Documentation Mobilitätsgarantie in Stadt und Land?

Bericht: Ratschlag zur kritischen Begleitung der Enquetekommission «Mobilität der Zukunft in Hessen 2030»

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29.03.2023

Themes

Stadt / Kommune / Region, Sozialökologischer Umbau, Commons / Soziale Infrastruktur

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Am 29. März 2023 hatten die Fraktion DIE LINKE. im Hessischen Landtag und die Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Ratschlag eingeladen. Wir durften 80 Teilnehmer*innen aus Politik, Fachverbänden, Gewerkschaften und Wissenschaft begrüßen, die gekommen waren, um mit uns zu diskutieren. Hintergrund ist die Enquete-Kommission „Mobilität der Zukunft in Hessen 2030“ und die Frage, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden können. Denn die Verkehrswende ist angesichts des Klimawandels dringender geboten denn je, erfordert im ländlichen Raum aber andere Konzepte als in der Stadt. Und sie muss natürlich sozial gestaltet sein, so dass Haushalte mit niedrigen und normalen Einkommen nicht noch mehr belastet werden, sondern eher entlastet werden – ein wichtiger Punkt angesichts der aktuellen Krise der steigenden Lebenshaltungskosten.

Eine Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit der Linksfraktion im Hessischen Landtag, der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel.

Im Laufe der Diskussionen zeigte sich, dass die Ergebnisse der Enquete-Kommission eher enttäuschend sind und auch zu unkonkret, um Hessen auf den 1,5-Grad-Zielpfad des Pariser Klimaabkommens zu bringen. Gerade auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit wurde diskutiert: das 9-Euro-Ticket habe zu viele mehr sozialer Teilhabe für Menschen mit geringen und normalen Einkommen geführt. Auch die Belange der Beschäftigten in der Autoindustrie müssten viel stärker berücksichtigt werden: so setzt sich DIE LINKE. Hessen für die Einrichtung eines Transformationsfonds ein. Die diskutierten Beispiele aus Thüringen und Kopenhagen verdeutlichten, dass die Menschen beim Thema Mobilitätswende oft viel mutiger sind, als gemeinhin angenommen wird (Stichwort Bürgerbusse in Thüringen, Stichwort Einschränkung von Parkraum in Kopenhagen). Auch kristallisierte sich heraus, dass die Verkehrswendebewegung Kreativität braucht sowie das Zusammenwirken von Stadt und Land. Für den ländlichen Raum ist nicht nur wichtig, das ÖPNV- und Bahnangebot auszubauen, sondern auch die Raumplanung zu ändern: Arbeitsplätze müssten auch dezentral vorzufinden sein. Und zu guter Letzt ist der ÖPNV, gerade auch im ländlichen Raum, eine Demokratiefrage: umso wichtiger in Zeiten von zunehmendem Rechtsruck, steigenden Lebenshaltungskosten und sich verschärfendem Klimawandel.

In seinem Eröffnungsbeitrag hob Jan Schalauske, der Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Hessischen Landtag hervor, dass die schwarz-grüne Landesregierung zwar ein gut klingendes „Nahmobilitäts-Gesetz“ vorgelegt habe, mit günstigeren Tickets und einem angekündigten Ausbau von Bus und Bahn. Aber dies klinge eben nur gut, denn die Wirklichkeit sehe anders aus. Das Nahmobilitätsgesetz sei unverbindlich und falle hinter die Forderungen des Volksbegehrens zurück. Mit der Rodung des Dannenröder Waldes für die Autobahn sei ein intaktes Ökosystem zerstört worden, und diese Aktion sei überdies sehr teuer: 1,5 Mrd. EUR. Mobilität sei aber nicht nur eine Frage des Klimaschutzes, sondern auch eine Klassenfrage. Eine Einzelfahrt in Frankfurt im ÖPNV sei schlicht viel zu teuer – da helfe weder das 49-Euro-Ticket bzw. das 41-Euro-Ticket noch das 31-Euro-Ticket. Das 9-Euro-Ticket sei für die meisten Menschen erschwinglich und dies müsse auch wieder eingeführt werden. Umso löblicher, dass der rot-rot-grüne Senat in Berlin das 9-Euro-Ticket bis Ende 2023 verlängert habe. Daran sehe man: eine Senkung der Fahrpreise ist politisch möglich, und langfristig müsse natürlich der Nulltarif im ÖPNV das Ziel sein. Für den ländlichen Raum konnte Jan Schalauske der schwarz-grünen Landesregierung auch kein gutes Zeugnis ausstellen: es sei nicht eine einzige Bahnstrecke reaktiviert worden.

