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Labour unter Keir Starmer: Eine Zwischenbilanz

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Keir Starmer als Oppositionsführer im britischen Unterhaus (22.4.2020). CC BY-NC 2.0, UK Parliament

Nach der schweren Niederlage Labours bei den letzten Unterhauswahlen Ende 2019 und dem darauffolgenden Rücktritt Jeremy Corbyns ist (Sir) Keir Starmer, Jahrgang 1962, benannt nach dem legendären Labour-Anführer Keir Hardie, im April dieses Jahres mit überzeugender Mehrheit zum Parteivorsitzenden gewählt worden. Ein halbes Jahr später und nach einem Parteitag, der diesmal komplett digital und folglich weniger eindrucksvoll als gewöhnlich ausfiel, scheint sich Labour von der Niederlage langsam zu erholen und neue Wege einzuschlagen.

Labours Neuausrichtung

Tsafrir Cohen leitet das im Aufbau befindliche Auslandsbüro der Stiftung in London.

Florian Weis arbeitet in der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referent für Migration und Demokratie. Er hat zur britischen Labour Party während des Zweiten Weltkriegs promoviert.

Auch wenn Jeremy Corbyn und seine Unterstützer*innen im Dezember 2019 eine schwere Niederlage erlitten haben, so konnten sie Labour auf eine radikale Weise verändern und prägen, die bei Linken weltweit Begeisterung hervorgerufen hatte. Der langjährige Hinterbänkler Corbyn kam überhaupt nur an die Spitze der Partei, weil diese nach den Blair-Brown-Regierungen 1997 bis 2010 sowie den Wahlniederlagen 2010 und 2015 innerlich ausgezehrt war. Es bleibt das Verdienst von Corbyn und des ihn tragenden «Momentum»-Netzwerkes, die Partei revitalisiert, eine Eintrittswelle begeisterter junger Parteimitglieder initiiert und die Rolle der Gewerkschaften, die maßgeblich zur Gründung der Partei 1900 beigetragen hatten, wieder gestärkt zu haben. Mehr noch hat vor allem das prägnante Wahlprogramm aus dem Jahre 2017, «For the many, not the few» («Für die vielen, nicht die wenigen»), die Programmatik in einer überzeugenden Weise nach links verschoben, hin zu einer Wiederherstellung öffentlicher Dienstleistungen, einer «grünen industriellen Revolution» und einer fairen Gesellschaft.

Nachdem Corbyn nach der schweren Wahlniederlage zurückgetreten war, wollten die meisten Bewerber*innen um die Nachfolge von der Programmatik der letzten Jahre nicht grundlegend abweichen, auch Keir Starmer nicht. Gleichzeitig blieb Starmers inhaltliche politische Linie nach seinem Sieg recht unkonkret. Erst jetzt werden nach und nach Grundzüge der neuen politischen Ausrichtung sichtbar, während anderes weiterhin nur vage umrissen bleibt.

Das ist zu einem gewissen Teil auch Absicht, denn Starmer spielt ein «langes Spiel», bei dem es um eine realistische Chance bei den nächsten Wahlen geht, nicht um kurzfristige und schnell verpuffende Treffer. Eine fünfte Niederlage in Folge nach 2010, 2015, 2017 und 2019 würde die Zukunft der Partei als potentielle Regierungskraft existentiell gefährden. Die bisher längsten Phasen der Opposition dauerten von 1951 bis 1964 (drei Wahlniederlagen) und von 1979 bis 1997 (vier Niederlagen). Starmer und sein Umfeld gehen davon aus, dass die Niederlage 2019 kein Unfall oder Zufall war und führen sie, neben dem Brexit, auf vier wesentliche Punkte zurück: Corbyns Unpopularität, eine von Misstrauen zerrissene Partei, den Verlust der gesellschaftlichen Mitte sowie gleichzeitig von Teilen der Arbeiter*innenschaft vor allem in den ehemaligen Bergbau- und Industrieregionen der einstigen «red wall»: Jenen Labour-Stammgebieten im Norden Englands und auch im Süden von Wales also, in denen schon seit langem eine Entfremdung von Labour wahrnehmbar war, nicht erst unter Corbyn. Dort gelang es Corbyn und Momentum nicht, Vertrauen zu erhalten, trotz einer Programmatik, von der sie annahmen, dass sie gerade für diese Gruppen hilfreich sei. Die verbreitete Befürwortung des Brexit in diesen Landesteilen war eine wesentliche Ursache für Labours Niederlage, doch nicht die einzige.

