debatte nicht ausgespart. Helmuth Markov verwies auf erhebliche Demokratie-Defizite in Russland, wie sie sich beispielsweise in Polizeieinsätzen gegen Demonstrationen von Homosexuellen zeigten. Während bei den letzten Parlamentswahlen 1.600 Beobachter der EU zugelassen worden waren, habe Russland zur Präsidentenwahl in diesem Jahr die Zahl der Beobachter auf lediglich 300 begrenzt – und das bei diesem riesigen Land. Eine solche Reduzierung der Zahl der Beobachter hätte Russland überhaupt nicht nötig gehabt. Da stelle sich natürlich die Frage nach dem Warum.
Auf eine Bemerkung aus dem Publikum, es sei doch wichtiger, die soziale Lage der Menschen in Russland zu verbessern als Homosexuelle ungehindert demonstrieren zu lassen, plädierten sowohl Markov als auch Romanowski vehement für die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Sowohl soziale als auch politische Menschenrechte seien gleichermaßen unverzichtbar und dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Bei der Behandlung der außenpolitischen Themen verwies Bärbel Romanowski darauf, dass Russland den KSE-Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa ausgesetzt hat und fragte: „Droht ein neuer Rüstungsschub oder lässt Russland Abrüstungschancen erkennen?“ Svyatoslav Kutschko unterstrich, dass Abrüstung auf Gegenseitigkeit beruhen müsse. Schließlich hätten die NATO-Staaten diesen Vertrag, der 1999 erneuert wurde, bis heute nicht ratifiziert. Darüber hinaus planten die USA, Teile des amerikanischen Raketenabwehrsystems auf Grund bilateraler Vereinbarungen in Polen und in der Tschechischen Republik zu stationieren.
Der Europa-Abgeordnete Helmuth Markov erklärte, die Raketenschild-Vereinbarungen, die die USA mit Polen und der Tschechischen Republik aushandeln, richten sich nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen uns, gegen das sogenannte alte Europa. Für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus sei dieser Schild völlig wertlos, ja geradezu absurd.
Dietmar Schumann warnte, Europa dürfe nicht in alle Fallen tappen, die die USA aufstellten. Die USA hätten ein Interesse daran, Europa zu spalten und das Verhältnis der EU zu Russland zu belasten. Russland habe dagegen ein vitales Interesse an guten Beziehungen zur EU, weil es im Osten mit China befasst sei. China beherrsche praktisch den russischen Markt östlich des Ural.
Schließlich ging es in der Diskussion um ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Russland, das aus russischer Sicht eine Vertiefung der wirtschaftlichen Integration und der Zusammenarbeit bei der Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent garantieren soll. Dietmar Schumann sagte, ein solches Partnerschaftsabkommen sei sehr sinnvoll. Es könnte alle Politikfelder umfassen. Sehr nützlich wäre eine Kooperation auf dem Feld der Infrastruktur. Klar sei aber, dass der Austausch EU – Russland keine Einbahnstraße sein könne.
Trotz aller Dissenspunkte – in einem waren sich die Teilnehmer der Diskussionsrunde einig: Gute und vertrauensvolle Beziehungen zwischen der EU und Russland werden in Zukunft beiden Partnern nutzen.
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Die Veranstaltung wurde vom Fernsehsender „Offener Kanal Berlin“ (OKB) aufgezeichnet. Die Ausstrahlungstermine sind: 25. März 2008, 10.00 Uhr; 15. April 2008, 22.00 Uhr; 5. Mai 2008, 22.00 Uhr.
Jochen Weichold