Autor: Sebastian Scholl, Fraktionsreferent Linksfraktion im Hessischen Landtag Manuela Kropp, Projektmanagerin RLS Büro Brüssel

Für eine solidarische Mobilitätswende brauche es natürlich auch gute Arbeitsbedingungen im ÖPNV – einige Busfahrer*innen müssten ihren Lohn aufstocken und könnten teilweise während ihrer Schichten nicht auf die Toilette gehen.

Abschließend betonte Jan Schalauske, dass der Fußverkehr und Radverkehr Vorrang vor dem motorisierten Individualverkehr haben müsse. Denn die CO2-Emissionen im Verkehrssektor müssen aus Klimaschutzgründen massiv gesenkt werden – aber leider macht das hessische Klimaschutzgesetz keinerlei Vorgaben dazu. Am Vorabend (28. März 2023) habe sich die Bundesregierung bedauerlicherweise von ihren Sektorzielen zur Treibhausgaseinsparungen verabschiedet sowie grünes Licht für 144 Autobahnprojekte gegeben. Dies ist kontraproduktiv und weist in die völlig falsche Richtung. Daher sei es wichtig, sowohl innerhalb der Parlamente als auch außerhalb der Parlamente für eine sozial-ökologische Transformation zu kämpfen.

Keynote Bodo Ramelow

Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen (DIE LINKE) bezeichnete in seinem Eingangsstatement die aktuellen Diskussionen zum Ausbau von Autobahnen als „bitter“, denn es gehe nicht nur um die Mobilität von Menschen, sondern auch um Räume der Natur, die durch diese Art von Bauten zerstört würden. Dabei dürften wir in der Diskussion nicht den Fokus verengen und das Auto „bekämpfen“ – denn schließlich verbinde sich mit dem Auto auch ein gewisser Mythos der Aufstiegsgeschichte der Bundesrepublik. Sondern es gehe vielmehr um die Frage, wie der Mensch von A nach B komme. Dabei sei doch ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen ein erster Schritt in die richtige Richtung, denn ohne Tempolimit sei das Fahren dort stressig und aggressiv. Bodo Ramelow warnte, dass bereits heute 42 Prozent des Thüringer Fichtenbestandes durch den Klimawandel akut bedroht sei – eine Katastrophe, denn die Fichte war einmal der „Brotbaum“ für die Waldbauern. Hier stelle sich schon die Frage, ob denn immer mehr Autobahnen durch die Wälder gezogen werden müssten. Thüringen habe ein Gesetz eingebracht, um zu erreichen, dass Ackerland an die Produktion von Nahrungsmitteln gebunden sein muss. Auch den Thüringentakt (integraler Taktfahrplan) habe seine Landesregierung eingeführt, der aber eben nur wirklich funktionieren könne, wenn auch der Deutschlandtakt umgesetzt werde.

Bodo Ramelow beschrieb an vielen Beispielen aus Thüringen, wie wichtig es sei, dass die Schiene Vorrang vor allen anderen Verkehrsträgern erhalte. Die Deutsche Bahn gehöre nicht an die Börse, und müsse ein wichtiger Player in Deutschland sein (und eben nicht auf internationalen Märkten). Aber dabei dürfe natürlich nicht das Auto bekämpft werden, sondern es müsse sichergestellt werden, dass Menschen kein Auto brauchten – dies sei auch eine soziale Frage, denn der Unterhalt eines Autos sei teuer. Die Thüringische Landesregierung fördere im ländlichen Raum den Einsatz von Bürgerbussen, und erhalte von der Bevölkerung viel Lob dafür: die sozialen Beziehungen hätten sich nachweisbar verbessert. Außerdem hat seine Landesregierung das Azubi-Ticket für 50 EUR eingeführt, das überall in Thüringen gelte (außer in einem Landkreis). Zu guter Letzt verband Bodo Ramelow die Frage der Verkehrswende mit der Energiewende und kritisierte, dass Atomkraft als preiswert dargestellt würde. Denn wenn Strom aus Erdgas erzeugt werde, um die Atomkraftwerke zu kühlen, dann sei das weder preiswert noch sinnvoll. Viel sinnvoller seien dagegen Energiegenossenschaften im ländlichen Raum, die erneuerbare Energie herstellen und diese dann für Pedelecs und kleine Elektroautos verwenden könnten. Hier zeige sich, dass die Verkehrswende mit der Energiewende in Bürger*innenhand zusammengedacht werden müsse.

