Am 21. April 2021 übergaben Wissenschaftler*innen einen offenen Brief an die Bundesregierung mit aktuellen Forderungen zur Entschädigung der auch «Madgermanes» genannten ehemaligen mosambikanischen Vertragsarbeiter*innen.
Eine große Gruppe von Arbeitsmigrant*innen in der DDR waren junge Menschen aus Mosambik. Die Webdokumentation «Eigensinn im Bruderland» wirft ein besonderes Schlaglicht auf die persönlichen Lebensrealitäten und die damit verbundenen Konflikte der Migrant*innen.
Das Ende der DDR bedeutete für sogenannte Vertragsarbeiter*innen den Verlust des Arbeits- und des Wohnheimplatzes. Die meisten sahen angesichts der ungeklärten Rechtslage, der extrem schwierigen wirtschaftlichen Situation, des immer bedrohlicher werdenden gesellschaftlichen Klimas und der Zunahme rassistischer Übergriffe keine Chance, in Deutschland zu bleiben. Die Rückkehr der Arbeitsmigrant*innen wurde von den Betrieben aktiv gefördert und unterstützt.
Ein Interview mit Christine Bartlitz vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Dr. Isabel Enzenbach vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, den Initiatorinnen des Aufrufs:
Sowohl die Rückkehr als auch der Verbleib in Deutschland für einige wenige brachte besonders für Mosambikaner*innen große Probleme mit sich, die bis heute nicht gelöst sind. Mit welchen Schwierigkeiten haben ehemalige mosambikanische Vertragsarbeiter*innen bis heute zu kämpfen?
Die Frage bezieht sich auf zwei große Gruppen, die in sehr verschiedenen Situationen leben. Vermutlich kann man dennoch einen gemeinsamen Nenner finden: Die Vertragsarbeiter*innen kamen als junge Menschen in der Ausbildungsphase nach Deutschland. Das Abkommen zwischen Mosambik und der DDR sollte ihnen eine gute Ausbildung ermöglichen und sie befähigen, nach ihrer Rückkehr qualifiziert am Aufbau der jungen Volksrepublik mitzuarbeiten. Dieses Versprechen wurde häufig enttäuscht. Viele erhielten keine wirklich brauchbare Ausbildung oder erlernten einen Beruf, den es in Mosambik nicht gab. Außerdem wurde vielen während ihrer Zeit in der DDR ein beträchtlicher Teil ihres Nettolohnes vorenthalten. Sowohl die mosambikanische Seite als auch die Betriebe in der DDR hatten ihnen versprochen, dass dieses Geld auf ihre Konten in Mosambik überwiesen und nach der Rückkehr als Starthilfe zur Verfügung stehen würde. Auch dieses Versprechen wurde gebrochen. Als die Menschen zurückkehrten, mussten sie feststellen, dass ihre einbehaltenen Lohnanteile nicht auf ihre Konten eingezahlt worden waren. Was mit dem Geld geschehen war, wurde erst später klar: Es war nicht überwiesen, sondern mit den Staatsschulden Mosambiks verrechnet worden. Auch ihre Rentenversicherungsbeiträge wurden ihnen vorenthalten. Diejenigen, die nach 1990 nach Mosambik zurückgekehrt waren, kamen in ein schwer vom Bürgerkrieg gezeichnetes Land. Und sie selbst fühlten sich verraten und von ihrem Staat zur Schuldentilgung verkauft. Viele von ihnen sind bis heute von langer Arbeitslosigkeit, extremer Armut, gesellschaftlicher Ausgrenzung und staatlicher Repression betroffen. Daher finden bis heute die wöchentlichen Proteste in verschiedenen Städten Mosambiks statt.
Wie kam es zu dem offenen Brief an die Bundesregierung, mit 100 Erstunterzeichner*innen aus der Wissenschaft?