Sichtbarste Änderung ist folglich eine geänderte Tonart in der Ansprache. Starmer ist bestrebt, Labour als eine Partei auf- und darzustellen, die zuhören und sich ändern will. Die Ursachen des vergifteten innerparteilichen Klimas sind vielschichtig und keineswegs nur oder auch nur in erster Linie dem Corbyn-Lager zuzuschreiben gewesen. Besonders toxisch ist dabei die Kontroverse um wirklichen wie vermeintlichen Antisemitismus in der Partei, in der sich Vorwürfe aus dem Corbyn-Lager, der Parteiapparat habe eine konsequente Bekämpfung antisemitischer Tendenzen sowie den Wahlkampf 2017 hintertrieben, um Corbyn zu schaden, mit einer Gegenkritik an einer Verharmlosung von antisemitischen Äußerungen durch die Corbyn-Führung kreuzen. Starmers Vorgehen im Sommer, als er Rebecca Long-Bailey aus dem Schattenkabinett entließ und eine teure Vergleichsregelung mit früheren Parteiangestellten treffen ließ, die sich als Whistleblower zur Aufdeckung eines vermeintlichen Antisemitismus in der Partei sahen, stieß auf heftige Kritik der Parteilinken, fand aber auch viel Zustimmung innerhalb und außerhalb der Partei. Absehbar ist dabei, dass es eine nächste Runde der Kontroverse geben wird, sobald ein externer Report über die Antisemitismus-Vorwürfe erschienen sein wird.

Der geänderten Tonart gesellt sich ein geschlossenes Erscheinungsbild hinzu. Starmer und die stellvertretende Parteivorsitzende Angela Rayner (Jahrgang 1980) wirken bislang, anders als in den Jahren zuvor Jeremy Corbyn und Tom Watson, professionell abgestimmt und tragen Dissens nicht öffentlich aus. Wichtiger noch: Während Corbyn vielen als regierungsuntauglich galt und als solcher bösartig von den meisten Massenmedien karikiert wurde, versteht es Starmer, den in der Covid-Ausnahmesituation sprunghaft und überfordert agierenden Premierminister Boris Johnson in Fachfragen auszustechen, zunächst zurückhaltend und konstruktiv, dann mit einer schrittweise schärfer werdenden Kritik, um sich als der kompetentere Staatsmann darzustellen, der das Land aus der Krise führen könne.

Strategien zur Vermeidung von Kulturkämpfen

Um mehrheitsfähig zu werden, so die Analyse Starmers und seines Umfelds, etwa seiner Politikberaterin Claire Ainsley, Verfasserin des Buchs «Die neue Arbeiter*innenklasse» (Claire Ainsley, The New Working Class. How to win hearts, minds and votes, Bristol 2018) oder auch der nordenglischen «Schatten-Außenministerin» Lisa Nandy, müssen jene entfremdeten Arbeiter*innen wieder erreicht werden, die Johnson über den Brexit für die Konservativen gewinnen konnte.

Hierum bemüht sich auch Starmer, obgleich er wesentlichen Anteil an Labours Gegnerschaft zu einem harten Brexit hatte und nach wie vor eine möglichst enge Anbindung an die EU und somit auch den unter den Erhalt von sozialen und anderen Standards befürwortet. Er will das leidige Brexit-Thema, das Labour gespalten und geschadet hat, hinter sich lassen. Die Kraft von Ressentiments wird jedoch auch dann groß bleiben, wenn die Brexit-Frage nicht mehr prägend und spaltend sein wird; aggressiver Populismus wie derjenige von Boris Johnson ist schwer zu erschüttern. Dennoch rechnet sich Starmer Chancen aus, die Tory-Hegemonie auf längere Sicht zu überwinden, wenn Labour es vermeidet, Angriffsflächen für die Mobilisierung populistischer Ressentiments für einen neuen Kulturkampf zu bieten, den Labour wahrscheinlich, wie schon in der Brexit-Frage, verlieren würde.