Keynote Ninna Hedeager Olsen

Ninna Hedeager Olsen, Vizebürgermeisterin in Kopenhagen von 2018 – 2022 (für die linke Partei Red-Green-Alliance), unterstrich in ihrer Keynote-Rede, dass in Kopenhagen das Zusammengehen von Klimaschutz und Sozialpolitik zu Erfolgen geführt hätte. Bspw. seien die Einschränkungen beim Parkraum kombiniert worden mit einem Ausbau von tatsächlichen Alternativen – z.B. einem preiswerten ÖPNV. Die ärmeren Haushalte in Kopenhagen könnten sich sowieso kein Auto leisten und würden bspw. vermehrt das Fahrrad nutzen. Die Gebühren, die die Stadt für das Parken einnimmt, werden für den Ausbau der Kinderbetreuung und die Fahrpreissenkung im ÖPNV ausgegeben. Als „technische Bürgermeisterin“ für Umweltschutz habe sie die Erfahrung gemacht, dass es gut sei, am Anfang einer Legislaturperiode umfangreiche Änderungen einzuführen, da sich die Bürger*innen im Laufe der Monate dann an die Veränderung gewöhnten und etwas später dann auch tatsächlich darüber freuen würden – wie z.B. über mehr Parks und Grünflächen in der Stadt. Leider bestehe momentan die Herausforderung, dass die Kopenhagener Bürge*innen sowohl vermehrt Fahrräder als auch Autos kauften. Außerdem habe die nationale Regierung die grünen Steuern (green taxes) abgeschafft und dies stelle nun ein Problem für die Kopenhagener Stadtregierung dar. Abschließend bemerkte Ninna Hedeager Olsen, dass die Menschen oft progressiver seien und mehr Veränderungen in der Verkehrspolitik akzeptierten, als man gemeinhin glaube. Und es sei eben besonders wichtig sicherzustellen, dass das Thema Klimaschutz und solidarische Mobilitätswende nicht von der politischen Rechten besetzt werde. 

Workshop 1: Sozial-ökologische Mobilitätswende: Das Beispiel Kopenhagen

Referent*in: Ninna Hedeager Olsen, Vizebürgermeisterin Kopenhagen 2018-2022

Im Anschluss an ihren Eröffnungsvortrag drehten sich die Nachfragen und die Diskussion mit Ninna Hedeager Olsen darum, was aus den Transformationen in Kopenhagen für die Verkehrswende hierzulande gelernt werden kann. Ihre wichtigste Botschaft: Die Öffentlichkeit war mutiger als die Politiker*innen. Gegen Widerstände gerade aus Sozialdemokratie und Konservativen wurden Änderungen wie hohe Parkgebühren und weniger Parkplätze, aber im Gegenzug eben auch mehr Grünflächen und Spielplätze durchgesetzt. Auch in Kopenhagen würden zwar immer mehr Autos gekauft, aber die Menschen wollten auch mehr Grün und Lebensqualität. Die Reinvestition von hohen Parkgebühren in Sozialleistungen wie Kinderbetreuung erhöhe auch die Akzeptanz für die Parkgebühren.

Dabei sei auch das historische Hochwasser von 2011 ein Weckruf für mehr Klimaschutz und Klimaanpassung gewesen, da viele Menschen direkt betroffen gewesen seien. Wenn die öffentliche Meinung sich wandele, sehen die Menschen, dass eine anfangs kleine Partei die war, die von Anfang an dafür war und die anderen immer die, die bremsten.

Workshop 2: Bus und Bahn statt Autobahn

Referent*innen: Sabine Leidig, Stadtverordnete in Kassel, frühere Bundestagsabgeordnete und Jakob Migenda, Landesvorsitzender DIE LINKE Hessen

Ein Grundproblem bei der sinnvollen Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastruktur sei der Bundesverkehrswegeplan, stellte Sabine Leidig vor. Dieser gehe von der grundlegenden Annahme aus, dass der Verkehr auf den Straßen ständig zunehme und dementsprechend ständig weitere Kapazitäten geschaffen werden müssen. Das Gegenteil sei aber richtig: Insbesondere Logistikunternehmen rechnen schlicht die Kosten und den Zeitvorteil aus und je schneller es auf der Straße gehe, desto mehr Verkehr gehe dann auch auf die Straße. Die grundsätzliche ökonomische und ökologische Frage sei der Ausbau des Schienenverkehrs.