Die Idee entstand bei einer Konferenz des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam zu privaten Fotos in Diktatur und Demokratie. Bei der Diskussion zu einem Vortrag zu Fotos ehemaliger mosambikanischer Vertragsarbeiter*innen in der DDR (der auf den Erfahrungen mit der Webdokumentation «Eigensinn im Bruderland» fußt) kam die Frage nach der ethischen Verantwortung in Forschungsprojekten auf. Einer der Fotoleihgeber für den Vortrag, der heute in sehr prekären Verhältnissen in Mosambik lebt, wies bei den Recherchen zu seinen Fotos immer wieder auf die Forderungen nach Entschädigung für die einbehaltenen Lohnanteile hin. Auf der Konferenz trafen seine Interventionen auf die schon länger virulenten Diskussionen zu Fragen der Bildethik. So entstand die Idee eines offenen Briefes von Wissenschaftler*innen, um die Forderungen der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen zu unterstützen.
Eine wesentliche Voraussetzung für uns war, dass wir auf langjährige Forschungen und auf einen Zusammenschluss von Betroffenen und Expert*innen zurückgreifen konnten. Diese hatten 2019 eine internationale Tagung organisiert, deren Ergebnis das Magdeburger Memorandum ist, das die Forderungen ehemaliger mosambikanischer DDR-Migrant*innen bündelt. Die Vorträge und die Forderungen sind in einem Tagungsband veröffentlicht und auf einer Website zugänglich. Dort finden sich auch Vorträge ehemaliger Vertragsarbeiter*innen, in der sie ihre Situation beschreiben. Wir konnten uns bei dem offenen Brief auf diese Expertise stützen und mit dem Fortsetzungsausschuss der Tagung kooperieren.
Und warum der Fokus auf die Wissenschaft?
Bei dem Fokus auf die Wissenschaft geht es um eine über die konkrete Forschung hinausreichende Verantwortung. Die Resonanz der Erstunterzeichner*innen zeigt, dass aus verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten Kolleg*innen motiviert waren, den Brief zu unterzeichnen. Es finden sich darunter zahlreiche DDR-Historiker*innen, Migrationsforscher*innen, Visual Historians, Kolleg*innen aus der Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus oder Rassismusforscher*innen – und für all diese Forschungsgebiete gibt es Anknüpfungspunkte. Es haben aber auch Menschen aus der politischen Bildung, aus Gedenkstätten oder aus Initiativen der Erinnerungskultur unterschrieben. Der Brief spiegelt eine Haltung wider, Verbindungen zwischen verschiedenen Unrechts-Geschichten herzustellen und keine thematisch oder gesellschaftlich isolierte Forschung betreiben zu wollen.
Was fordern Sie von der Bundesregierung und was kann und sollte sie tun, um die Lage der „Madgermanes“ hierzulande und in Mosambik zu verbessern?
Wir konzentrieren uns auf eine rasche finanzielle, unbürokratische, aber transparente Entschädigung der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen. Wir fordern, dass die Bundesrepublik ihre Sichtweise, es würde sich hier um ein inner-mosambikanisches Problem handeln, überdenkt. Darüber hinaus gilt es, die Ansprüche aus den in das DDR-System einbezahlten Sozialversicherungsbeiträgen rasch zu klären. Neben der finanziellen Ebene spielt die symbolische eine wichtige Rolle: die Anerkennung des Unrechts. Die Bundesregierung sollte in Verhandlungen mit den Betroffenen und ihren Organisationen eintreten. Die Zivilgesellschaft könnte diesen Prozess wiederum durch Interventionen verschiedener Art mit voranbringen.
Was war die Reaktion der Bundesregierung auf den Brief und was ist weiterhin wichtig?
Wir haben am 21. April 2021 den Brief der Bundestagsvizepräsidentin Dagmar Ziegler mit der Bitte übergeben, unsere Initiative der Bundesregierung vorzustellen, und Vertreter*innen aller Parteien angeschrieben. Bislang gibt es noch keine offizielle Reaktion. Jedoch hatte die Aktion ein überraschend großes Medienecho. Nun gilt es, die Diskussion gemeinsam mit den Verantwortlichen, den Betroffenen und ihren Interessenvertretungen zu führen. Wir freuen uns auch über weitere Unterzeichner*innen des offenen Briefes.
Offenbar gibt es ein großes Interesse an diesem Thema und ein wachsendes Bewusstsein für die Migrationsgeschichte der DDR. Es gibt noch viel zu forschen und zu erzählen, und viele Möglichkeiten, das zu tun. Schließlich handelt es sich um eine sehr facettenreiche Geschichte.