Berlin. Nahe dem Ostbahnhof an der Straße der Pariser Kommune wird die Revolution geplant - angeblich. Im vierten Stock des grauen Gebäudes, durch die weithin sichtbaren Worte "Neues Deutschland" getarnt, sitzen die Strategen, die Gerhard Schröder aus dem Kanzleramt vertreiben wollen. Man lasse sich nicht täuschen von der netten Art und den schönen blauen Augen des Michael Brie, der den Bereich "Politikanalyse" der Rosa-Luxemburg-Stiftung leitet. Und nicht becircen vom freundlichen Tonfall des Professors Dieter Klein, der mit seinen 73 Jahren der Zukunftskommission der Stiftung vorsteht. Als verkopfte Philosophen geben sich die beiden, schreiben seltsam gewundene Texte. Ihren "Masterplan" für die rote Republik haben sie schon vor Jahren ausgearbeitet. Nun wird er mit Hilfe alter Stasi-Seilschaften ausgeführt.
So jedenfalls könnte man meinen, wenn man jüngsten Fernsehberichten über die Entstehung der "Linkspartei" glauben würde. Der vermeintliche Beweis für diese dunklen Pläne könnte etwa in einem "Geheimpapier" zu finden sein, das von der Luxemburg-Stiftung ins Internet gestellt wurde: Schon im Mai 2003 - die PDS befand sich nach der verlorenen Bundestagswahl in der Krise - hatte Brie den Aufbau einer "übergreifenden bundesweiten parteipolitischen Formation" gefordert. Für ein solches Bündnis mit anderen linken Kräften, genannt "PDS plus", sollte "eine gemeinsame Liste mit linken GewerkschafterInnen, der Friedensbewegung und der globalisierungskritischen Bewegung" geschaffen werden. Die Analyse unter dem Decknamen "Ist die PDS noch zu retten?" war fertig. Nun, so die Verschwörungstheorie, mußte man nur noch das Beiboot im Westen, die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), gründen, um sie dann durch eine feindliche Übernahme der PDS einzuverleiben.
"Alles, was mit New Orleans passiert ist, wurde vorausgesagt, aber niemand würde sagen, daß die, die es vorausgesagt haben, daran schuld sind", kommentiert Michael Brie diese jüngsten Behauptungen über den Einfluß der Stiftung. Einen kausalen Zusammenhang zwischen seinen Analysen und dem Entstehen der Linkspartei gebe es nicht, und ihn als deren geistigen Vater zu bezeichnen, nennt er "absurd". Ein bißchen stolz ist der 51 Jahre alte Sozialphilosoph aber doch: darauf nämlich, daß er schon vor Jahren beschrieben hat, daß die Kluft zwischen den herrschenden Eliten und der Bevölkerung wachse und auf der Linken ein Vakuum entstehe. "Das ist doch erfreulich für unsere Analysefähigkeit", sagt er. Seit Jahren sei klar, daß die PDS allein es nie schaffen werde, dieses Vakuum zu füllen. Und natürlich habe man als Stiftung Kontakte zu linken Gewerkschaftern und Bewegungen wie den Globalisierungsgegnern von Attac gesucht. "Niemand von unserer Generation wollte im ostdeutschen Getto bleiben", sagt Brie.
Dieter Klein, der intellektuelle Übervater, sein Schüler Michael Brie und dessen Bruder Andre, der heute im Europaparlament sitzt, waren einst die theoretische Bezugsgruppe für das Führungsduo Gregor Gysi und Lothar Bisky, als die SED sich zur PDS wandelte. Michael Brie hat nach der Wende - im Gegensatz zu seinem Bruder - der Ehrenkommission der Humboldt-Universität freiwillig darüber berichtet, daß er seit seiner Studentenzeit acht Jahre für die Hauptverwaltung Aufklärung tätig war. Als Betreuer afrikanischer Studenten schrieb er Berichte über seine Schützlinge, insgesamt fünf bis sieben. "Ich habe vieles gemacht, wofür ich mich geschämt habe", sagt er. Brie, der 1991 gerade zum Professor berufen worden war, mußte die Uni verlassen. Seine Akte wurde nie gefunden - wahrscheinlich wäre er heute noch an der Universität. So schlug er sich mit Stipendien und Forschungsprojekten über Rußland durch, bis er 1999 zur Luxemburg-Stiftung kam.