Jakob Migenda ging auf die Möglichkeiten ein, die Verkehrswende durch Bewegungen und Proteste zu unterstützen. Der Dannenröder Wald hätte ein Kipppunkt sein können, wie der Hambacher Forst für den Kohleausstieg. Es gebe aber eine Tendenz, dass Proteste eher nicht erfolgreich sind, wenn die Grünen mitregieren. 

Die anschließende Diskussion betrachtete die Frage außerparlamentarischen Drucks ebenso wie inhaltliche Fragen: Die Verkehrswende-Bewegung brauche Kreativität, das Zusammendenken von Stadt und Umland und den Einsatz gezielten diskursiven Drucks über Mittel der direkten Demokratie. Ferner wurde u.a. auf die Bedeutung von Verkehrsvermeidung hingewiesen: Das betreffe die Reduktion von Güterverkehr, aber auch die Bereitstellung von wohnortnaher Infrastruktur, etwa von Lebensmittelläden.

Workshop 3: Mobilität im ländlichen Raum

Referent*innen: Maria Stockhaus, Stadtverordnete in Darmstadt sowie Sebastian Schackert, DIE LINKE Schwalm-Eder-Kreis

Maria Stockhaus eröffnete die Diskussion mit Thesen zur Mobilität im ländlichen Raum. Grundlage sei der Ausbau des ÖPNV: Das Angebot müsse rund um die Uhr flächendeckend verfügbar sein, in einer dichten und merkbaren Taktung. Das bereitgestellte Angebot müsse der angestrebten Zielnachfrage entsprechen und nicht lediglich dem Ist-Zustand gerecht werden. Bei den Strukturplanungen für den ländlichen Raum müssten nicht nur Angebote der Daseinsvorsorge betrachtet werden, sondern auch Arbeitsplätze dezentral liegen. Ein Knackpunkt sei die “letzte Meile”, die im ländlichen Raum oft mehrere Kilometer lang sei. Sie müsse ohne eigenen PKW erschlossen sein, etwa mit Kleinbussen, Mobilitätsstationen, On-Demand-Verkehren, in Randlagen auch Taxen. Dabei sei die Barrierefreiheit etwa auch bei der Information und der Zugänglichkeit wichtig. Sebastian Schackert stellte das der Praxis im ländlichen Raum gegenüber und zeigte anhand von Beispielen aus dem Familienalltag: Probleme seien u.a. zu lange Reisezeiten, zu viele Umstiege, zu schlechter Takt, zu hohe Preise.

In der Diskussion wurden die Vor- und Nachteile von On-Demand-Verkehren und autonomem Fahren im ÖPNV betrachtet, ebenso wie die Probleme und Herausforderungen von Bahnstrecken als Rückgrat der Verkehrswende im ländlichen Raum. Auch die multimodale Mobilität auf dem Land sei noch ausbaufähig, etwa Carsharing, Fahrradabstellanlagen oder integrierte Mobilitätsstationen in verschiedenen Größenordnungen. Letztlich sei Mobilität im ländlichen Raum auch eine Demokratiefrage: Die politischen Entscheidungsträger*innen nutzen den ÖPNV oft gar nicht, umgekehrt seien regelmäßige Nutzer*innen oft ohne direkte politische Mitspracherechte.

Workshop 4: Ist das 49-Euro-Ticket die Lösung? Was darf Mobilität kosten?

Referent*in: Dr. Claudia Hille, Institut Verkehr und Raum der FH Erfurt

Die Forschungsergebnisse von Dr. Claudia Hille bildeten den Ausgangspunkt der Veranstaltung zu Mobilität und Teilhabe. Ihre empirische Untersuchung zu den sozialen Auswirkungen des 9-Euro-Tickets auf Haushalte mit geringem Einkommen kam u.a. zu dem Ergebnis, dass das stark verbilligte Ticket die Mobilität der Betroffenen erhöht habe, Zugangshürden abgebaut wurden und die Befragten mehr unterwegs gewesen seien. Das habe zu mehr soziale Kontakte, mehr außerhäusigen Aktivitäten, verbesserte Erreichbarkeit von Angeboten der Daseinsvorsorge geführt. Die ermittelte Zahlungsbereitschaft für ein solches Ticket liege allerdings deutlich unter 49 Euro. Für mehr Mobilitätsgerechtigkeit sei der Ausbau und die Weiterentwicklungs des ÖPNV nötig, aber auch geringere Preise für mehr Teilhabe. Dafür brauche es allerdings auch einen Zugang zur Mobilität, das sei gerade im ländlichen Raum noch ein großes Problem. Notwendig sei eine Verkehrspolitik, die sich an den Bedürfnissen aller Einkommensschichten orientiere.

