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Warum wurde die Katastrophe von Ost-Ghouta nicht verhindert?

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Harald Etzbach,

Anti-Assad-Demo Berlin, Foto: Harald Etzbach
Foto: Harald Etzbach

Sieben Jahre nach dem Beginn der Erhebung gegen das Assad-Regime hat die Situation in Syrien eine neue Dimension der Brutalität erreicht. In Ost-Ghouta, einer von diversen Rebellengruppen gehaltenen Region in unmittelbarer Umgebung der Hauptstadt Damaskus, führt das Regime seit Mitte Februar einen Vernichtungskrieg, der vor allem die Zivilbevölkerung trifft. So zeigt eine vom Ausbildungs- und Forschungsinstitut der UN (UNITAR) auf der Grundlage von Sattelitenaufnahmen erstellte Karte deutlich, dass auch die jüngsten Bombardierungen vor allem den Wohngebieten in Ost-Ghouta galten. Nach Angaben der Organisation Ärzte ohne Grenzen wurden in den ersten beiden Wochen der erneuten Eskalation (18. Februar bis 3. März 2018) 1005 Menschen getötet und 4829 verwundet, das bedeutet durchschnittlich täglich 344 Verwundete und 71 Tote. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die realen Zahlen noch höher sind, da die Organisation nur Daten aus den von ihr unterstützten Krankenhäusern verwendet hat. Fast 400.000 Menschen in Ost-Ghouta leben unter täglichen Bombardements durch die syrische und russische Luftwaffe, und dies, nachdem sie bereits beinahe fünf Jahre lang einer Belagerung durch das Assad-Regime unterworfen waren.  

In den Jahren der Belagerung hat Ost-Ghouta zusätzlich zu den ununterbrochenen Angriffen mit konventionellen Waffen mehrfach Chemiewaffenangriffe erlebt. Auch wenn die syrische Regierung und Russland beharrlich behaupten, diese Angriffe seien durch die Rebellengruppen inszeniert worden, so weisen doch alle Indizien auf eine Verantwortung des Assad-Regimes und seiner Verbündeten hin.

Die Regierung blockiert seit Jahren die Lieferung von Hilfsgütern, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung nach Ost-Ghouta, was die Preise für Dinge des täglichen Bedarfs in astronomische Höhen steigen ließ und die Situation der Menschen in der Region insbesondere in den letzten Monaten dramatisch verschärft hat. Auch nach der jüngsten russischen Ankündigung einer täglichen fünfstündigen Feuerpause bleibt die Lage in Ost-Ghouta katastrophal. Nicht nur, dass die Feuerpause vom Regime und seinen Verbündeten kaum eingehalten wird, am 5. März musste auch die erste Hilfslieferung nach Douma - der größten Stadt in Ost-Ghouta - abgebrochen werden, als syrische Truppen den Artilleriebeschuss trotz gegenteiliger Vereinbarungen wieder aufnahmen. Von den 46 Lastwagen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), das den Hilfskonvoi organisiert hatte, konnten nur 32 entladen werden. Bereits zuvor waren 70 Prozent aller Hilfsgüter – darunter sämtliche medizinische Güter wie Erstversorgungssets, Operationsbestecke, Insulin und andere Medikamente - vom Regime beschlagnahmt worden.

Eine zweite Lieferung von Hilfsgütern mit lediglich 13 Lastwagen traf am 9. März in Douma ein. Dabei handelte es sich um Lebensmittelpakete und medizinische Güter, die vier Tage zuvor nicht abgeladen werden konnten. Unmittelbar nachdem der Konvoi das Gebiet wieder verlassen hatte, setzten die Angriffe auf Ost-Ghouta wieder ein.

Am nächsten Tag (10. März) wurden die Bombardierungen erneut verstärkt, obwohl nach einer Vereinbarung zwischen Rebellengruppen und einer Delegation, die zusammen mit dem UN-Hilfstransport nach Ost-Ghouta gekommen war, mehrere Kämpfer der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) (einer Allianz unter Führung der früheren Nusra, einem Ableger von al-Qaida) ausgewiesen worden waren. Die Anwesenheit der rund 200 HTS-Milizionäre war von der syrischen Regierung und ihren Verbündeten immer wieder als Vorwand für die Angriffe auf Ost-Ghouta gebracht und die Organisation explizit von den diversen Feuerpausen ausgenommen worden.

