News | Staat / Demokratie - International / Transnational - Krieg / Frieden - Israel - Westasien im Fokus Zeev Sternhell blickt auf 70 Jahre Israel

Der israelische Historiker und Israel-Preis-Träger Zeev Sternhell über die Gründung Israels, die Gefahren der Besatzung und das Verkommen der politischen Kultur.

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Zeev Sternhell
Zeev Sternhell (Foto: Inge Günther)

Mit Zeev Sternhell sprach Inge Günther.
 

Sie waren ein 13 Jahre alter Junge, einer der wenigen aus Ihrer Familie, der den Holocaust überlebt hatte, als David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 Israels Unabhängigkeit deklarierte. Welche Gefühle hat die Staatsgründung bei Ihnen ausgelöst?

Ich lebte damals in Avignon, wohin es mich nach dem Krieg in Polen zunächst verschlug. Israels Staatsgründung und der Befreiungskrieg hatten einen sehr großen Einfluss auf mich. Ich war noch ein Kind, aber ich wollte mitmachen. Also habe ich mich im Alter von 16 Jahren zur Alija (Anm. d. Übers.: Alija ist ein biblischer Begriff, der noch heute die Rückkehr eines oder mehrerer Juden nach Israel bedeutet.) entschlossen, um am Aufbau einer neuen Gesellschaft teilzuhaben. Nicht nur, weil Israel ein jüdischer Staat war, auch die Kibbuzim, die kollektiven Lebensformen, hatten es mir angetan.

Der sozialistische Charakter zog Sie besonders an?

Ja, sehr. Israel war ein neuer und zugleich ein anderer Staat. Für einen Jungen wie mich, der in Polen den Krieg erlebt hatte – wahrscheinlich der schlimmste Platz zu jener Zeit, war es großartig, dass Juden für ihre staatliche Unabhängigkeit kämpften. Ein unvergleichlicher Moment! Im Rückblick von siebzig Jahren ist der Staat, wie wir ihn heute haben, wohl weit weg von dem, was wir erhofften. Aber in jener frühen Zeit war es ein unglaublicher Anblick, Juden, deren Angehörige von den Deutschen vergast worden waren, zu sehen, wie sie einen Platz für sich selber schufen. Damals sah ich Menschen angesichts der Flagge Israels weinen oder wenn sie ihren israelischen Pass erhielten. Alles schien eine Art Wunder zu sein.

Sie selbst kamen ganz auf sich gestellt her?

Ja, mit der Jugend-Alija. Meine Eltern und meine Schwester hatten nicht überlebt. Wie ich überlebt habe? Wie die meisten anderen durch Zufall, weil jemand dort oben (er zeigt mit dem Finger hoch) uns rettete. Nein, im Ernst, meine Mutter hatte mich einer Tante und ihrem Mann anvertraut, die Geld besaßen und das Glück hatten, dass zwei polnische Familien uns halfen. Yad Vashem hat später eine von ihnen als Gerechte unter den Völkern anerkannt.

Bitte schildern Sie uns Ihre ersten Jahre in Israel.

Hier kam ich zunächst in eine Einrichtung für alleinstehende Kinder wie mich, in Haifa konnte ich dann die Oberschule beenden. Später zog ich in einen Kibbuz wie viele meiner Generation. Man nannte uns die Staatsgeneration. Für uns war auch der Militärdienst, so hart er war, ein Privileg, ein Dienst an der Nation. 1954 ging ich für drei Jahre in die Armee und wurde ein Offizier. Mein erster Krieg war der Krieg von 1956, ich nahm an der Schlacht um Rafah teil.

In Ihrem Fall ist aus dem frühen enthusiastischen Gefolgsmann einer der herausragenden Kritiker israelischer Politik geworden. Wie hat sich der Prozess vollzogen? Hat sich das schleichend entwickelt oder macht sich das an bestimmten Ereignissen fest?

Ein wesentliches Charakteristikum für meine Generation wie auch für die Palmach-Generation vor uns, also derjenigen, die vom Untergrund aus den Staat gegründet hatten, war der Konformismus. Es gab keine Leute, die konformistischer waren als wir, vielleicht abgesehen von jenen in der Sowjet-Revolution. Ich hatte niemals Zweifel, dass unsere politische Führung im Großen und Ganzen das Richtige tat. Erst Jahre später setzte bei mir insofern das Nachdenken ein, als dass die Sinai-Kampagne von 1956, die von England und Frankreich unterstützt wurde, um den ägyptischen Nationalismus zu brechen, vielleicht ein Fehler war.

Keimten solche kritischen Gedanken bei Ihnen vor oder nach dem Sechstagekrieg von 1967 auf?

Gute Frage. In mancher Hinsicht gab es sie schon vorher. Das machte sich vor allem daran fest, dass die arabischen Israelis zwar Staatsbürger waren, aber bis 1966 unter Kriegsrecht und Ausgangssperre standen. Damit setzte ich mich erstmals in den frühen sechziger Jahren auseinander, während meines Studiums an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Aber sofort nach dem israelischen Unabhängigkeitstag im Mai 1967, als die Ägypter ihre Streitkräfte am Sinai massierten, wurde ich von der Armee wieder einberufen. Wie die meisten hier war ich überzeugt, dass wir nur auf die ägyptische Bedrohung reagierten. Dass Gamal Abdel Nasser die Lage falsch kalkulierte, dass er nicht die Absicht hatte, in einen Krieg zu ziehen, haben wir erst im Rückblick erfahren.

Für Israel ging es um die Existenz.