In der anschließenden Diskussion wurde auf die politischen Auswirkungen des Forschungsprojektes aus dem vergangenen Jahr eingegangen. Die Studie wurde etwa im Bundestagsausschuss behandelt, das blieb aber ohne feststellbare politische Folgen. Die besondere Bedeutung bezahlbarer Mobilität in Bezug auf Frauen und marginalisierte Gruppen wurde noch einmal hervorgehoben. Zu oft werden heute soziale Fragen der Mobilität hinter ökologische zurückgestellt, oder gar hinter ökonomische, etwa bei Finanzdefiziten in Kommunen.

Workshop 5: Mobilisierung für die Verkehrswende von unten – der Radentscheid in Frankfurt

Referent*in: Alexander Breit, Radentscheid Frankfurt

In der Diskussion mit Alexander Breit wurden die Bemühungen Frankfurts betrachtet, “Fahrradstadt” zu werden. Aus dem Radentscheid heraus wurden etwa zwei Musterkonzepte für Fahrradstraßen und Kreuzungen erarbeitet, die zwischenzeitlich auch von der Stadt umgesetzt werden. Dies werde auch wissenschaftlich begleitet, Ergebnisse seien u.a. eine große Verbesserung des Sicherheitsempfindens der Rad fahrenden Menschen. Aber auch die Lebensqualität der Anwohnerinnen verbessere sich, auch bei Menschen, die vor allem Auto fahren. Anhand der derzeit laufenden und lokalpolitisch umstrittenen Umwandlung des Oeder Wegs in eine Fahrradstraße mit Modalfiltern lasse sich auch betrachten, wo die Grenzen zwischen sachlicher Debatte und populistischer Stimmungsmache von Rechtsaußen verschwimme.  Insgesamt sei die Bewertung der getroffenen Maßnahmen bei den Pilotprojekten hinterher deutlich besser, als die Kritik vorher vermuten lasse. Ob der Frankfurter Radentscheid als Herangehensweise für eine “Stadtplanung von unten” verallgemeinert werden könne, wurde kontrovers diskutiert: Er sei noch lange nicht umgesetzt, Probleme etwa mit fortschreitender Gentrifizierung werden ausgeklammert und der Radentscheid sei kein Verkehrskonzept für die ganze Stadt, so einige Positionen.

Workshop 6: Nach dem Volksbegehren Verkehrswende - was muss sich in Hessen bewegen?

Referent*innen: Robert Wöhler, Vertrauensperson Volksentscheid Verkehrswende Hessen; Sofrony Riedmann, ADFC-Landesgeschäftsführer

Auch auf Landesebene gab es einen Versuch direkter Demokratie für die Verkehrswende. Das Bündnis Verkehrswende Hessen, vertreten durch Vertrauensperson Robert Wöhler und den ADFC-Landesgeschäftsführer Sofrony Riedmann, stellte sich selbst vor, vor allem aber seine landespolitischen Forderungen. Kern des Volksbegehrens war ein ausführliches Verkehrswendegesetz als Artikelgesetz, das aufzeigen sollte, was bei entsprechendem politischen Willen problemlos möglich wäre. Es sollte mit gezielten Änderungen des Rechtsrahmens die Verkehrsträger des Umweltverbundes stärken und gleichwertige Mobilitätsmöglichkeiten in Hessen gewährleisten. Politische Forderungen des Bündnisses für weitere Schritte zu einer progressiven Verkehrspolitik sind: Eine verbindliche Mobilitätsgarantie im ganzen Land, mit einem Hessentakt im ÖPNV, der verbindliche Ausbau von Rad- und Fußverkehrsnetzen, Finanzierungsregelungen, die die Kommunen entlasten. Statt einer Politik der Anreize brauche es klare gesetzliche Regelungen: verbindlich, flächendeckend und garantiert.

Die anschließende Diskussion hatte einen Fokus auf die Elemente der direkten Demokratie: Die Zulassungsprüfung bei Volksentscheiden sollte nach vorne gezogen werden, damit Initiativen vor Beginn der Sammelphase Rechtssicherheit haben. Politischer Druck sei auch auf zukünftige Landesregierungen notwendig, alleine aus Einsicht würden diese nichts umsetzen. Dafür seien auch weiterhin Bündnisse notwendig, beispielsweise auch mit den Gewerkschaften. Es bleibe außerdem abzuwarten, ob die Bewegung für das Klimaschutzgesetz noch mobilisierungsfähig sei, wenn dieses im Bund zunehmend aufgeweicht werde.

