Die Präsenz des türkischen Militärs in Nordirak ist erneut in den Blick der internationalen Öffentlichkeit geraten: Nachdem bei einem Luftangriff vier Menschen getötet worden waren, stürmten am 26. Januar 2019 irakische Kurd*innen eine türkische Militärbasis in der autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Daraufhin beschossen türkische Soldaten die Protestierenden. Zwei Menschen starben bei dem Feuergefecht.
Der folgenreiche türkische Luftangriff ist Teil des Krieges, den die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan im Herbst 2015 gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK wieder aufgenommen hatte. Seitdem finden bisweilen täglich Luftangriffe auf vermeintliche PKK-Stellungen in Nordirak statt. Dabei sterben immer wieder Zivilist*innen. Erst am 13. Dezember 2018 hatte die türkische Luftwaffe das Flüchtlingslager Maxmur in Nordirak bombardiert und dabei vier Menschen getötet.
Die jüngsten Luftangriffe in Nordirak sind Teil der türkischen Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten, die seit Jahrzehnten darauf zielt, alle politischen Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurd*innen in der Region zu unterminieren. Die Türkei hat in diesem Bemühen immer wieder mit den angrenzenden Staaten, in denen eine nennenswerte kurdische Bevölkerung lebt, zusammen gearbeitet. Um etwa kurdischen Rebell*innen die Rückzugsräume abzuschneiden, einigte sich die Türkei bereits 1932 mit dem Iran über eine Neubestimmung der Grenzen in den kurdischen Gebieten am Berg Ararat. Um diese Außenpolitik gegen kurdische Akteure durchzusetzen, tritt die Türkei gegenüber den Nachbarstaaten jedoch auch immer wieder als Aggressor auf. Als Syrien in den 1990er Jahren den Aktivist*innen der PKK Unterschlupf gewährte, drohte die Türkei offen mit einem Krieg und sorgte so 1998 für ein Abkommen, das den syrischen Staat verpflichtete, die PKK aus Syrien fernzuhalten.
Die Lage im Nordirak ist allerdings etwas komplizierter. Zwar ist das Gebiet noch Teil des irakischen Staates, aber inzwischen hat sich im Norden eine kurdische Autonomieregion etabliert. In den kurdisch dominierten Gebieten im Nordirak war die Herrschaft des irakischen Staates schon länger fragil und nach dem Irakkrieg 2003 wurde die kurdische Autonomie durch die neue irakische Staatsführung anerkannt. Die Regierung der kurdischen Autonomieregion wird von der «Demokratischen Partei Kurdistans» (KDP) unter der Führung der Barzani-Familie dominiert.
Hier müssen türkische Außenpolitiker also mit verschiedenen Akteuren sprechen, die alle für sich in Anspruch nehmen, legitime Verhandlungspartner*innen zu sein. Darüber hinaus sind die Beziehungen zwischen der kurdischen Autonomieregion in Nordirak und dem irakischen Zentralstaat angespannt und von Interessenskonflikten bestimmt. Jede Handlung der Türkei bezüglich des Nordirak berührt verschiedene Konfliktfelder und erzeugt neue Bruchlinien. So forderte die irakische Zentralregierung wiederholt, die Türkei möge sich aus Nordirak zurückziehen. Allerdings hat der Irak keine Mittel, um diese Forderung tatsächlich durchzusetzen, denn in Nordirak selbst sind lediglich Truppen der kurdischen Autonomieregierung stationiert.
Die Beziehungen der kurdischen Autonomieregierung zur Türkei sind jedoch auch nicht frei von Konflikten. Einerseits steht die kurdische Autonomieregierung, die von der Barzani-Familie dominiert wird, der Türkei politisch nahe und die Türkei ihrerseits hat ein großes Interesse an den Erdöllieferungen aus der Autonomieregion. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Türkei und der kurdischen Autonomieregierung sind zwar nicht gleichberechtigt – so profitiert die Türkei stärker als der Nordirak, aber beide Seiten haben ein Interesse daran, dass Güter und Waren über die Grenzen kommen. Andererseits sind diese guten Beziehungen kein Garant dafür, dass die Türkei ihr Ziel der Unterminierung aller kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen aufgibt. Dies zeigte sich beispielsweise, als die Barzani-Regierung über eine Volksabstimmung 2017 die Unabhängigkeit des kurdischen Nordirak vom Rest des Landes erreichen wollte. So fand das Referendum zwar statt und 92 Prozent der Wähler*innen votierten für die Unabhängigkeit Kurdistans, aber die negative Reaktion der Türkei und anderer Staaten in der Region verhinderte eine internationale Anerkennung der Unabhängigkeit.
Allerdings versucht die kurdische Autonomieregierung nach wie vor, die Beziehungen zur Türkei nicht weiter zu belasten. So ließ sie nach der Stürmung der türkischen Militärbasis durch kurdische Aktivist*innen Ende Januar mehrere Journalist*innen und Dutzende andere Menschen, denen eine Verwicklung in die Aktion vorgeworfen wird, festnehmen. Die Autonomieregierung ließ sogar das lokale Büro des Fernsehsenders NRT schließen, der umfassend über die Auseinandersetzungen berichtet hatte. Auch verzichtete sie darauf, die türkischen Streitkräfte für die Tötung zweier Protestierender zu kritisieren und machte stattdessen die PKK für den Zwischenfall verantwortlich.
Die Haltung der kurdischen Autonomieregierung dürfte für große Unzufriedenheit der kurdischen Bevölkerung in Nordirak sorgen. Je aggressiver die Türkei gegenüber den kurdischen Akteuren in der Region vorgeht, desto stärker bildet sich eine innerkurdische Solidarität heraus, die die bisherigen Grenzen der politischen Lager überschreitet. So wurde etwa der Angriff der türkischen Armee auf die kurdische Stadt Afrin in Nordsyrien vor einem Jahr von allen kurdischen politischen Akteuren kritisiert – auch von denjenigen Stimmen, denen eine Nähe zur PKK oder zu den syrisch-kurdischen Organisationen PYD und YPG nicht unterstellt werden kann.