Die gegenwärtige Situation in Ost-Ghouta erinnert zunehmend an die Strategie des syrischen Regimes und seiner Verbündeten Ende 2016 in Aleppo: Belagerung, Aushungerung, Bombardierung und schließlich Vertreibung. Allerdings leben in Ost-Ghouta heute doppelt so viele Menschen wie in Aleppo Ende 2016, was das Ausmaß der jetzigen Katastrophe noch deutlicher werden lässt. Zudem ist unklar, wohin die aus Ost-Ghouta Vertriebenen gehen könnten. Auch die Provinz Idlib, die zu einem riesigen Freiluftgefängnis für Vertriebene und Oppositionelle geworden ist, wird mittlerweile regelmäßig von der russischen Luftwaffe bombardiert.

Die Bedeutung von Ost-Ghouta liegt nicht zuletzt in der geographischen Nähe der Region zur Hauptstadt Damaskus, die immer noch fest in der Hand des Assad-Regimes ist. Mit der militärischen Kampagne gegen Ost-Ghouta soll dieser Einflussbereich um strategisch wichtige Standorte erweitert und damit abgesichert werden. Während zurzeit die Streitkräfte des Regimes sowie zur Verstärkung herbeigerufene Assad-treue Milizen versuchen, Ost-Ghouta zu spalten, um die Versorgungswege abzuschneiden, reagiert die sogenannte internationale Gemeinschaft bestenfalls mit Hilflosigkeit, zumeist aber mit Wegsehen. Zwar erklärte Seid al-Hussein, der Hohe Kommissar für Menschenrechte der UN, das syrische Regime plane in Ost-Ghouta eine «Apokalypse», doch folgten den dramatischen Worten keinerlei Taten. Die UN hat sich nicht nur als unfähig erwiesen, das Morden in Ost-Ghouta zu stoppen, es ist ihr noch nicht einmal möglich, regelmäßige Hilfslieferungen in das Gebiet durchzusetzen oder die Konfiszierung von medizinischen Gütern durch das Regime zu verhindern. Europa - sowieso eher eine ideologische Konstruktion als eine politische Realität - hat nicht allzu viel in Syrien zu gewinnen. Der französische Präsident Macron hat dem syrischen Machthaber Assad zwar gedroht, dass Frankreich einen Militärschlag gegen das Regime durchführen werde, wenn es Chemiewaffen gegen Zivilist*innen einsetze, fügte aber sofort hinzu, dass es dazu bislang keine Belege gebe. Deutschland als EU-Führungsmacht schließlich erhält ein Drittel seines Gas- und Ölbedarfs aus russischen Lieferungen, so dass auch hier keine ernsthafte Positionierung gegen die Putin-Regierung zu erwarten ist. Vielmehr ist die Frage berechtigt, ob die «America first»-Politik der Regierung Trump Deutschland und einige andere europäische Länder nicht zu einer größeren Annäherung an Russland führen wird. Das Interesse der USA in Syrien scheint sich unterdessen vor allem auf eine mehr oder weniger dauerhafte Präsenz im Nordosten des Landes zu richten. Hier gibt es umfangreichere Öl- und Gasvorkommen, was wohl auch der Grund dafür war, dass die US-Luftwaffe Anfang Februar Assad-Truppen und russische Milizionäre attackierte, als diese  eine Stellung der mit den USA verbündeten Demokratischen Kräften Syriens (SDF) in der Provinz Deir ez-Zor angriffen.

Die Maßnahmen, die jetzt zu ergreifen wären, liegen auf der Hand: ein sofortiger Waffenstillstand, die sofortige Aufhebung aller Belagerungen, der sofortige Zugang für Hilfsorganisationen, die Freilassung politischer Häftlinge und der sofortige Schutz für alle Menschen in Syrien. Diese Forderungen wurden oft erhoben, zuletzt in einem von dem syrischen Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh initiierten Offenen Brief, der von mehr 300 Intellektuellen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen unterzeichnet wurde. Die Durchsetzung dieser Maßnahmen würde allerdings auch ein gewaltsames Vorgehen erfordern. Hierzu ist keiner der internationalen Akteure bereit - den Preis zahlen die Menschen in Ost-Ghouta und an anderen Orten Syriens. 
 

Harald Etzbach, Historiker und Politikwissenschaftler, arbeitet als Übersetzer und Journalist. Er publiziert zu Problemen des Nahen Osten und zur US-amerikanischen Außenpolitik.