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Generalstreik in Indien hat kaum Auswirkungen auf das öffentliche Leben

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Aurel Eschmann,

Streikende blockierten am 8. Januar 2020 den Bahnverkehr im indischen Kolkata
Streikende blockierten am 8. Januar 2020 den Bahnverkehr im indischen Kolkata picture alliance / Pacific Press / Ved Prakash

Stell dir vor es ist Streik und niemand bekommt es mit: So titelte die Zeitung «Neues Deutschland»vor einem Jahr in Bezug auf den letzten großen Generalstreik in Indien, der damals der größte Streik der Menschheitsgeschichte genannt wurde, über den aber kaum ein Medium berichtet hatte. Jetzt gab es wieder einen Generalstreik, an dem angeblich eine Viertelmilliarde Menschen teilgenommen haben sollen. Wir ordnen das Ereignis ein.

Aurel Eschmann arbeitet im Südasien-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi.

Über Monate hinweg hatten zehn der zwölf Gewerkschaftsdachverbände Indiens zum landesweiten Generalstreik – Bharat Bandh – aufgerufen. Zweifellos fand für den 8. Januar 2020 eine große Mobilisierung statt. Die Reaktion blieb jedoch weit hinter der von den Gewerkschaften zuvor gestreuten Zahl von 250 Millionen Streikenden zurück. Während in einzelnen Regionen und Sektoren die Auswirkungen der Proteste beachtlich waren, waren die Auswirkungen des Generalstreiks auf gesamtindischer Ebene kaum spürbar und keiner der großen Tageszeitungen eine Meldung auf der Titelseite wert. Daher ist es wichtig den Streik politisch einzuordnen und im Kontext der speziellen Gewerkschaftsstrukturen in Indien zu verstehen.

Der diesjährige Ausstand war bereits der vierte indische Generalstreik seit dem Jahr 2014, in dem Premierminister Narendra Modi und seine hindunationalistische Indische Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) an die Macht gelangt waren. Auslöser des Streiks ist das Bestreben der Regierung, die derzeit 44 bestehenden Arbeitsrechtsgesetze in vier landesweit einheitlichen Regelungen zusammenzufassen. Auf Basis der veröffentlichten Entwürfe für die ersten beiden dieser sogenannten Labour Codes befürchten Gewerkschaften und Arbeitnehmer*innen-Verbände eine massive Aufweichung oder gar die Abschaffung erkämpfter Standards im Bereich Arbeitsschutz, Streik- und Gewerkschaftsrecht sowie der sozialen Sicherung.

Zudem richteten sich die Proteste gegen geplante Privatisierungen von Staatsunternehmen wie der hochverschuldeten Fluggesellschaft Air India und von Teilen der Eisenbahngesellschaft. Demonstriert wurde auch gegen die Fusion von in finanzielle Schieflage geratenen staatlichen Banken zu einer Großbank. Letzteres ist wohl ein ausschlaggebender Faktor dafür, dass der Streik im Bankensektor das mit Abstand größte Ausmaß erreichte und dort auch landesweit spürbar war.

Ungeachtet dessen hatten die Gewerkschaften völlig überzogene Erwartungen geschürt. Die verbreitete Zahl von einer Viertelmilliarde Teilnehmenden hätte bedeutet, dass ein Drittel der indischen Arbeitnehmer*innenschaft die Arbeit niedergelegt hätte. Das ist nicht passiert. Zwar gab es landesweit zahlreiche Kundgebungen mit mehreren Tausend Teilnehmenden. Doch nur in den kommunistisch geprägten Bundesstaaten Kerala und Westbengalen kam es zu nennenswerten Beeinträchtigungen der wirtschaftlichen Aktivität. Dies lässt sich auch auf die Struktur der indischen Gewerkschaftsorganisation zurückführen. Anders als in Deutschland sind die meisten Gewerkschaften in Indien mit politischen Parteien verknüpft, so auch die zwölf großen Dachgewerkschaften, die jeweils mehrere Hundert kleinere Organisationen vertreten. Während etwa die Gewerkschaften der kommunistischen Parteien massiv mobilisierten, wurde der Streik von den die beiden hindunationalistischen Dachgewerkschaften als «politisch motiviert» boykottiert.

Der nach Regionen und Sektoren so unterschiedliche Zuspruch zum Streik ist zudem damit zu erklären, dass nur ein kleiner Teil der indischen Arbeiterschaft überhaupt gewerkschaftlich organisiert ist. Mehr als 90 Prozent der Arbeiter*innen in Indien sind im sogenannten informellen Sektor beschäftigt – ohne soziale Absicherung und außerhalb der staatlichen Arbeitsrechtsgesetzgebungen. Zwar gibt es im informellen Sektor Organisationsstrukturen, jedoch erfassen sie nur einen geringen Teil der dort beschäftigten Menschen.

Hinzu kommt, dass innenpolitisch derzeit andere Themen die Gemüter erhitzen. So löste Ende 2019 die Verabschiedung des neuen Staatsbürgerschaftsrechts Massenproteste aus, denn erstmals wird die Religionszugehörigkeit maßgeblich für die Zugehörigkeit zur indischen Gesellschaft. Das neue Gesetz ermöglicht nicht-muslimischen Migrant*innen aus den Nachbarstaaten einen Weg zur indischen Staatsbürgerschaft. Angehörige der muslimischen Minderheit bleiben ausgeschlossen und sehen sich, sofern sie schon im Land sind, erheblichen Repressionen ausgesetzt, sollten sie ihren «legalen» Aufenthaltsstatus nicht nachweisen können. Kritiker*innen sehen darin vor allem ein Mittel zur Repression der muslimischen Minderheit im Land, die immerhin ein Sechstel der indischen Bevölkerung ausmacht – mehr als 200 Millionen Menschen. Bei den Streiks war das allenfalls am Rande ein Thema. Der Ausstand am 8. Januar gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik reiht sich dennoch in die zahlreichen Proteste gegen die Regierung Modi ein, die seit Monaten in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens stärker werden.