Dietmar Wittich gehörte 1990 zu den Gründungsmitgliedern der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die damals Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V. hieß. Er hat die Stiftung auf vielen Feldern mitgestaltet, unterstützt und, auch kritisch, begleitet. Es können an dieser Stelle nur einige wenige und unvollständige Bespiele genannt werden, die gleichwohl die Breite und Intensität von Dietmars Wirken deutlich machen.
Zusammen mit dem 2003 ebenfalls leider sehr früh verstorbenen Michael Chrapa führte Dietmar eine Reihe von empirischen soziologischen Studien durch, die sich u.a. mit den Wähler*innenmilieus der PDS, aber auch längerfristigen Veränderungen und Trends befassten. Ein Begriff ist uns dabei in besonderer Erinnerung geblieben, der der «Informationsarbeiter“ – lange bevor die Begriffe «Industrie 4.0» bzw. «Arbeit 4.0“ die anstehenden tiefen Veränderungsprozesse der Arbeitswelt zu erfassen versuchten.
Ein zweites (ausgewähltes) Feld der Tätigkeit von Dietmar Wittich im Umfeld der PDS und dann für die RLS war die Zeitschrift Utopie kreativ, die bis Ende 2008 erschien und zu deren engerem Redaktionsteam Dietmar viele Jahre lang gehörte. Darüber hinaus war er von Anbeginn der Stipendienförderung der RLS an als Vertrauensdozent und langjähriges Mitglied im Auswahlausschuss aktiv und blieb es bis zuletzt – so brachte er sich auch in die diesjährige Klausur der Vertrauensdozent*innen im Februar ein.
Gleiches galt für den Gesprächskreis Friedens- und Sicherheitspolitik, den er mit aufgebaut hat – erinnert sei in diesem Zusammenhang sowohl an seine Studien zur Haltung der deutschen Bevölkerung zum Irak-Krieg 2003 und zu Militäreinsätzen, aber auch sein 2001 erschienenes Buch «Wahlzeiten, Kriegszeiten, andere Zeiten. Betrachtungen eines ostdeutschen Soziologen».
Mit Dietmar Wittich verliert die Rosa-Luxemburg-Stiftung nicht nur eines ihrer Gründungsmitglieder, sondern vor allem einen engagierten Kollegen, für den sich ein hoher wissenschaftlich-methodischer Anspruch und politische Intervention nicht ausschlossen, sondern einander bedingten. Wir sind Dietmar für seine 28 Jahre des Engagements für die RLS dankbar und werden ihn in ehrender Erinnerung behalten.
Dagmar Enkelmann, Florian Weis
Jörn Schütrumpf: «Trotzdem sagte er Nein»
Die wissenschaftlichen Einrichtungen der SED waren keine Orte, an denen Helden gezeugt oder auch nur gefördert worden wären – Verbiegen war keineswegs die letzte Bürgerpflicht. Umso verstörter reagierte der «Apparat», wenn jemand mal Nein sagte. Als Wolf Biermann im November 1976 zum ersten Deutschen wurde, der nach der Nazizeit aus einem deutschen Staat ausgebürgert wurde, veranstaltete die SED-Führung unter ihrem Personal eine Unterschriftensammlung. Dem Soziologen Dietmar Wittich winkte damals eine kommode Zukunft: 1977 stand seine Berufung zum Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED an. Trotzdem sagte er Nein.
Professor ist der demokratische Sozialist Dietmar Wittich nicht mehr geworden, stattdessen wurde er 1989 einer der Aktivisten der sich mühsam aus dem stalinistischen Sumpf herausarbeitenden Partei des demokratischen Sozialismus, und blieb dabei doch Wissenschaftler. Das «Institut für Sozialdatenanalyse» (ISDA), das er mitbegründete, lieferte – neben anderen empirischen Untersuchungen – über Jahre hinweg eine verlässliche Wahlforschung. Reich wurde damit niemand; im Gegenteil. Als das Institut nicht mehr zu halten war, machte Dietmar Wittich mit seinem kongenialen, früh verstorbenen Kollegen Michael Chrapa (1950–2003) allein weiter. Dass Dietmar Wittich 1990 zu den Gründungsvätern der heutigen Rosa-Luxemburg-Stiftung zählte und lange Jahre in der ehrenamtlichen Redaktion des Theorieblattes «UTOPIE kreativ» überaus produktiv arbeitete, war ihm eine Selbstverständlichkeit – ebenso, dass er mit dem so genannten Ruhestand keine Ruhe fand. Seine letzte große Arbeit war eine akribische Studie über die keineswegs im hellsten Sonnenlicht agierende «Atlantikbrücke» – ein Zweckbündnis, in dem Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien, jeweils aus dem oberen Zehntel, Ideen, Strategien und Taktiken entwickeln. Das Personal der Bundesregierung erledigt oft nur noch »den Vertrieb«. Dass diese Studie keinen «Verwerter» fand, dürfte nur die ganz Naiven überraschen…
Seit dem 17. April fehlt uns einer, der aus sozialistischer Überzeugung im richtigen Augenblick Nein zu sagen vermochte.
Salut Dietmar.