Deren Einfluß auf die PDS gilt heute als eher gering. Die Stiftung sei die "westlichste Struktur" bei der Bundespartei und "allein schon deshalb vielen suspekt", sagt der Berliner PDS-Abgeordnete und junge Partei-Reformer Benjamin Hoff. Bries Papier habe die Realität vorweggenommen, aber nicht als Handlungsanweisung gedient. "Man muß nur einen Tag durch das Karl-Liebknecht-Haus gehen, um zu verstehen, wie absurd eine solche Vorstellung ist", beschreibt Hoff die Kluft zwischen Parteizentrale und Stiftung.
Auch die Geschichte der WASG widerlegt die Verschwörungstheorie. Denn die Partei bestand ursprünglich aus der "Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (ASG), von langjährigen SPD-Mitgliedern gegründet, die Gewerkschafter in Bayern waren. Die SPD-Rebellen wollten ursprünglich keine neue Partei ins Leben rufen, und mit der PDS hatten sie nichts am Hut. Die "Wahlalternative 2006" bestand hingegen zu einem großen Teil aus ehemaligen PDS-Mitgliedern, die aus Enttäuschung über die SED-Nachfolge ihr eigenes Projekt machen wollten.
Überlegungen, ob man mit der WASG kooperieren sollte, gab es bei der PDS freilich schon vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen. Doch den "dramatischen Druck" (Klein) zur Vereinigung schuf erst Gerhard Schröder mit seinem Neuwahl-Coup. "Dadurch kam es zum Bündnis von Lafontaine und Gysi, das wiederum das Bündnis der beiden Parteien erzwungen hat", sagt Brie. "Schröders Coup war zumindest kurzfristig das beste für die PDS", ist er überzeugt - andernfalls hätte man das Bündnis wohl zerredet. "Wir wären heute nicht annähernd soweit", pflichtet Hoff bei. "Denn alle wollten ausgiebig darüber sinnieren, warum einem der andere nicht gefällt."
Über den Berg sieht Brie das Projekt Linkspartei indes noch lange nicht. Es fehle eine Strategie für den Parteiaufbau. Die PDS mit ihren 60 000 Mitgliedern bleibe überaltert. "Wenn man die über 65 Jahre abzieht, bleiben bestenfalls so viele wie in der WASG", schätzt er - die WASG zählt gerade gut 6000 Mitglieder. Gesellschaftlich verankert sei die Linkspartei bei einem guten Wahlergebnis noch nicht.
Ob eine schwarz-gelbe oder eine schwarz-rote Koalition für die eigene Sache besser sei - darüber herrscht in der Linkspartei dialektisches Zweifeln. Eine schwarz-rote Koalition böte zwar die Möglichkeit, sich gegen die SPD zu profilieren - am liebsten als stärkste Oppositionspartei, die dann den Vorsitz im Haushaltsausschuß hätte. Doch die strategische Allianz mit einer wieder "sozialdemokratisierten" SPD, die man mittelfristig anstrebt, wäre leichter zu erreichen, wenn die Sozialdemokraten sich in der Opposition zu Schwarz-Gelb nach links bewegen würden.
Das Tempo, das Schröder der neuen Formation gemacht hat, will man nun noch dafür nutzen, um auch die Fusion von PDS und WASG, für die man vor wenigen Wochen noch zwei Jahre veranschlagt hatte, rascher zu vollziehen. Bis zum Frühjahr des nächsten Jahres wolle man die Vereinigung hinbekommen, heißt es in der Linkspartei. Bis dahin soll Lothar Bisky die Partei weiter führen - als ehrlicher Makler nach innen, dem auch zweifelnde Alt-Kader vertrauen, daß er die Genossen nicht an den Westen verraten wird.
Die künftige Bundestagsfraktion wird aus ostigen PDSlern, westigen Gewerkschaftern, WASG-Funktionären, westlinken Sektierern, Sozialbewegten und unabhängigen Linksprominenten bestehen - ein Spiegelbild der Parteien. Wenn etwa westdeutsche Feministinnen mit alten Ostkadern wegen deren frauenfeindlichen Witzen aneinandergeraten, dürfte es in Zukunft auch menschlich höchst interessant werden. "Die Linkspartei muß das Kunststück vollbringen, verschiedene Sozialisationsprozesse und kulturelle Wurzeln zusammenzubringen", beschreibt Dieter Klein, der einstige DDR-Politökonom und Prorektor der Humboldt-Universität, das Problem so trocken wie theoretisch korrekt. Dafür brauche man - wer hätte es gedacht? - "eine neue politische Kultur der Linken".
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.09.2005, Nr. 36 / Seite 9