Abschlusspodium

Mit Liv Dizinger, Abteilungsleiterin für Strukturpolitik, Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) Hessen-Thüringen, Prof. Martin Lanzendorf, Sachverständiger für die Fraktion DIE LINKE. in der Enquetekommission “Mobilität der Zukunft” des Hessischen Landtags, Axel Gerntke, MdL DIE LINKE., verkehrspolitischer Sprecher

In der Schlussrunde wurde der Blick eingangs noch einmal auf die Enquetekommission gerichtet, die der Hessische Landtag vor zwei Jahren eingerichtet hatte und die derzeit zu ihrem Ende kommt. (Der Abschlussbericht wird im Juni veröffentlicht.) Martin Lanzendorf beschrieb die Ergebnisse der Enquetekommission als eher enttäuschend, da es teilweise nur wenig Offenheit bei der Diskussion zur sozial-ökologischen Transformation gegeben hätte. Fragen der Luftverschmutzung durch Stickoxide, Lärmbelastung, Flächenverbrauch und Artensterben seien in den letzten Jahren schlicht liegengeblieben. Ein Problem sei auch eine Art von „Parallelförderung“: sowohl der ÖPNV als auch der Autoverkehr würden gefördert. Die Politikansätze seien stark von den automobilen Zwängen geprägt, und dies führe dazu, dass das Auto sozusagen immer automatisch mitgedacht werde. Die Großstädte seien aber ein zentraler Kristallisationspunkt, wo man in Fragen der Mobilitätswende viel ausprobieren könne. Allerdings müssten für den ländlichen Raum gesonderte Konzepte überlegt werden. Die Themen Teilhabe & Mobilität bzw. Mobilitätsarmut haben lange Zeit in der Mobilitätsforschung keine große Rolle gespielt, doch dies ändere sich nun.

Liv Dizinger wies darauf hin, dass der DGB natürlich eine sozial-ökologische Transformation fordere, aber auch klar sein müsse, dass dies nicht mit einem Abbau von Arbeitsplätze einher gehen dürfe. Hessen ist ein Industriestandort und dies müsse natürlich berücksichtigt werden. Ein Transformationsfonds für die Automobil- und Zulieferindustrie sei wichtig, sowie auch ein Wandel der Geschäftsmodelle. Es werde mehr E-Mobilität gebraucht, ein stärkerer Ausbau der Ladeinfrastruktur und natürlich auch ein Ausbau des ÖPNV. Außerdem müssten die Beschäftigten in den Betrieben auch Zugang zu guter Aus- und Weiterbildung haben. Die Idee der Transformationsräte werde vom DGB unterstützt und es haben sich in Hessen auch bereits regionale Transformationsnetzwerke gebildet (in Mittelhessen und in Nordhessen). Die jüngsten gemeinsamen Aktionstage von verdi und Fridays vor Future zeigten, dass hier neue Bündnisse wichtig und sinnvoll seien.

Axel Gerntke unterstrich insbesondere, dass der ÖPNV auch eine sozialstaatliche Leistung sein müsse und daher der Nulltarif von der LINKEN gefordert werde. Zwischen 10 Mrd. und 15 Mrd. Euro würden sich die Kosten für ein 9-Euro-Ticket für das gesamte Bundesgebiet bewegen. Angesichts der Tatsache, dass 100 Mrd. Euro für ein Sondervermögen ganz schnell von der Bundesregierung mobilisiert werden konnte, stelle sich schon die Frage, warum so etwas nicht auch für den ÖPNV möglich sein soll. Eine Millionärssteuer oder die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs könnten hier schnell Abhilfe schaffen. Auch sollten die Arbeitgeber bei der Finanzierung des ÖPNV in die Pflicht genommen werden. DIE LINKE. Hessen fordert: eine Verlängerung des 9-Euro-Ticket für Alle, oder zumindest eine Verlängerung des 9-Euro-Ticket für Geringverdiener. Und sogar die Sozialverbände würden immer wieder darauf hinweisen, dass der Regelsatz beim Bürgergeld mindestens 200 Euro pro Monat zu niedrig sei.
 

Sebastian Scholl, Mai 2023