In der Folge wurde eine Verschiebung hin zu einem etwas traditionelleren Gesellschaftsbild eingeleitet. So sprach Starmer auf dem Parteitag dutzendfach von Nation, wo Corbyn noch von Gesellschaft gesprochen hätte, während Nandy betonte, britische Interessen würden immer zuerst kommen, allerdings auch für eine Stärkung der UNO eintritt. Zu diesem moderat patriotischen Ton gesellt sich eine Rückbesinnung auf Familienwerte, freilich in einer Weise, die der vielfach differenzierten Gesellschaft Rechnung trägt, und für eine größere Sicherheit hinzu. So vermied es Starmer auf dem vorläufigen Höhepunkt der antirassistischen «Black Lives Matter»-Proteste im Frühsommer, besonders klar Position zu beziehen. Gerne verweist er, der vor dieser Zeit ein ausgewiesener Menschenrechtsanwalt war, auf seine gute Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden in seiner Zeit als dritthöchster Vertreter der Strafverfolgung in den Jahren 2008 bis 2013.

Damit nimmt Starmer einen Konflikt mit vielen Parteilinken, vor allem den jungen und urbanen Aktivist*innen in Kauf. Viele von ihnen finden die Wendung nicht nur politisch falsch, sondern fragen sich auch, ob es politisch sinnvoll ist, Wähler*innen nach dem Mund zu reden oder ob sich diese nicht bei den Wahlen doch für das konservative Original entscheiden würden. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass im Mittelpunkt der Politik von Jeremy Corbyn und seinen engen Verbündeten Jon Trickett und John McDonell ebenfalls keine radikale antirassistische oder bürgerrechtliche Agenda stand. Zudem war die Labour Party in ihren erfolgreichen Phasen immer eine heterogene Allianz, bei der Sicherheitsfragen, soziale und wirtschaftliche ebenso wie solche des Schutzes vor Kriminalität, eine wichtige Rolle spielten.

Wirtschafts- und Sozialpolitik als Ort des innerparteilichen Konsenses?

Dennoch vermeidet es die Parteilinke, die zudem auch keineswegs als geschlossener Block betrachtet werden kann, Fundamentalopposition zu betreiben, nicht zuletzt, weil Starmer bislang nicht von der Finanz-, Sozial und Wirtschaftspolitik seines Vorgängers abgerückt ist und den wesentlichen Zielen des Wahlprogramms von 2017 und somit dem Kern der Linkswende von Labour programmatisch durchaus verpflichtet bleibt.

Auch personell ist kaum eine Rückkehr zu Tony Blair und «New Labour» sichtbar. Begünstigt durch die Veränderungen im Parteivorstand (NEC), bei deren Wahlen die Parteilinke um Momentum an Boden verlor, hat Starmer zwar mit David Evans einen neuen Generalsekretär an Stelle der Corbyn-nahen Jenny Formby durchgesetzt. Mit Lisa Nandy, Annelies Dodds («Schatten-Schatzkanzlerin»), Nicklaus Thomas-Symonds (Innenpolitik) sowie Ed Miliband (Wirtschaft und Energie, mit einem Schwerpunkt «green new deal») wurden wesentliche Positionen im Schattenkabinett mit Personen neubesetzt, die nicht mit dem Corbyn-Projekt identifiziert, aber auch keine Anhänger*innen von Tony Blair sind. Auch eine größere Distanz zu den Gewerkschaften ist unter der neuen Parteiführung nicht zu erkennen, vielmehr verschieben sich die Gewichte innerhalb der Gewerkschaftsführungen, die keineswegs alle Corbyn unterstützt haben. So hat Starmer zwar die Gegnerschaft des mächtigen UNITE-Chefs Len McCluskey auf sich gezogen hat, findet aber Unterstützung bei UNISON und anderen Gewerkschaften. Die Neubesetzung verschiedener gewerkschaftlicher Spitzenpositionen in den kommenden zwei Jahren wird daher auch für die Ausrichtung der Labour Party von erheblicher Bedeutung sein.

Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Shooting Star der Konservativen, dem erst im März 2020 ins Amt gekommenen Schatzkanzler Rishi Sunak (Jahrgang 1980), muss die Labour Party an Profil gewinnen. Dies ist nicht einfach, weil die Konservativen seit einiger Zeit zumindest verbal eine stärker staatsinterventionistische Wirtschafts-, Infrastruktur und Gesundheitspolitik vertreten. Doch gerade hier, in der Konkretisierung der Wirtschaftspolitik unter Corona-Bedingungen, bleibt vieles im Unklaren. Zum einen fehlt die programmatische und strategische Präsenz des vorherigen «Schatten-Schatzkanzlers» John McDonnell, dessen Fähigkeiten zentral für das «Corbyn-Projekt» waren. Zum anderen scheint Starmer keine Eile zu spüren, sehr konkret zu werden, da die nächsten Wahlen angesichts der stabilen Unterhausmehrheit der Konservativen möglicherweise erst 2024 stattfinden.

