Wer jetzt in Polen den Parolen der Regierenden folgt, könnte den Eindruck bekommen, als stünde das Land nach dem Überstehen der schlimmsten Corona-Wochen vor einer weiteren schrecklichen Herausforderung – vor dem Gespenst der LGBT-Ideologie. Während aber das gefährliche Virus von außen nach Polen kam, weshalb dann schnell die Schließung der Landesgrenzen sowie des internationalen Passagier-Luftverkehrs ein probates Mittel schien, verhält es sich bei dem neuen Gespenst anders. Es ist nämlich eine ureigene Erfindung der in Polen regierenden Nationalkonservativen. In dem so überaus wichtigen Wahljahr 2019 hatten findige Wahlkampfstrategen frühzeitig ausgemacht, dass das Thema des Umgangs mit sexuellen Minderheiten in der Öffentlichkeit als kräftiger Spaltpilz tauge. Außerdem war man sich der wohlwollenden Duldung, gar tatkräftigen Unterstützung durch einflussreiche Kreise in der katholischen Kirche sicher.
Holger Politt leitet das Regionalbüro Ostmitteleuropa in Warschau.
Im Frühjahr 2019 hatte sich ein breiter, oppositioneller Wahlblock unter der Bezeichnung «Europäische Koalition» zusammengefunden, der die Wahlen zum Europäischen Parlament für sich entscheiden wollte, um ein klares Zeichen für die im Herbst folgenden Parlamentswahlen zu setzen. Das im Kern von den Liberalen zusammengehaltene Bündnis reichte von moderat-konservativen Agrariern bis hinüber ins modern-großstädtische, linksliberale Spektrum. Tatsächlich hatte das Manöver der regierenden Nationalkonservativen einigen Erfolg, denn die konservativ-ländlichen Teile in der «Europäischen Koalition» gaben beim Thema sexueller Minderheiten allzu schnell nach, meinten öffentlich, diese Fragen sowie Sexualerziehung in den Schulen könnten ihrer Wählerschicht nicht zugemutet werden. Immer wieder hatten die Nationalkonservativen in der Kampagne gegen Rafał Trzaskowski geschossen, den im Herbst 2018 frischgewählten Warschauer Stadtpräsidenten, der als eines seiner Wahlversprechen eine LGBT-Charta für die Hauptstadt durchsetzen ließ.
Das breite Oppositionsbündnis zerbrach, nachdem die EP-Wahlen verloren wurden, sortierte sich neu entlang übersichtlicherer politischer Ausrichtungen, was zum Beispiel auf dem linken Flügel des politischen Spektrums der Bildung eines breiteren Bündnisses entgegenkam, das dann tatsächlich den Einzug in das Parlament in überzeugender Weise erreichte. Die Parlamentswahlen im Herbst letzten Jahres vertagten gewissermaßen die Entscheidung in das kommende Frühjahr, denn ganz so eindeutig war es mit einem Male nicht mehr, festzustellen, wer gewonnen, wer verloren hatte. Jarosław Kaczyński gab am Wahlabend zu, mit mehr Stimmen gerechnet zu haben, auch wenn die absolute Mehrheit der Sitze im Sejm verteidigt werden konnte. Die in wenigen Monaten anstehende Präsidentschaftswahl würde die Entscheidung bringen.
Natürlich rechnete er fest mit einem Sieg des Amtsinhabers, denn Andrzej Duda sah tatsächlich lange Zeit in den Umfragen wie der klare Favorit aus. Der plötzliche und unverhoffte Ausbruch der Corona-Krise, die um das wahlkämpfende Polen keinen Bogen machte, führte zunächst dazu, dass der eigentlich vorgesehene Wahltermin am 10. Mai 2020 nicht gehalten werden konnte und dass die zeitliche Verlegung von der stärksten Oppositionskraft ausgenutzt wurde, um einen Kandidatenwechsel vorzunehmen, denn ins Rennen gegen Duda wurde der bereits erwähnte Warschauer Stadtpräsidenten Trzaskowski geschickt.
Drei Wochen vor dem auf den 28. Juni 2020 festgelegten Wahltermin gab Kaczyński in einem an die Parteimitglieder von «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) gerichteten Rundschreiben die Richtung vor: Die Wiederwahl Dudas liege im Interesse Polens, es herrsche heute ein alarmierender Zustand, der im Falle eines Sieges des amtierenden Präsidenten aber sofort beendet werde. Trzaskowskis Kandidatur sei Betrug an der Gesellschaft, denn er stelle sich als braver Katholik hin, der zudem behaupte, in der Kontinuität der «Solidarność»-Bewegung zu stehen. Hingegen sei der neue Herausforderer Dudas ein radikaler Linker und obendrein ein hartnäckiger Verfechter der LGBT-Ideologie. Das alte Gespenst aus dem vergangenen Jahr war wiederbelebt.
