Ein Professor im Unruhestand: Bereits seit 1999 führt Peter Förster die Arbeit an der Längsschnittstudie zur Situation junger Ostdeutscher ehrenamtlich fort. Und obwohl er sehr sachlich auftritt, ist seine starke Verbundenheit mit den fast 400 Menschen zu spüren, deren persönliche Einstellungen und Lebenssituation er seit fast 20 Jahren erforscht. Am Montag stellte er die Ergebnisse der 19. sogenannten Welle der Befragung der Testpersonen in Berlin vor. Sie waren Anfang 2005, dem Zeitpunkt der letzten Befragung, 32 Jahre alt. Gut ein Viertel der Teilnehmer lebt inzwischen in Westdeutschland oder im Ausland. Im Osten sehen gerade noch zwölf Prozent eine sichere Zukunft für sich.
Die Trends, die sich schon seit 2000/2001 abzeichnen, haben sich manifestiert: Eine abnehmende Minderheit dieses Jahrgangs Ostdeutscher, rund ein Viertel, akzeptiert das herrschende Gesellschaftssystem. Mittlerweile 68 Prozent der Testpersonen wollen den Kapitalismus wieder loswerden, was nicht bedeutet, daß sie sich die DDR zurückwünschen. »Sozialistische Ideale« stehen bei fast 60 Prozent hoch im Kurs. Auffällig ist, daß die Ostdeutschen in der Diaspora die Dinge nicht signifikant anders sehen als die Daheimgebliebenen.
Gravierend ist das Ausmaß, in dem schon diese 32jährigen mit Arbeitslosigkeit konfrontiert waren. Diese Tatsache im Verein mit dem von der Mehrheit erlebten »Defizit an Möglichkeiten zur politischen Teilhabe« und die damit korrelierende massive Unzufriedenheit werde von der Politik »völlig unterschätzt«, sagte Förster. Dabei nehme die Protestbereitschaft mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit stark zu, was sich allerdings nicht sofort in Taten äußere. »Da fehlen einfach die Leute, die vorangehen«, meinte der Professor.
Inzwischen waren 68 Prozent der Teilnehmer mindestens einmal arbeitslos, 35 Prozent schon mehrmals. Fast alle (94 Prozent) haben die Folgen von Arbeitslosigkeit im engsten Kreis von Freunden und Verwandten kennengelernt. Die Zeiten ohne Job summieren sich bei den Betroffenen auf durchschnittlich 14 Monate, Frauen waren im Durchschnitt sogar 16 Monate arbeitslos. Knapp 60 Prozent der Befragten waren 2005 erwerbstätig – bei den Männern allerdings 70, bei den Frauen gerade mal 52 Prozent. 2003 lag das entsprechende Verhältnis noch bei 66 zu 57 Prozent.
Diese starke Differenz zwischen den Geschlechtern schlägt sich auch in der Einstellung zum politischen und wirtschaftlichen System nieder, das von den Frauen wesentlich kritischer beurteilt wird als von den Männern. In der Studie wird der Zusammenhang zwischen Dauer der Arbeitslosigkeit und wachsender Unzufriedenheit wie auch Zukunftsangst, psychischen und gesundheitlichen Problemen belegt.
Die Ergebnisse wurden in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung präsentiert, die das Forschungsprojekt seit 2001 finanziert. Die Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch, die der Studie bereits in den letzten Jahren zu einer gewissen medialen Aufmerksamkeit verholfen hatte, sagte, die im Osten zunehmenden existentiellen Nöte würden im Parlament weiter kleingeredet oder gänzlich ignoriert. Als Beispiel für die bestehenden Differenzen nannte sie die Debatte um die »Generation Praktikum«, die es so im Osten kaum gebe. »Auch ein Praktikum muß man sich erst mal leisten können«, so Lötzsch unter Verweis auf die »starke finanzielle Rückendeckung aus dem Elternhaus«, auf die sich im Westen viel mehr Jugendliche verlassen könnten.
Presse release | Jugendbildung Ignorierte Alarmsignale
Langzeitstudie zu Lage und Meinungen junger Ostdeutscher. Zeiträume der Arbeitslosigkeit und Ablehnung des Kapitalismus wachsen. (junge welt, 11.4.2006)