Uns war klar, wir sind existenziell bedroht. Niemand von uns dachte damals an Jerusalem oder das Westjordanland. Nach unserem Sieg im Sechstagekrieg glaubte ich auch nicht, dass wir den Sinai und die Westbank behalten würden. Ich ging davon aus, dass wir uns früher oder später, so wie 1956, zurückziehen werden, dass die Grüne Linie von 1967 die Grenze Israels ist. Bis zum Jom-Kippur-Krieg von 1973 und bis zum Machtwechsel von 1977.

Als der Likud von Menachem Begin erstmals die Wahlen gewann...

Ich war überzeugt, wir sollten und würden alle der 1967 besetzten Gebiete zurückgeben. Ihre Eroberung war ja kein Kriegsziel von uns, sondern lediglich ein Mittel, um die Ägypter zu bezwingen.

Sehen Sie heute die anhaltende Besatzung palästinensischer Gebiete als zentrale Bedrohung der israelischen Demokratie?

Ich betrachte die Besatzung als größtes Desaster der modernen jüdischen Geschichte seit der Schoah. Aber die Frage ist doch, warum wir die eroberten Gebiete nicht hergegeben haben, als wir es noch leicht hätten tun können. Bis 1977 hatte die damals regierende Arbeitspartei zehn Jahre Zeit, etwas mit der Westbank zu tun. Sie hätte genauso auch bezüglich des Sinai die Initiative ergreifen können, um einen neuen Krieg mit Ägypten zu vermeiden. Warum waren wir dazu nicht in der Lage? Damals galten Sinai und Westbank noch als verhandelbares Paket auf der Basis des Prinzips «Land gegen Frieden».

Stand die nationalreligiöse Siedlerbewegung Gusch Emunim für ein mögliches Abkommen im Weg?   

Sie war damals noch eine winzige Minorität. Aber zur Wahrheit des Zionismus gehört: Wir kamen her, um das Land zu erobern. Ich persönlich habe kein Problem mit der Eroberung vor 1948/49, weil das eine lebenswichtige, essentielle Notwendigkeit war. Es war gerecht, da nötig. Wir brauchten ein Stück Land für uns selbst. Aber ich habe ein großes Problem mit dem Festhalten an den Gebieten von 1967. Was danach geschah, war ungerecht, weil es nicht notwendig war. Alle Ziele des Zionismus lassen sich schließlich innerhalb der Grünen Linie verwirklichen. Wir haben kein Recht, den Palästinensern Menschenrechte zu versagen, die das Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit einschließen.

Die israelische Unabhängigkeitserklärung von 1948 klingt progressiv. Sie bekennt sich zu Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, zu gleichen Rechten für alle Bürger, unabhängig von ihrer religiösen und ethnischen Zugehörigkeit. Sie bezieht sich zudem auf die UN-Menschenrechtscharta. Nur das Wort Demokratie kommt nicht vor. Sehen Sie darin ein Manko?

Das Fehlen des Begriffs Demokratie ist nicht wirklich bedeutsam. Die politische Tradition Israels bezog sich ja auf die britische. Die Grundideen, was Demokratie heißt, kamen aus der britischen Mandatszeit. Dass wir eine parlamentarische Demokratie mit Gewaltenteilung und einem Obersten Gerichtshof als Hüter von Menschenrechten und individueller Freiheit aufbauen wollten, rührt dorther. Ebenso gab es eine politische Kultur, die sich an Spielregeln hält. Auch wenn manches nicht gesetzlich verboten ist, weiß jeder, was ein Gentleman tut und was nicht.

Israel hat alle wichtigen demokratischen Institutionen, woran mangelt es?

Benjamin Netanjahu ist kein Gentleman, sondern von dem her, was wir aus den Ermittlungsverfahren gegen ihn wissen, ein Gauner. Die politische Kultur von heute hätte man sich in den Gründerjahren nicht mal vorstellen können. Politiker, die unter Korruptionsverdacht geraten wären wie er, hätten sich vermutlich aus Scham umgebracht oder sich aus dem öffentlichen Leben verabschiedet. Es gab Demokratie, aber mit Ausnahmen.

Auf welche Ausnahmen spielen Sie an?

Der Pressefreiheit etwa waren durch den Zensor Grenzen gesetzt. Das wurde aber akzeptiert, weil wir uns in einer Notlage befanden. Solche Notstandsgesetze entsprachen übrigens auch den britischen. Aber eine Sache aus der vorstaatlichen Periode macht uns noch heute zu schaffen: Die Idee, dass Demokratie zuerst und vor allem die Herrschaft der Mehrheit bedeutet, hat ihre Wurzeln im Jischuw, in der Histadrut, der jüdischen Bevölkerung vor Staatsgründung und den Gewerkschaften. Demnach verfügt die gewählte Mehrheit über alle Rechte.

Ben-Gurion besaß jahrzehntelang die uneingeschränkte Mehrheit. Als Staatsgründer war er eine unangefochtene Persönlichkeit, die kaum eine Opposition zu fürchten hatte, nicht wahr?

Jeder ist gleich, aber einige sind gleicher als andere – das war das Problem von Ben-Gurion. Allerdings hat sich das in der liberalisierten Ära nach Ben-Gurion geändert. Die Idee, dass alles legitim ist, was die Mehrheit in der Knesset durchbringt, war damals nicht so akut wie jetzt. Der Oberste Gerichtshof stand nie unter solchem Beschuss wie derzeit. Das lag auch an der stillen Übereinkunft, was ein Gentleman tut und was nicht. In einer Demokratie hat die herrschende Partei eben nicht alle Rechte. Sie muss der Minderheit ermöglichen, ihre Meinung auszudrücken.