Während ein Teil des linken Labour-Flügels eine Kursveränderung auch in der Wirtschaftspolitik befürchtet, hoffen andere auf Kontinuität in Bezug auf die zentrale Rolle des Staates, eine sozialere Wirtschaftsordnung und das Streben nach größerer Gleichheit und damit auf einen innerparteilichen Konsens in diesem zentralen Feld linker Politik.

Ein potentieller Premierminister?

Der konservative Wahlsieg im Dezember 2019 war das beste Ergebnis der Tories seit 1987 und eine der schwersten Niederlagen von Labour überhaupt. Erwartungsgemäß konnte Johnson für sich und seine Partei in den folgenden Monaten hervorragende Umfragewerte reklamieren. Dazu trugen das übliche Stimmungshoch nach einem Wahlsieg, der Vollzug des Brexit am 31. Januar 2020 und anfangs auch der typische Reflex bei, sich in einer schweren Krise wie der Corona-Pandemie um die Regierung zu versammeln («Rally 'round the flag effect»). Der konservative Vorsprung in den Umfragen stieg von über 11 Prozent bei den Wahlen weiter auf bis zu 26 Prozent an, ist jedoch mittlerweile fast aufgebraucht. Sowenig dies überbewertet werden darf, so kommt dieser Umschwung doch weit schneller und deutlicher als erwartet – üblicherweise wäre er zur Mitte einer Legislaturperiode zu erwarten gewesen. In erster Linie drückt sich darin die Unzufriedenheit mit dem verheerenden Pandemiemanagement der Regierung und einem Jahrzehnt der Austeritätspolitik aus, die den weitgehend steuerfinanzierten Gesundheitsdienst NHS geschwächt hat. In der Folge ist das Vereinigte Königreich weit härter als etwa Deutschland von der Corona-Pandemie getroffen worden, die Todeszahlen liegen, je nach Statistik, beim vier- bis sechsfachen, und das bei einer kleineren Bevölkerung. Doch hätten von diesem Versagen der Regierung beispielsweise auch die Liberaldemokraten profitieren können, die 2019 ebenfalls eine schwere Niederlage erlitten und nun auch eine neue Parteiführung haben. Abgesehen von Umfragezuwächsen für die Grünen, die sich angesichts des Mehrheitswahlrechtes aber auch in Zukunft kaum in Mandaten niederschlagen werden, und der Sondersituation in Schottland, wo die regierende Scottish National Party sich im Aufwind sieht, ist es eben die Labour Party, die in England und Wales von den Fehlern der Regierung profitiert. Und das hat auch mit der neuen Parteiführung zu tun. Sie hat dazu beigetragen, dass Labour zehn Monate nach der schweren Wahlniederlage besser dasteht, als dies zu erwarten war, und dass Keir Starmer mittlerweile mehr Brit*innen als ein geeigneter Premierminister erscheint als der Amtsinhaber. Wer dies für eine Selbstverständlichkeit hält, unterschätzt Boris Johnson und die Spaltung der britischen Gesellschaft.

Sollte Keir Starmer je Premierminister werden, so ist von ihm keine radikale sozialistische Politik zu erwarten. Für Großbritannien und Labour wäre seine Wahl gleichwohl ein wichtiger Fortschritt nach einem Jahrzehnt der Austeritätspolitik und wachsender gesellschaftlicher Spaltung. Starmer selbst zählte jüngst drei Labour-Vorsitzende auf, an denen er sich orientieren wolle. Es waren bewusst diejenigen, die Wahlen gewonnen und Regierungen geprägt haben: Clement Attlee (Premierminister 1945-1951), Harold Wilson (1964-1970 und 1974-1976) und Tony Blair (1997-2007). Attlee und Wilson ließen sich in ihrer Zeit jeweils der Parteimitte zurechnen, anders als Tony Blair, an diese beiden mag Starmer anknüpfen. Und auf das Erbe der Attlee-Regierung können sich wohl alle Strömungen der Partei heute positiv beziehen.