Werner Ruf: «Dietmar Wittich wird uns fehlen»
Dietmar Wittich war Soziologe – mit Leidenschaft. Er war der wohl beste Max Weber-Kenner in der DDR. Und er war Empiriker. Gar nicht so, wie die meisten empirischen Sozialforscher im Westen, die oft «Fliegenbeinzähler» genannt werden. Natürlich zählte Dietmar auch – aber mit Verstand: Seine Wahlanalysen, die er in einem eigens gegründeten (privatwirtschaftlichen) Institut gemeinsam mit Michael Chrapa erstellte, waren von seltener Brillanz: Dies lag schlicht daran, dass die Autoren nicht nur Zahlen präsentierten und deren vordergründige Korrelationen analysierten, sondern weil ihre Interpretationen auf einer dialektischen Analyse der gesellschaftlichen Prozesse fußten, die ihren Ausdruck – auch - in Wahlen fanden.
Dietmar war schon in DDR-Zeiten ein kritischer, souveräner Geist (s. den Nachruf von Jörn Schütrumpf). Gemeinsam mit seiner Frau Evelin gehörte er – man möchte sagen folgerichtig – zu den Gründern jenes Bildungsvereins, der dann zur Rosa-Luxemburg-Stiftung werden sollte. Dort lernten wir uns kennen und schätzen. Viele Jahre saßen wir gemeinsam im Auswahlausschuss des Studienwerks. Unsere Nähe entwickelte sich aus der Arbeit: So gut wie nie hatten wir einen Dissens, wenn es um die Beurteilung der Wissenschaftlichkeit eines Promotionsvorhabens oder auch «nur» um die Vergabe eines Studienstipendiums ging: Dieser Konsens ergab sich schlicht aus unserem Wissenschaftsbegriff: Wissenschaft gehört nicht in einen Elfenbeinturm, sie ist Teil von Gesellschaft und, weil sie politische Verantwortung trägt, ist sie normativ, einem humanistischen Gesellschaftsbild verpflichtet.
Diesen Anspruch hat Dietmar nie aufgegeben. In der Rosa-Luxemburg-Stiftung sah er eine Möglichkeit, ihn zumindest in Teilen zu verwirklichen. So engagierte er sich als Mitglied aktiv und engagiert mit viel Zeit und Energie in deren Entwicklung. Jüngst führte er noch eine wissenschaftliche Umfrage unter den Mitgliedern durch, die den Zweck hatte, den demokratischen Charakter der Stiftung zu stärken und ihr Profil zu schärfen. Lange Jahre redigierte er mit großem Engagement die zu seinem großen Ärger dann eingestellte wissenschaftliche Zeitschrift der Stiftung UTOPIEkreativ, in der vor allem auch der von der Stiftung geförderte wissenschaftliche Nachwuchs die Debatten um marxistische Theorie und die Gestaltung einer besseren Welt belebte.
Darum ging es auch in seiner letzten (bisher nur im Internet zugänglichen) großen Studie über die «Atlantikbrücke», die exemplarisch (und empirisch!) zeigt, wie die Richtlinien der Politik außerhalb der dafür vorgesehenen politischen Institutionen festgelegt werden, wie Demokratie ausgehöhlt wird durch informelle Bündnisse des internationalisierten Kapitals, dem die so genannte «politische Klasse» nur noch die Handlangerdienste leisten darf. Diese Arbeit ist eine fundierte, materialistische Untersuchung jener Prozesse, die wesentlich zu «Politikverdrossenheit» beitragen.
Und noch etwas: Dietmar Wittich hatte einen unbändigen Humor. Ohne ihn hätte er die Tiefen seines Lebens, insbesondere seine Abwicklung an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften trotz dreimaliger positiver Evaluation psychisch wohl nicht überstanden. Er war ein meisterhafter Erzähler, dem man Stunden lang lauschen konnte, wenn er vom Wissenschaftsbetrieb der DDR erzählte, Anekdoten aneinander reihte, Skurriles im Rückblick lebendig werden ließ. All dies würzte er mit fröhlicher Selbstironie, die erkennen ließ, wie sehr er das Leben und dessen schöne, genussvollen Seiten liebte und genoss.
Hervorheben möchte ich bei diesem verkürzten Blick auf sein Lebenswerk den Gesprächskreis Friedens- und Sicherheitspolitik der Stiftung, dessen Mitbegründer Dietmar war. Traumatisch war für ihn die Erinnerung an das Inferno in Dresden, dem er im Alter von knapp drei Jahren rennend an der Hand seine Mutter entkam. Diese grauenhafte Erinnerung hatte sich dem Kind für immer eingeprägt. Der Nachkriegskonsens des «Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg» kann als Motiv für sein Wissenschaftsverständnis wie für sein politisches Handeln verstanden werden. Ich glaube, im Namen dieses engagierten Gesprächskreises sprechen zu dürfen, wenn ich Dir, lieber Dietmar, an dieser Stelle und im Namen aller Mitglieder unseren großen Respekt und unseren aufrichtigen Dank für Deine wache und kritische Präsenz und Deine immer engagierte Mitarbeit ausspreche. Du hast das Selbstverständnis dieses Gesprächskreises (und vieler anderer Gremien der Stiftung) nachhaltig geprägt. In diesem Sinne wirst Du noch lange bei uns sein!