Das allerdings hatte vor Jahresfrist kräftig sein Unwesen getrieben. Prominente Vertreter der katholischen Kirche verstiegen sich in Absurditäten – von einer Regenbogenpest war plötzlich die Rede, die das Land bedrohe, nachdem die rote Pest besiegt sei. Und nationalkonservative Mehrheiten in verschiedenen lokalen wie regionalen Körperschaften erklärten sich in zur Schau gestellter patriotischer Haltung zu «LGBT-freien Zonen», was für reichlich Zündstoff in der öffentlichen Debatte sorgte. Denn gefragt, ob sie nun Lesben und Schwule des Landes verweisen wollten, versicherten die Nationalkonservativen eilfertig, es ginge ihnen lediglich um die Regenbogen-Ideologie, gar nicht um die Menschen, die eine andere sexuelle Präferenzen als die Mehrheit in der Gesellschaft hätten. Privat könnten sie es halten wie der berühmte Dachdecker, nur im öffentlichen Raum müssten die Interessen der Mehrheitsgesellschaft geschützt werden. Schnell wurde nachgeschoben, dass die beklagte Ideologie aus dem Ausland käme, von dort finanziert werde, sich im Lande jetzt ausbreite vor allem mit Hilfe des sogenannten Gleichheitsmarsches, der Parada Równości, mit der immer dieselben wenigen Menschen die Städte Polens heimsuchten, um eben in Ideologie zu machen. Zur schlimmen Eskalation kam es schließlich im Juli letzten Jahres in Białystok, in der großen Provinzstadt im Osten des Landes, als die dortige Parada Równości zum Angriffsziel eines aufgehetzten Mobs wurde, der den bunten Zug vor allem junger Menschen beschimpfte und auch vor roher Gewalt nicht mehr zurückschreckte. Der Schock im Lande wirkte nach, so dass Kaczyński die Offensive gegen die LGBT-Ideologie ganz plötzlich abbrechen ließ, ohne indes in der Sache nachzugegeben. Noch einmal hielt er fest, dass es lediglich um die LGBT-Ideologie als solcher gehe, die für die Fundamente, auf denen das Land ruhe, gefährlich sei, nicht um Lesben oder Schwule.
Im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf hat Duda nun eine neue Familien-Charta vorgestellt und symbolisch unterzeichnet, die ihm Richtschnur sein solle in den kommenden Amtsjahren. Ein wichtiger Punkt in dieser Verpflichtungserklärung ist das Versprechen, LGBT-Ideologie in öffentlichen Einrichtungen, also auch in Schulen zu verbieten. Bei einem Wahlkampfauftritt klärte er die Zuhörer auf: «Man versucht uns einzureden, dass das schließlich Menschen seien, aber es ist einfach nur Ideologie. Falls jemand daran zweifelt, ob es Ideologie sei oder nicht, so möge er in die Geschichte schauen und sich ansehen, wie die LGBT-Bewegung in der Welt aufgebaut wurde, möge er sehen, wie der Aufbau dieser Ideologie vonstatten ging und welche Ansichten jene verkündet hatten, die sie aufgebaut haben. Der beste Beweis aber, dass es sich um Ideologie handelt, ist, dass ein Teil jener Personen, die homosexuelle Präferenzen zeigen, sich nicht mit dieser Bewegung und mit dieser Ideologie identifizieren.»
Insbesondere wandte er sich an die besorgten Eltern unter seinen Zuhörern, denn seine Familien-Charta richtet sich im starken Maße gegen alle Bestrebung, Sexualerziehung in den Schulen zuzulassen: «Während der Zeit des Kommunismus wurde den Kindern in den Schulen die kommunistische Ideologie verabreicht. Das war Bolschewismus. Heute wird uns und unseren Kindern wieder einmal Ideologie verabreicht, nur eine andere. Eine völlig neue, wobei das zugleich eine Art Neobolschewismus ist, denn wenn in der Schule Ideologie eingeschmuggelt wird, damit die Sichtweise der Kinder geändert und ihr Blick auf die Welt ausgerichtet wird, zum Beispiel mit Sexualisierung im Kindesalter, was der tiefen Logik des ruhigen, ausgeglichenen Erwachsenwerdens eines Menschen widerspricht, dann ist es ja nichts weiter als Ideologie.»
Nach den ersten heftigen Reaktionen aus dem Ausland und insbesondere in anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union ruderte Duda kräftig zurück: Nein, er sei gar nicht gegen die Ausgrenzung anderer Menschen, er trete für Verschiedenheit und Gerechtigkeit ein. Er sei missverstanden, die Sätze aus dem Kontext gerissen worden. Er verwies bei einem Wahlkampfauftritt in Lublin auf eine aus Protest hochgehaltene Regenbogenfahne am Rande und meinte, die sei allerdings eine Fahne, vor die er sich nicht stellen würde, denn das täte er nur beim polnischen Nationaltuch und bei der EU-Flagge. Anders gesagt: die Jagd auf das LGBT-Gespenst ist nicht abgeblasen.
Ein kurzer Nachtrag: Während in den nationalkonservativen Medien weiter munter zum Angriff geblasen wird, Trzaskowski etwa als «kultureller Aggressor» bezeichnet werden darf, gibt es einen ganz wichtigen Protest: Der Verband der Warschauer Aufständischen und die Stiftung zur Erinnerung an die Helden des Warschauer Aufstands vom August 1944 erklärten, dass «die Worte, die in ganz Polen und auch draußen in der Welt vernommen wurden, von den anständigen Menschen entschieden zurückgewiesen werden müssen. […] Die Erniedrigung sexueller Minderheiten darf in einem Land nicht hingenommen werden, in dem Homosexuelle von den Faschisten wegen ihrer Verschiedenheit umgebracht wurden.»